Wer in Medien Kommentare verbreitet, fühlt sich oft zensuriert
Der Schreiber eines Leser-Kommentars erkundigte sich, ob er denn mit seinen Meinungseinträgen tatsächlich «das Medienrecht einhalten» müsse. «Dann dürften ja nur noch ausgewiesene Journalistinnen und Journalisten kommentieren, die sämtliche Regeln des guten Journalismus kennen und einhalten können.»
Damit traf der Leser tatsächlich den Kern des Problems: Viele Menschen diskutierten früher ausschliesslich im privaten Kreis, sei es zu Hause mit Freunden oder am Arbeitsplatz und in Vereinen mit Kolleginnen und Kollegen oder im Restaurant, am Rande eines Fussballspiels und in den Ferien.
Die Möglichkeit, seine Meinung via Internet, Facebook oder Twitter öffentlich zu verbreiten, gab es nicht oder nur beschränkt mit dem Einsenden von Leserbriefen.
Die neue Freiheit der öffentlichen Mitsprache ist wie andere Freiheiten mit Pflichten verbunden. Doch über die gesetzlichen Regeln des öffentlichen Diskurses haben Behörden und Medien die Öffentlichkeit wenig aufgeklärt. Deshalb äussern sich viele, meist Männer, öffentlich im gleichen Stil wie am privaten Biertisch. Dazu gehören Vermutungen, wilde Behauptungen und herabsetzende Qualifikationen von Personen, Institutionen oder Unternehmen.
Keine Frage: Die Meinungs- und Medienfreiheit garantiert, dass man eine Person, eine Institution oder ein Unternehmen auch öffentlich sogar der Lüge oder der Manipulation bezichtigen darf. Allerdings nur, wenn alle drei folgenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind:
- Die Vorwürfe müssen von öffentlichem Interesse sein.
- Die Vorwürfe müssen wahr sein. Der Verbreiter muss im Falle einer Klage vor Gericht beweisen können, dass die gemachte oder weiterverbreitete üble Nachrede der Wahrheit entspricht, oder mindestens, dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten Treuen für wahr zu halten (Artikel 173 Strafgesetzbuch). Auch das Zivilgesetzbuch setzt ein «überwiegendes privates oder öffentliches Interesse» voraus (Art. 28).
- Die verbreitete Ehrverletzung ist nicht unnötig herabsetzend formuliert.
Falls auch nur eine dieser drei Bedingungen nicht erfüllt ist, können betroffene Personen oder Unternehmen gegen eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten gerichtlich vorgehen. Nicht nur die Verfasser der Kommentare können vor Gericht belangt werden, sondern auch die Medien, welche solche rechtswidrigen Äusserungen verbreiten.
Der rechtliche Rahmen ist klar: Alle, die sich öffentlich äussern, sei es in einem Informationsmedium als Journalistin, als Leserbrief- und Meinungsschreibende, sei es als Buchschreibende oder als Referent oder Referentin an einem öffentlichen Anlass, müssen die Vorgaben des Zivil- und Strafgesetzbuches sowie – dies nur in der Schweiz – des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb respektieren.
Grosse Medien wie 20 Minuten, Tages-Anzeiger oder Watson sondern mindestens einen Viertel aller online eingehenden Meinungsäusserungen aus. Sie werden nicht verbreitet, weil sie Äusserungen enthalten, die rechtlich ehrverletzend sind, Menschenrechte missachten oder sonst unflätig oder unnötig herabsetzend sind.
Selbst wenn die Vorwürfe wahr sind …
Selbst wenn Vorwürfe wahr sind und die behaupteten Tatsachen bewiesen werden können, darf man diese nicht ohne weiteres öffentlich verbreiten. Es muss ein öffentliches Interesse nachgewiesen werden. Wenn beispielsweise ein Bundesrat fremdgeht, besteht kein öffentliches Interesse, dies zu erfahren.
Falls aber ein katholischer Bischof, der öffentlich Keuschheit und Sex nur innerhalb der Ehe predigt, selber eine Freundin hat, besteht ein öffentliches Interesse, dies zu erfahren.
Selbst in einem solchen Fall aber darf dieser Bischof öffentlich weder mit Worten beschimpft noch mit unnötig herabsetzenden Adjektiven qualifiziert werden.
Medien sollten keine Kommentare anonymer Verfasser mehr verbreiten
Früher verbreiteten seriöse Zeitungen nur Leserbriefe von Schreibenden, die mit ihrem Namen unterschrieben oder – in Ausnahmefällen – deren Namen der Redaktion bekannt waren. Die Unsitte, dass Kommentare anonym oder unter falscher Identität öffentlich verbreitet werden, kam erst mit den Online-Medien auf.
Eine einfache Massnahme gegen Shitstorms und Gerüchteverbreiter bestünde darin, von den Schreibenden die wahre Identität zu verlangen. Auch bei Facebook oder Twitter. Die Folgen wären weniger Traffic und weniger Klicks und damit weniger Werbeeinnahmen. Doch das müssten grosse Medienkonzerne in Kauf nehmen, wenn sie nicht mitverantwortlich sein wollen für die Verluderung des öffentlichen Diskurses.
Auch X- und Facebook-Einträge betroffen
Die oben genannten Regeln gelten auch für Einträge auf X, Facebook und anderen Plattformen, sofern der Austausch nicht in einer geschlossenen, privaten Gruppe oder einem Chat-Room erfolgt.
Ehrverletzungen wie Beleidigungen oder unnötig herabsetzende Qualifikationen von Personen oder Unternehmen konnten sich auf Facebook und Twitter nur deshalb so stark verbreiten, weil Betroffene gegen diese US-Konzerne und die häufig anonym Schreibenden ihre Rechte nur sehr schwer durchsetzen und sich wehren können.
Das Problem der Verluderung des öffentlichen Diskurses sind also nicht fehlende gesetzliche Vorgaben, sondern der fehlende Vollzug. Die Gesetze über Ehrverletzungen und Beschimpfungen schränken die öffentliche Diskussion genügend ein. Aber die Gesetzgeber haben bisher nicht dafür gesorgt, dass sich Geschädigte aufgrund der Gesetze auch gegenüber Facebook, Twitter & Co wehren können. Es ist ein Versagen der Politik.
Zivilgesetzbuch Art. 28
1) Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen.
2) Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist.
Unerlaubte Tricks
Manche Meinungsschreibende glauben aus dem Schneider zu sein, wenn sie ehrverletzende Äusserungen nicht selber formulieren, sondern ehrverletzende Äusserungen Dritter zitieren. Doch die Richter beurteilen solche Zitate genau gleich wie eigene Aussagen. Deshalb können auch Medienunternehmen für Ehrverletzungen in Leserbriefen haftbar gemacht werden, obwohl sie diese «lediglich» weiterverbreitet haben.
Andere Meinungsschreibende versuchen so geschickt zu formulieren, dass ihre Aussage rein grammatikalisch keine Ehrverletzung darstellt. Damit kommen sie jedoch bei den Richtern nicht durch. Für die Beurteilung einer Aussage ist rechtlich nicht die grammatikalische Auslegung entscheidend, sondern wie der Text von den «durchschnittlichen Leserinnen und Lesern» verstanden wird.
Unlauterer Wettbewerb
Die Schweiz ist wohl das einzige demokratische Land, in dem redaktionelle Beiträge in Medien in gleichem Mass wie Unternehmen dem Gesetz über den unlauteren Wettbewerb UWG unterworfen sind. In Deutschland müsste man den Journalisten oder Verlagen schon eine Vorsätzlichkeit oder einen «werblichen Überschuss» nachweisen können, um sie zivilrechtlich oder strafrechtlich wegen Verletzung des UWG belangen zu können. Bei lediglich fahrlässigen Verletzungen besteht kein Anspruch auf Schadenersatz der Medien (§9 des deutschen UWG).
In der Schweiz dürfen Medien mit Informationen kein Unternehmen im Markt einseitig benachteiligen oder bevorzugen. Der bisher krasseste Fall war ein Kassensturz-Beitrag über das Schmerzmittel «Contra-Schmerz». Alle Fakten waren korrekt. Nur hatte der Kassensturz nicht erwähnt, dass es auch noch einige andere Schmerzmittel mit den gleichen Eigenschaften gab. Einzig aus diesem Grund wurde die SRG zu einer Schadenersatzzahlung von 480’000 Franken verurteilt – für angeblich entgangene Gewinne der «Contra-Schmerz»-Herstellerin.
Nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern alle, welche Informationen oder Meinungen veröffentlichen oder veröffentlichen lassen, müssen – nur in der Schweiz – das UWG respektieren.
Mit all diesen strafrechtlichen und zivilrechtlichen Ehrverletzungen sowie auch mit Verletzungen des UWG befassen sich die Gerichte immer dann, wenn Geschädigte es beantragen (Antragsdelikte).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Leider wird im Artikel nicht erwähnt, dass viele Redaktionen übervorsichtig sind, insbesondere wenn es sich z.B. um Religionen oder um Israel handelt. Da wird schnell mal ein Kommentar nicht veröffentlicht, was eben einer Zensur entspricht.
Ich habe vor 2 Jahren mein Abo beim Tages Anzeiger gekündigt, weil zu oft und aus meiner Sicht zu unrecht meine Leserbriefe zensuriert wurden. Ich konnte nicht nachvollziehen warum. Diese vorschnelle Unterdrückung von Meinungen – es sind Meinungen! – führt zu einem erheblichen Mass zu Frustration und Enttäuschung, letztendlich zu Misstrauen gegen die Medien. Sie führt dazu, dass ganze Subkulturen, die nicht nach dem Mainstream ausgerichtet sind, vom öffentlichen Diskurs abgekoppelt werden. Dadurch werden diese Kulturen aber nicht aufgelöst, noch werden unterdrückte Meinung aufgegeben. Wir leben in einer sehr rigiden Zeit, wo die politische Korrektheit und der Kontrollwahn überbordet. Es werden zu häufig Einstellungen von Menschen aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet und bekämpft.
Ich Danke Ihnen Herr Gasche für die Erklärung. Bin ja selber schon froh gewesen, dass sich jemand mit dem Text und den Risiken der Aussage befasst hat und meine übereifrige Reaktion mit Zensur bewerten musste.
Dies sehe ich als korrekte und verantwortungsolle Vorgehensweise, bevor es zu einem ungewollten Eklat kommt und die ganze Öffentlichkeit involviert wird. Dies sogar die gegenteilige Wirkung auslösen kann.
Es ist heutzutage so heikel, eine eigene Identität/Meinung zu wahren, ohne irgendwo anzuecken.
Das 4-Augen-Prinzip im Rahmen einer freien Meinungsäusserung und Fakten zu ermöglichen, sehe ich als hervorragende Leistung des Infosperbers. Bitte geben Sie diese nicht auf.