Nadaam

Naadam-Fest in der Mongolei: Die asiatische Variante des Eidgenössischen Schwingfests © Tylerj Davis/cc

Sempach und der unbesiegbare Riese

Peter G. Achten /  Seit heute Morgen, 08.00 Uhr, schwingen sie wieder. Am Eidgenössischen. Die «Bösen». Ein Fall für unseren China-Korrespondenten.

Ob Hosenlupf in der Schweiz oder Bökh in der Mongolei: Das rustikale Kräftemessen hat in vielen Kulturen eine lange Tradition. Wie nur kann man einem Chinesen das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest erklären? Sind doch die wahren Helden in der Drillich-Hose «die Bösen». Nach Meister Kong (Konfuzius) jedoch ist der Mensch grundsätzlich gut, also lieb und nicht bös.

Zunächst stellt sich jedoch die Frage, warum überhaupt ein Chinese Näheres über die nationale Schwingete wissen will. Nun, nach Erkenntnissen Ihres Korrespondenten befinden sich unter den exakt 52’016 Zuschauerinnen und Zuschauern in der grossen Arena auf dem Militärflugplatz Payerne mindestens zwei Chinesen und eine Chinesin. Zudem ist Ihr Korrespondent mit seinem chinesischen Presseausweis an der Fête fédérale de lutte et des jeux alpestres als schreibender Journalist berufsbedingt mit chinesischem Blinkwinkel akkreditiert.
Seit dem 13. Jahrhundert belegt
Geschichtsbewusste Chinesen und Chinesinnen sind primär am Ursprung des schweizerischen Nationalsports interessiert. Schon in der Yuan-Dynastie beziehungsweise im 13. Jahrhundert ist Schwingen in der Schweiz belegt. Zum eigentlichen Erweckungserlebnis für das Schweizer Brauchtum kam es 1805 mit dem ersten Alphirtenfest unweit der Burgruine Unspunnen bei Interlaken. Der französischen Fremdherrschaft eben erst entronnen, trug der Anlass schon damals zur Stärkung des schweizerischen Nationalbewusstseins bei – und das lag ganz in der Absicht der Initianten. 1895 begann die Moderne des schweizerischen Schwingsports mit dem ersten Eidgenössischen Schwingfest in Biel und der Gründung des Eidgenössischen Schwinger-Verbands. Seither ist das vereinende Fest 43 Mal ausgetragen worden.
Ringkämpfe am Kaiserhof
Nun ist Schwingen beziehungsweise Ringen in allen Hochkulturen beliebt und hat eine lange, komplexe Geschichte. In China zum Beispiel soll Ringen schon vor 5000 Jahren bekannt gewesen sein. So sollen Kämpfe in der Urform des Ringens – Jiao di – zur Zeit des legendären Gelben Kaiser erstmals im Jahre 2697 vor unserer Zeitrechnung ausgetragen worden sein. Als China zur Zeit der Qin-Dynastie (22–207 vor unserer Zeitrechnung) erstmals vereinigt wurde, liess der erste erhabene Gott-Kaiser Qin Shihuangdi Ringkämpfe zur Unterhaltung der Nobilität und zur Auswahl der besten Soldaten ausrichten. Daraus entwickelten sich nach chinesischer Auffassung alle asiatischen Kampfsportarten wie Kungfu, Ju Jutsu, Judo, Sumo oder Bökh. Und letztlich dann eben auch das Schwingen.
40’000 Würste, 200’000 Liter Bier
Da Chinesinnen und Chinesen nicht nur geschichtsbewusst, sondern auch zahlenverliebt sind, werden ihnen Zahlen über das Eidgenössische Eindruck machen. Ihr Korrespondent hat für das Fest der Bösen für die lieben chinesischen Freunde einige Zahlen zusammengetragen.
Für das leibliche Wohl der rund 300’000 erwarteten Schwingfreunde stehen zur Verfügung: 200’000 Liter Bier, 100’000 Liter Mineralwasser, 95’000 Liter gesüsste Getränke, 20’000 Flaschen Wein, 4000 Liter gebrannte Wasser, 60’000 Tassen Kaffee, 40’000 Würste, 20’000 Kilogramm Fleisch, 100’000 Semmeli, Weggli und Bürli. Pas mal! Zum ersten Mal gibt es auch Fisch, schliesslich findet der Hosenlupf wenige Kilometer südlich von Estavayer-le-Lac am Neuenburgersee statt.
Das 20-köpfige Organisationskomitee und 5000 Helfer haben auch sonst an alles gedacht. Der Abfall – geschätzte 130 Tonnen an drei Tagen – kann umweltfreundlich entsorgt werden. Fürs Wohlbefinden des Publikums sind 1843 Toiletten auf dem 90 Hektar grossen Festgebiet verteilt. Nichts kann also schief gehen.
Public viewing
Die Eintrittspreise sind für ein Volksfest, so kommt es zumindest einem Städter vor, doch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Ein Sitzplatz auf der gedeckten Tribüne schlägt mit 215 Franken zu Buche, ein ungedeckter Sitzplatz kostet 150 Franken. Ein Rasensitzplatz ist für 115 Franken zu haben, und ein Stehplatz ist mit 50 Franken vergleichsweise schon fast ein Schnäppchen. Da nur 4000 Tickets in den freien Verkauf gelangten, gibt es auf dem Festgelände drei Orte fürs Public-Viewing für all jene, die leer ausgingen.
Beeindrucken wird die Chinesinnen und Chinesen auch die Zahl der Teilnehmer. Laut Organisationskomitee sind es 275 Ringer, die im Kampf auf den sieben mit 90 Tonnen Sägemehl gefüllten Schwingplätzen in der Arena die Eidgenossen (Kranzschwinger) und vor allem natürlich den Bösesten der Bösen, also den Schwingkönig, bestimmen werden. Dazu kommen 400 Hornusser und 120 Steinstösser.
Mazot de Cremo
Auch der tausend Quadratmeter grosse Gabentempel dürfte die asiatischen Besucher beeindrucken. 400 Preise sind ausgestellt. Am Sonntag wird der Schwingerkönig den ersten Preis, einen schwarz-weissen Muni der Rasse Holstein, stolz den Zuschauern präsentieren. Der Muni mit dem schönen Namen Mazot de Cremo ist 185 Zentimeter gross und bringt stolze 1100 Kilogramm auf die Wage.
Spitzen-Schwinger leben natürlich nicht vom Gabentempel allein. Das war einmal. Auffallend häufig sind derzeit Böse in Werbespots zu sehen, zur besten Sendezeit natürlich. So wirbt zum Beispiel ein Böser für Schweizer Teigwaren. Zusammen mit lieben Kinderlein…
La Pierre de Unspunnen
Aber was hat das Eidgenössische auf dem Militärflugplatz Payerne mit Estavayer-le-Lac zu tun? Um ehrlich zu sein, fast nichts. Immerhin gibt es in Estavayer einen Schwingklub. Zudem ist der OK-Präsident, der ehemalige Syndic Bachmann, ein Staviacois. La pierre de Unspunnen hingegen, findet Ihr Korrespondent, hätte durchaus am idyllischen Seeufer an der Plaza Nova Friburgo besser gestossen werden können als auf dem Flugplatz. Denn Rockfestivals und Freerider-Wettkämpfe werden dort mit Tausenden von Zuschauern regelmässig jedes Jahr durchgeführt. Pour le Hornuss hingegen braucht es natürlich mehr Platz. Aber zum Stossen des Unspunnen-Steins – einem Gletscherfindling von 83,5 Kilogramm – wäre der Ort am See eine adäquate Kulisse gewesen. Dort wäre bestimmt auch der Rekord von 4,11 Meter übertroffen worden.
«Schwingfest» in der Mongolei
Falls sich neben den Chinesen auch ein Mongole ans Eidgenössische verirrt, wird er schon fast ein Déjà-vu-Erlebnis haben. In der Mongolei nämlich findet immer im Juli das Naadam-Fest statt, ähnlich wie das Eidgenössische ebenfalls das Nationalbewusstsein befeuernd. Schwingen heisst dort Bökh und ist wohl noch populärer als das Schwingen in der Schweiz. Die besten Bökh-Ringer heissen dort nicht «die Bösen» sondern «die unbesiegbaren Riesen». Möge das Eidgenössische in Estavayer-le-Lac so schön werden wie ein Naadam-Fest.
Obwohl Ihr Korrespondent ein grosser Naadam-Fan ist, die Namen der Sieger sind nur schwer zu merken. Anders als Sempach Matthias, der König von Burgdorf 2013. Der Name meines mongolischen Bökh-Helden jedoch ist, um es milde auszudrücken, gewöhnungsbedürftig. Er heisst Badmaanyambuugiin. Er ging während seiner fünfzehnjährigen Ringer-Karriere elf Mal als Sieger vom Naadam-Platz und wurde einmal Zweiter. Hopp Sempach!!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

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Eine Meinung zu

  • am 30.08.2016 um 09:10 Uhr
    Permalink

    Immerhin gelingt es Achten, Empathie für die mongolischen Ringer zu empfinden, und sich so auf indirektem Weg auch seinen Schweizer Mitbürgern ein wenig anzunähern. Hochachtung für diese Leistung!

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