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Raketen vor der amerikanischen und russischen Flagge © ferde199/Depositphotos

«Friede in der Ukraine gibt es nur ohne Nato und US-Raketen»

Urs P. Gasche /  Provokative Aussagen von Professor John J. Mearsheimer in der «NZZ» führten zu heftigen Reaktionen.

Red. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir nochmals die Meinung von Professor J. Mearsheimer sowie harsche Repliken dazu. Erstveröffentlichung war am 6. Juni 2025.

In einem «NZZ»-Interview widersprach der Professor für Politikwissenschaften an der University of Chicago der «NZZ»: Dass Putin imperialistische Absichten habe und darauf aus sei, die gesamte Ukraine und danach Gebiete in Osteuropa zu erobern und schliesslich Westeuropa zu bedrohen, sei eine Erfindung der Europäer. Sie solle davon ablenken, dass Westeuropa und die USA für den Krieg mitverantwortlich seien. Denn ohne die Osterweiterung der Nato hätte es nach Mearsheimers Ansicht keinen Krieg gegeben.

Die Aussagen Mearsheimers führten zu Widerspruch unter anderen vom früheren Schweizer Botschafter in Kiew. Doch der Reihe nach.

Im Folgenden dokumentieren wir zuerst die Sichtweise Mearsheimers im Wortlaut. Ähnliche Sichtweisen äusserten der frühere US-Botschafter in Moskau Jack Matlock, der frühere CIA-Direktor William Joseph Burns, der frühere Berater im Büro des ukrainischen Präsidenten Oleksiy Arestowytsch oder Matthew Hoh, seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Die «NZZ» hat über diese Sichtweisen bisher selten informiert.
(Zwischentitel von der Redaktion).


Russland akzeptiert keine Nato-Militärstützpunkte in der Ukraine

«Putin hat seit April 2008, als die Nato erklärte, dass die Ukraine Mitglied werden würde, eines sehr deutlich gemacht: Er und seine russischen Eliten betrachten die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als existenzielle Bedrohung für Russland. […] Putin wollte verhindern, dass die Nato Militärstützpunkte auf ukrainischem Boden errichtet. Diese Aussicht war für die Russen inakzeptabel. Genauso wie es für die Vereinigten Staaten inakzeptabel war, dass die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationierte. John F. Kennedy machte den Sowjets während des Kalten Krieges klar, dass die Vereinigten Staaten militärische Gewalt anwenden würden, wenn sie die Raketen nicht entfernen. Und Putin machte klar, dass er militärische Gewalt anwenden würde, wenn wir die Nato-Erweiterung in die Ukraine nicht stoppen. […]» 

«Putin hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied werden kann. Und er sagte, er würde die Ukraine zerstören, bevor er das zulassen würde. Die Europäer und die Amerikaner haben ihm nicht geglaubt, ebenso wenig wie die Ukrainer. […]» 

«Im Februar 2014, als die Krise ausbrach, war die Ukraine noch nicht nennenswert in die Nato integriert. Aber bis zum Februar 2022 hatte sich die Lage erheblich verändert. Nach dem Februar 2014 haben die USA und die Europäer die Ukrainer bewaffnet und ausgebildet. Der Grund, warum sich die Ukrainer nach Ausbruch des Krieges so gut geschlagen haben, ist, dass sie gut bewaffnet und gut ausgebildet waren. Und genau das hat Putin provoziert. Er hat verstanden, was vor sich ging. Im Februar 2022 war die Ukraine de facto Mitglied der Nato. […]»

«Hätte es im April 2008 oder danach keine Bestrebungen gegeben, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, wäre die Ukraine heute innerhalb ihrer Grenzen von vor 2014 intakt. Die Krim wäre heute Teil der Ukraine.» 

Drei Forderungen Russlands

«Für einen Frieden muss die Ukraine drei Forderungen Russlands akzeptieren. Erstens muss die Ukraine neutral sein. Das bedeutet, dass sie nicht der Nato beitreten darf und dass es keine Sicherheitsgarantien seitens des Westens geben darf. Zweitens muss die Ukraine akzeptieren, dass sie die Krim und die vier östlichen Oblaste verloren hat, die derzeit grösstenteils von Russland kontrolliert werden. Mit anderen Worten: Die Ukraine und der Westen müssen akzeptieren, dass dieses Gebiet jetzt und für immer russisches Territorium ist. Drittens bestehen die Russen auf einer erheblichen Entmilitarisierung der ukrainischen Armee, damit die Ukraine keine offensive Bedrohung für Russland darstellt. […]»

Bei Niederlage Einsatz von Atomwaffen

«Wenn die Russen kurz davor stehen, den Krieg in der Ukraine zu verlieren, werden sie den Einsatz von Atomwaffen ernsthaft in Betracht ziehen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch davon Gebrauch machen. Der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine wird noch wahrscheinlicher dadurch, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen. Die USA werden sicherlich nicht atomar zurückschlagen. In gewisser Weise können die Russen also Atomwaffen einsetzen, ohne Vergeltungsmassnahmen in Form von Atomwaffen befürchten zu müssen. […]»

Europäer wollen eine Fortsetzung des Kriegs

«Für ein imperialistisches Motiv Putins gibt es keine Beweise. Das ist eine Ansicht, die sich die Europäer ausgedacht haben, um Putin die Schuld zu geben. Die Europäer wollen sich nicht der Tatsache stellen, dass sie – zusammen mit den USA – für diese Katastrophe verantwortlich sind. Also haben sie diese Geschichte erfunden, dass er ein Imperialist sei und dass er darauf aus sei, die gesamte Ukraine und dann Gebiete in Osteuropa zu erobern und schliesslich Westeuropa zu bedrohen. So ist Putin in den Köpfen der grossen Mehrheit der Menschen in Europa und den USA der Bösewicht. […]»

«Die Europäer wollen, dass der Krieg weitergeht, mit der Folge, dass mehr Ukrainer sterben und die Ukraine mehr Territorium verliert. Wenn Sie meine Sichtweise akzeptieren, wird der Krieg jetzt beendet. In Zukunft werden weniger Ukrainer sterben, und sie werden weniger Territorium verlieren.»


Harsche Repliken

Nach diesen Aussagen Professors Mearsheimers im Interview mit der «NZZ» publizierte die «NZZ» zahlreiche Leserbriefe. Es sei «nicht nachvollziehbar, warum die ‹NZZ› einem Politologen wie John Mearsheimer so viel Aufmerksamkeit gewährt», meinte beispielsweise Chirurg Quang Ly aus Burgdorf.

Gleich mit zwei längeren Leserbriefen meldete sich Christian Schoenenberger zu Wort. Er war von 2011 bis 2015 Schweizer Botschafter in Kiew:

«Die Nato ist keine Bedrohung für Russland. Wenn sie es wäre, würde die Nato jetzt zuschlagen, wo Russland seine Kräfte im Krieg gegen die Ukraine gebunden hat. Doch dafür gibt es nicht das geringste Anzeichen. Russland ist das Land mit dem grössten Nuklearwaffenarsenal. Ein Angriff auf Russland wäre selbstmörderisch. […]»

«Putin macht selbst mit Fakten deutlich, dass er vor der Nato keine Angst hat: An der Grenze zu den Nato-Ländern Norwegen, Finnland und den baltischen Staaten hat Russland nur Truppen geringer Stärke stationiert. […]»

«Russland verletzt mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die fundamentalsten Normen des Völkerrechts. Darüber verliert Mearsheimer kein Wort.»

Leserbriefschreiber Fritz Holderegger, Pfarrer in Seon AG, doppelte nach:

«Wie absurd die erdichtete Bedrohung durch den Westen ist, sollte jeder mit rationalem Verstand erkennen. Ob die Ukraine nun noch zur Nato dazustösst oder nicht, ist sekundär und ändert an dieser Logik nichts.»


Zu den Argumenten von Christian Schoenenberger

Im Folgenden eine Replik zum früheren Schweizer Botschafter in der Ukraine:

«Die Nato ist keine Bedrohung für Russland.»

Mearsheimer, Burns oder Hoh wenden ein, dass die Nato keine friedfertige Verteidigungsorganisation sei, sondern ein Machtinstrument der USA und unter dem Einfluss grosser Rüstungskonzerne stehe. 

Tatsächlich hat die Nato zwanzig Jahre lang einen völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg in Afghanistan geführt. Die Nato oder die USA haben Bosnien, Serbien und das Kosovo bombardiert, sind im Irak einmarschiert und haben Kriege in Syrien und in Libyen angeheizt.

Diktatoren oder autoritäre Regimes, die in ihren Ländern Menschenrechte verletzen oder Minderheiten unterdrücken, dienten den USA in den letzten Jahrzehnten mehrmals als Anlass, um einen «Regime Change» anzupeilen. Vor allem, wenn es sich um Länder mit grossen Energie- oder Rohstoffvorkommen handelte: Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien.

«Präsident Putin hat diesen Krieg begonnen, weil er die Tür für die Nato schliessen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu gehen».

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, 7.9.2023

«Ein Angriff auf Russland wäre selbstmörderisch.»

Während des langen Kalten Krieges war es so, dass ein Nato-Angriff gegen Russland einen atomaren Gegenschlag ausgelöst hätte. Doch wenn US-Raketen an den Grenzen Russlands stationiert werden, ist es mit diesem «Gleichgewicht des Schreckens» vorbei. Denn dieses ist ausgehebelt, wenn Raketen innerhalb von wenigen Minuten russische Ziele erreichen können. Russland bliebe keine Zeit mehr für einen atomaren Gegenschlag nach Übersee. Infosperber hatte im April 2022 darüber berichtet.
Ein Ungleichgewicht des Schreckens liefert Russland möglichen Drohungen und Erpressungen des Westens aus.

Deshalb hat Russland die Osterweiterungen der Nato seit 2008 nur unter Protest hingenommen. Russland wollte nicht zulassen, dass sich die Nato auch noch an der fast 2000 Kilometer langen Grenze zur Ukraine festsetzt. 

«Wenn die Nato für Russland eine Bedrohung wäre, würde die Nato jetzt zuschlagen, wo Russland seine Kräfte im Krieg gegen die Ukraine gebunden hat.»

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine half die Nato der Ukraine zwar logistisch, griff jedoch tatsächlich nicht mit eigenem Militär an. Doch das kann kein Beweis dafür sein, dass Russlands Angst vor der Nato paranoisch ist. 
Seit 2014 haben Nato-Länder die Ukraine aufgerüstet. Das Bündnis griff nicht selber mit militärischem Personal ein: Das Risiko ist gross, dass Russland am Rand einer Niederlage Atomwaffen einsetzen würde.


Laut Nato bisher noch keine atomar bestückten Raketen

Der Nato-Staat Norwegen hat 2021 ein Verteidigungsabkommen (DCA) mit den USA geschlossen, das den USA Zugang zu vier norwegischen Militärbasen erlaubt, doch das Stationieren von Atomwaffen auf norwegischem Boden ausdrücklich verbietet

Das 2024 ratifizierte Verteidigungsabkommen des Nato-Mitglieds Finnland mit den USA ermöglicht eine dauerhafte US-Präsenz, verbietet das Stationieren von Atomwaffen jedoch nicht. Noch ist die Einfuhr von Atomwaffen in Finnland verboten.

In den baltischen Nato-Staaten sollen bisher keine nuklearen Trägersysteme stationiert sein.

In Polen und Rumänien jedoch haben die USA MK-41-Raketensysteme stationiert. Diese können auch für atomar bestückbare Raketen genutzt werden. Doch seien keine solchen Raketen vor Ort, sagt die Nato.


Erhöhte Gefahr eines Atomkriegs

Raketen an den Grenzen zu Russland, welche atomare Abschussorte in Russland innerhalb von wenigen Minuten zerstören können, erhöhen die Gefahr eines Atomkriegs. Denn wenn die russische Abwehr vermutet, dass die USA im Begriff sind anzugreifen, bleibt ihr kaum Zeit, um die Vermutung zu erhärten. Ein voreiliger Gegenschlag wäre eine mögliche Folge. Schon einmal führte ein Fehlalarm beinahe zu einem unbegründeten Gegenschlag. Er wurde in letzter Sekunde abgeblasen.

Putins Krieg gegen die Ukraine verstösst gegen das Völkerrecht

upg. Es kann durchaus sein, dass es ohne Osterweiterung der Nato und ohne Absicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen zu keinem Krieg gekommen wäre. Doch auch wenn sich Russland von der Nato eingeschnürt fühlte, war Russland existenziell nicht bedroht. Angegriffen wurde Russland schon gar nicht. Deshalb gibt es völkerrechtlich nichts, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt. Das hatte Infosperber bereits nach dem Überfall am 26. Februar 2022 klargemacht.

Weiterführende Informationen


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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.


Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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