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Blau = Nato-Mitglieder am 1.1.2022. Rot = Ukraine (ohne Krim). Gelb = Russland. Schweden und Finnland mit einer langen Grenze zu Russland sollen bald dazu kommen. © richter-publizistik

Die lange Vorgeschichte von Russlands Angriffskrieg

Matthew Hoh /  Weder westliche Provokationen noch eine gefühlte Bedrohung rechtfertigen den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

upg. Wie beim Ersten und Zweiten Weltkrieg oder den jüngsten Kriegen in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen oder Äthiopien stellt sich die Frage, ob das unermessliche Elend und die flächendeckenden Verwüstungen – diesmal in der Ukraine – hätten vermieden werden können. 
Matthew Hoh zeigt auf, wie die Politik der USA und der Nato seit dem Fall der Mauer von Russland empfunden werden konnte. Er fasste am 6. Juni in 
Substack die lange Vorgeschichte des Kriegs in der Ukraine mit vielen Quellenangaben zusammen. In einem ersten Teil geht es um viele bekannte Warnzeichen. 


Nährboden für einen militärischen Konflikt

Der Versuch, die russische Sichtweise auf den Krieg zu verstehen, bedeutet nicht, dass die Invasion, die Besetzung und die begangenen Kriegsverbrechen gutgeheissen werden, und schon gar nicht, dass die Russen keine andere Wahl als diesen Krieg hatten. Nichts, was hier geschrieben steht, entschuldigt das Vorgehen Russlands. Die russische Invasion ist ein Angriffskrieg und ein Verstoss gegen das Völkerrecht.

Diese Analyse soll vielmehr vermitteln, dass dieser Krieg nicht unprovoziert war und dass das jahrzehntelange Vorgehen der USA und der NATO den Nährboden für einen militärischen Konflikt bereitete – für einen Krieg, der von einigen Grössenwahnsinnigen und Kriegsgewinnlern in Washington, London, Brüssel, Kiew und Moskau schon lange gewünscht und im Februar 2022 Wirklichkeit wurde.

Die USA haben Russland herausgefordert

Die unmittelbare Ursache des gegenwärtigen zwischenstaatlichen Krieges in der Ukraine ist die russische Invasion. Doch die unerbittliche Ausweitung der NATO bis an die Grenzen Russlands hat Russland herausgefordert. Seit mindestens 2007 hat Russland wiederholt davor gewarnt, dass es an den russischen Grenzen – insbesondere in der Ukraine – keine Streitkräfte der NATO tolerieren könne, genauso wie die USA russische Streitkräfte in Mexiko oder Kanada nicht tolerieren würden. 

Die USA hatten russische Raketen auf Kuba im Jahr 1962 nicht toleriert. 

[upg. NATO-Raketen an der russischen Grenze verkürzen die Distanz zu Moskau so stark, dass die gegenseitige nukleare Abschreckung ausgehebelt wird. Diese setzt voraus, dass dem jeweils nuklear Angegriffenen Zeit für einen nuklearen Gegenschlag bleibt. Siehe: Die Nato erhöht an Russlands Grenze die Atomkrieg-Gefahr]

Autor Matthew Hoh

Hoh ist seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Im Jahr 2009 trat er aus Protest gegen die Entwicklung des Krieges in Afghanistan von seinem dortigen Posten zurück. Zuvor beteiligte sich Matthew an der Besetzung des Irak, zunächst 2004/5 in der Provinz Salah ad Din mit einem Team des Aussenministeriums für Wiederaufbau und Regierungsführung und dann 2006/7 in der Provinz Anbar als Kompaniechef des Marine Corps. Wenn er nicht im Einsatz war, beschäftigte sich Hoh bis 2008 im Pentagon und im US-Aussenministerium mit den US-Einsätzen in Afghanistan und in Irak.
2022 kandidierte Hoh als Aussenseiter der Green Party für einen Senatssitz in Washington, erhielt aber nur 1 Prozent der Stimmen.

Am 16. Mai 2023 veröffentlichte er als stellvertretender Direktor des Eisenhower Media Network in der NYT einen ganzseitigen offenen Brief unter dem Titel «The U.S. Should Be a Force for Peace in the World». Unterzeichnet hatten ihn 14 ehemalige US-Sicherheitsbeamte, darunter der US-Botschafter in Moskau unter Ronald Reagan. Sie forderten in der Ukraine eine diplomatische Lösung «bevor es zu einer nuklearen Konfrontation kommt». Kurz vorher hatte die Biden-Regierung jegliche Verhandlungen abgelehnt. Zuerst müsse die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich sein.


Die gebrochenen Versprechen des Friedens nach dem Kalten Krieg

Nach dem Ende des Kalten Krieges versicherten die Staats- und Regierungschefs der USA und Westeuropas den sowjetischen und dann auch den russischen Führern, dass die NATO auf die Grenzen Russlands nicht ausgedehnt würde. «Der US-Aussenminister James Baker versprach dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow am 9. Februar 1990, dass die NATO nicht einen Zentimeter nach Osten erweitert würde. Ähnliche Zusicherungen anderer US-Staats- und Regierungschefs sowie britischer, deutscher und französischer Politiker in den 90er Jahren führten zur russischen Überzeugung, durch die Osterweiterung der NATO übervorteilt worden zu sein.

Ein Jahrzehnt der Demütigung und des Leids

Dieser Unmut ist nicht die einzige Beschwerde, welche die Russen zum Vorgehen der USA in den zehn Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges äussern. Die wirtschaftliche Schockdoktrin, die den Russen aufgezwungen wurde, und die von US-Bankern und -Beratern angeführte Ausplünderung des russischen Finanzwesens und der Industrie führten zu einem unglaublichen Rückgang des Lebensstandards. Sogar die Lebenserwartung ging stark zurück. Der postsowjetische Wirtschaftszusammenbruch führte zu einer Halbierung des BIP und zum Tod von Millionen von Menschen. 

Gleichzeitig beeinflussten die USA die Wahlen von 1996 und manipulierten sie möglicherweise zugunsten des korrupten und betrunkenen Boris Jelzin. 

All dies zusammen empfand die russische Führung und die russische Öffentlichkeit als ein Jahrzehnt der Demütigung und des Leids. Bis heute besteht der nationalistische Wunsch, sich gegenüber den USA, dem Westen und der NATO zu behaupten.

Der NATO-Krieg gegen Serbien

Die 78-tägige Bombardierung des russischen Verbündeten Serbien durch die USA und die NATO im Jahr 1999 – ohne ein Mandat der UNO – geschah im gleichen Monat wie die erste Ausweitung der NATO-Mitgliedschaft auf Osteuropa. Dieser Angriffskrieg gegen die serbischen Verbündeten ist in den russischen Botschaften und Gesprächen ein ständiges Thema. Der Luftkrieg der NATO gegen Serbien, der hier in den USA inzwischen weitgehend vergessen ist, dient Russland häufig als eine Rechtfertigung für seinen eigenen Krieg gegen die Ukraine. Der Krieg gegen Serbien wird von Russland als ungerechtfertigt und illegal angesehen. Er ist ein Angelpunkt der russischen Argumentation, dass der Krieg gegen die Ukraine ein notwendiger Verteidigungskrieg sei. 

Bush-Doktrin schon vor 9/11

Für die Russen bedeutete die erste NATO-Erweiterung, dass die USA ihre Stützpunkte und Raketenabschussbasen näher an Russland heranrückten, während die US-Führung eine Politik des «mit uns oder gegen uns» verkündete. Gleichzeitig traten die USA im Jahr 2001 aus dem jahrzehntealten ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) im Zusammenhang mit der NATO-Erweiterung und dem globalen Krieg der USA gegen den Terror aus. Der ABM-Vertrag sollte die nukleare Abschreckung gewährleisten, indem er die Fähigkeit der einen Seite, einen Erstschlag zu führen, einschränkte und sie vor einem Vergeltungsschlag durch Abwehrraketen schützte (Abwehrraketen, die nach Ansicht der Russen durch die Annäherung an ihre Grenzen noch effektiver würden). 

Der Ausstieg aus dem ABM-Vertrag, den die USA Monate vor den Anschlägen vom 11. September ankündigten, war ein frühes Element dessen, was später als Bush-Doktrin bekannt wurde. Die Bush-Doktrin hatte drei Kernbestandteile: Unilateralismus, präemptive Militäraktionen und Regimewechsel. Die Bush-Doktrin erreichte ihren Höhepunkt mit der amerikanischen Invasion in Irak im Jahr 2003.

Von der NATO unterstützte Regimewechsel schürten Russlands Ängste

Genau ein Jahr nach dem unprovozierten Präventivkrieg gegen Irak führte die NATO ihre zweite Erweiterung nach dem Kalten Krieg durch. Im März 2004 wurden sieben weitere osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen, darunter auch die drei baltischen Nachbarn Russlands, Estland, Lettland und Litauen. Die NATO-Truppen befanden sich nun an der direkten Grenze Russlands. 

Später im Jahr 2004 kam es in der Ukraine zu einer Orangenen Revolution. Die Orangene Revolution und ihre farbigen Schwesterrevolutionen in Osteuropa und den ehemaligen Sowjetrepubliken von 2000 bis 2010, die im Westen als Bewegungen der Demokratie angesehen wurden, bedrohten die Herrschaft der prorussischen Führer – oft erfolgreich. Russlands Verbündeter in Serbien, Slobodan Milosevic, wurde in der serbischen Bulldozer-Revolution von 2000 abgesetzt. Drei dieser Revolutionen, die alle erfolgreich waren, fanden innerhalb von 18 Monaten statt: Georgien im Jahr 2003, die Ukraine im Jahr 2004 und Kirgisistan im Jahr 2005. Alle drei Moskau-freundlichen Führer wurden gestürzt. 

Weniger erfolgreiche Farbenrevolutionen gab es in den ehemaligen Sowjetrepubliken Weissrussland 2006 und Moldau 2009.

In Kirgisistan kam es 2010 zu einer zweiten farbigen Revolution. Diesmal wurde Kurmanbek Bakijew aus dem Amt gejagt, nachdem er einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in seinem Land geschlossen hatte. Für die Russen waren dies keine Revolutionen, sondern Putsche. Die Russen sahen sie als Teil einer grossen Strategie Washingtons, um Russland zu schwächen, indem es seine Verbündeten ausschaltete. 

Für Russlands Paranoia gibt es historische Erklärungen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs führten die USA Dutzende von Staatsstreichen in der ganzen Welt durch. Die Russen sahen diese Aktionen des Westens als klare Gefahr: Die Bush-Doktrin, die offen Präventivkriege und Regimewechsel vorsieht, die farbigen Revolutionen, die NATO-Erweiterung und die Aufkündigung des ABM-Vertrags. 

Der Gedanke an einen NATO-Beitritt Russlands scheint mehrfach mit der NATO und Russland erörtert worden zu sein, aber schon einige Jahre nach der Regierungsübernahme durch Wladimir Putin gewannen Misstrauen und Feindseligkeit zwischen Russland und der NATO die Oberhand.

Dramatische Eskalation: Die Rolle der NATO in der Ukraine und in Georgien

Im Jahr 2008 kündigten die Staats- und Regierungschefs der NATO, darunter Präsident Bush, die Absicht an, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen. Beide Länder grenzen an Russland. In jenem Sommer kam es zu einem fünftägigen Krieg zwischen Georgien und Russland, wobei Russland einmarschierte, nachdem Georgien zuerst geschossen hatte. 

Washington und Brüssel rechneten nicht damit, dass die Russen bei einer Provokation Gewalt anwenden würden. Doch Russlands zeigte seine Entschlossenheit, rote Linien durchzusetzen. 

2009 kündigten die USA Pläne zur Aufstellung von Raketensystemen in Polen und Rumänien an. Die als Raketenabwehrsysteme angekündigten Anlagen könnten defensive Waffen abfeuern oder eben auch offensive Marschflugkörper nach Russland abschiessen, das nur etwa 500 Kilomenter von den Raketenbasen in Ostpolen entfernt ist.  

Im Jahr 2009 mussten die Russen mit ansehen, wie die USA den Krieg in Afghanistan dramatisch ausweiteten. 2011 setzte die NATO einen Regimewechsel in Libyen durch. Sowohl in Afghanistan als auch in Libyen wurden die Kriege mit Lügen begründet. In beiden Ländern stand der militärische Sieg der USA und Westeuropas an erster Stelle. Jegliche Verhandlungsbemühungen wurden nicht nur abgetan, sondern verweigert

Im Jahr 2012 war das klare Ziel der USA, einen Regimewechsel in Syrien herbeizuführen. Wie Serbien mehr als ein Jahrzehnt zuvor war die syrische Regierung ein russischer Verbündeter, der nun bedroht war. Wie in Afghanistan und Libyen waren Verhandlungen nicht möglich, da die Amerikaner den Rücktritt des syrischen Präsidenten Bashar zur Bedingung von Gesprächen machten. Das war für Assad und für die Russen inakzeptabel. 

In den Augen Russlands waren diese drei Kriege der Obama-Regierung Ausdruck der amerikanischen Entschlossenheit, ohne Rücksicht auf Konsequenzen Krieg zu führen und niemals zu verhandeln. 

Ende 2013 hatten sich die politischen Spannungen in der Ukraine zu einer Krise entwickelt. Im Land gab es eine lange und tiefe historische Spaltung zwischen seiner östlichen und westlichen Hälfte. Überall im Land kam es zu Protesten. In Kiew besetzten die Demonstranten den zentralen Platz Maidan. Im Januar 2014 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Ende Februar floh der rechtmässig gewählte, wenn auch korrupte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch nach Moskau. 

Die Beteiligung der USA am Sturz von Janukowitschs Regierung war unübersehbarHochrangige Beamte des US-Aussenministeriums und Mitglieder des Kongresses, allen voran Senator John McCain und Victoria Nuland, nahmen an regierungsfeindlichen Kundgebungen teil, brüsteten sich damit, mehr als fünf Milliarden Dollar für die Förderung der Demokratie in der Ukraine auszugeben, und erörterten infamerweise Pläne für eine Regierung nach dem Putsch in Kiew.

Viel mehr geschah im Verborgenen und im Stillen, und wenn es bekannt wurde, berichteten nur US-Journalisten ausserhalb des Mainstreams darüber. 

Die Ereignisse in der Ukraine wurden in Russland als Staatsstreich betrachtet. Als eine Wiederholung der farbigen Revolutionen, die jeweils russlandfreundliche Regierungen durch US-/NATO-freundliche ersetzten. 

Warnung Präsident Putins

Die Russen sahen eine entschlossene USA und NATO, die bereit waren, Regierungen zu stürzen und Krieg zu führen. Aus ihrer Sicht wurden sie durch die NATO-Erweiterung bedrängt und durch amerikanische Raketen bedroht. Warnungen nicht nur vor der NATO-Erweiterung, sondern auch vor einer Einmischung in der Ukraine waren ungehört verhallt. 

Das russische Parlament hatte die NATO-Erweiterung 2004 offiziell verurteilt. Ab 2007 begann der Kreml, regelmässig Warnungen auszusprechen. Im Jahr 2008, nach der Ankündigung der NATO, die Ukraine und Georgien als Mitglieder aufzunehmen, warnte Wladimir Putin George W. Bush: «Wenn die Ukraine der NATO beitritt, wird sie dies ohne die Krim und die östlichen Regionen tun. Sie wird einfach auseinanderfallen.» 

Der britische Journalist und Herausgeber des «Harper’s Magazine» Andrew Cockburn wies darauf hin, dass die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo durch die USA im Februar 2008 Russland noch mehr verärgerte, und dass sich sogar Georgiens Staatspräsident Michail Saakaschwili bei Aussenministerin Rice darüber beschwerte, dass dies eine gefährliche Reaktion Russlands auslösen könnte.

Als Reaktion auf den von Russland als Staatsstreich empfundenen Umsturz in der benachbarten Ukraine beschlagnahmte Russland die Krim, die Heimat seines jahrhundertealten Warmwasser-Flottenstützpunkts, und investierte erhebliche militärische Unterstützung in die ostukrainische Donbass-Region, indem es russischsprachige Separatisten in einem sich stetig verschärfenden Bürgerkrieg unterstützte. 

Im darauffolgenden Jahr intervenierten die Russen in ähnlicher Weise massiv mit ihrem Militär in Syrien, um das Überleben der syrischen Regierung zu sichern. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine und in Syrien war vorhersehbar und hätte erwartet werden müssen.

Ein verzweifelter Versuch, Frieden zu schaffen: Die Minsk-II-Vereinbarungen

Der Bürgerkrieg in der Ukraine verschärfte sich im Jahr 2014, bis die Verhandlungen im Jahr 2015 zum Abschluss des Minsk-II-Abkommens führten. Dieses Abkommen zwischen der Ukraine und Russland verringerte die Zerstörungen drastisch und ebnete dem Donbas den Weg zur Autonomie innerhalb einer föderalisierten Ostukraine. Im Grossen und Ganzen hielt sich die Gewalt bis 2021 in Grenzen, bis dann die Spannungen erneut aufflammten, weil sowohl Moskau als auch Kiew einige Bestimmungen des Abkommens nicht einhielten. 

Die Russen argumentierten, die ukrainische Regierung setze den in der Vereinbarung festgelegten Rahmen für die Autonomie des Donbass nicht um, während die Ukrainer argumentierten, Moskau weigere sich, die militärische Unterstützung aus der Region abzuziehen. 

Ende 2022 bescheinigten die ehemaligen Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine, dass der Westen nicht die Absicht gehabt habe, die Minsk-II-Vereinbarung jemals zu erfüllen oder einzuhalten. Angela Merkel, Francois Hollande und Petro Poroschenko zufolge wollte der Westen die Zeit nutzen, um die Ukraine aufzurüsten und sich auf einen eventuellen Krieg mit Russland vorzubereiten, und nicht etwa, um einen solchen Krieg zu verhindern. Für die Russen bestätigten diese Eingeständnisse, dass dem Westen nicht zu trauen sei. Sie sahen dies als weiteren Verrat und als weiteren Grund, ihre Sicherheitsbgedürfnisse mit Gewalt zu sichern. 

Es scheint, dass die Russen die Zeit ebenfalls nutzten, indem sie ihre Wirtschaft für unvermeidliche US-Sanktionen vorbereiteten, und indem sie die Beziehungen zu anderen Nationen verbesserten und ihre militärisch-industrielle Basis ausbauten, um auf einen konventionellen Krieg mit hoher Intensität vorbereitet sein. 

Eskalation durch die Trump-Regierung

Während der Obama-Regierung unterstützten die USA die Ukraine vorwiegend wirtschaftlich und logistisch, begannen jedoch, in Europa ihre Truppen aufzustocken und führten unter anderem vermehrt Übungen in den neuen NATO-Staaten an Russlands Grenzen durch. 

Die Trump-Regierung eskalierte die Rolle der USA im ukrainischen Bürgerkrieg, indem sie der Ukraine Waffen im Wert von Hunderten Millionen Dollar lieferte. Dies wurde von den Russen als Hinweis interpretiert, dass die USA den Konflikt bewusst schüren wollten und sich auf einen Krieg vorbereiteten. 

Diese Interpretation wurde noch verstärkt, als Präsident Trump einseitig den INF-Vertrag (Intermediate Nuclear Forces) und den Vertrag über den Offenen Himmel aufkündigte (Open Skies Treaty). Der INF-Vertrag verbot genau die Art von Mittelstreckenraketen, welche die USA nun in den NATO-Ländern des ehemaligen Sowjetblocks stationieren könnten, so dass Moskau innerhalb weniger Minuten von atomaren Erstschlagraketen getroffen werden kann. 

Jahrzehntelang hatte der Vertrag über den Offenen Himmel jeder Nation die Durchführung von Überwachungsmissionen als Schlüsselelement des Vertrauens erlaubt. Diese Überflüge überprüften die Einhaltung der Atomwaffenverträge und stellten sicher, dass jede Seite die Aktionen der anderen Seite sehen konnte. Dadurch wurde die reale Gefahr von Fehlannahmen und Fehlinterpretationen, die zu einem Atomkrieg führen könnten, begrenzt. Zum Missfallen Russlands hat sich die Regierung Biden geweigert, einem der beiden Verträge erneut beizutreten.  

Als die Kämpfe im Donbass Ende 2021 zunahmen, unterbreiteten die Russen Verhandlungsvorschläge und schickten gleichzeitig mehr Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine. Vertreter der USA und der NATO lehnten die russischen Vorschläge sofort ab. In den ersten Monaten des Jahres 2022 nahm die Gewalt in der Ostukraine dramatisch zu. Die erklärten Dialogversuche könnten im Nachhinein den aufrichtigen Wunsch beider Seiten erkennen lassen, einen Konflikt zu vermeiden. 

Bis Mitte Februar zählten Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Donbas wöchentlich Tausende von Explosionen. Am 24. Februar marschierte Russland in die Ukraine ein.

Inkompetenz, Arroganz, Zynismus

Jahrelang haben die Russen ihre roten Linien deutlich gemacht und in Georgien und Syrien gezeigt, dass sie diese Linien mit Gewalt verteidigen. Im Jahr 2014 zeigten die sofortige Einnahme der Krim und die direkte und umfangreiche Unterstützung der Separatisten im Donbass erneut, dass es ihnen mit dem Schutz ihrer Interessen ernst ist. Warum die Führung der USA und der NATO dies nicht verstand, kann nur durch Inkompetenz, Arroganz, Zynismus oder eine verräterische Mischung aus allen dreien erklärt werden. Diese Mischung wirft ein Licht auf den Weg zum Krieg in der Ukraine und erklärt teilweise die vielen Kriege, Militäroperationen, Interventionen und Besetzungen, welche die USA seit dem Ende des Kalten Krieges verantworten. 

Russlands Reaktion war absehbar

Das alles ist und war bekannt. Fast unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges warnten amerikanische Diplomaten, Generäle und Politiker vor der Gefahr einer Ausweitung der NATO bis an die Grenzen Russlands und einer böswilligen Einmischung in Russlands Einflussbereich. 

Die ehemaligen Kabinettsmitglieder Madeleine AlbrightRobert Gates und William Perry warnten ebenso aus wie die verehrten Diplomaten Strobe TalbottGeorge KennanJack Matlock und Henry Kissinger. 1997 wandten sich 50 hochrangige amerikanische Aussenpolitik-Experten in einem offenen Brief an Präsident Clinton und rieten ihm, die NATO nicht zu erweitern. Sie bezeichneten die NATO-Erweiterung als «einen politischen Fehler von historischem Ausmass»

Präsident Clinton ignorierte diese Warnungen und sprach sich für die NATO-Erweiterung aus, zum Teil um den amerikanischen Wählerblöcken osteuropäischer Abstammung entgegenzukommen.

Verblendet von Hybris und einem machiavellistischen Kalkül bei der Entscheidungsfindung missachteten die US-Regierungen Warnungen von Williams Burns. Burns arbeitete im US-Aussenministerium ist und ist heute Direktor der CIA. Zunächst schrieb Burns 1995, als er in Moskau diente, in einem offiziellen Telegramm aus der russischen Hauptstadt: 

«Die Feindseligkeit gegenüber einer frühzeitigen NATO-Erweiterung […] ist hier im gesamten innenpolitischen Spektrum fast durchgängig zu spüren.» 

Im Jahr 2008 formulierte Burns als US-Botschafter in Moskau diese Warnungen mehrfach mit deutlichen Worten:

«Ich habe volles Verständnis dafür, wie schwierig die Entscheidung, [die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine] aufzuschieben, sein wird. Aber man kann die strategischen Folgen eines verfrühten [Beitritts-]Angebots, insbesondere für die Ukraine, auch nicht überbewerten. Der NATO-Beitritt der Ukraine ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die schärfste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe – von Scharfmachern in den dunklen Ecken des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern – habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen. 
Zum jetzigen Zeitpunkt würde ein [NATO-Beitritts-]Angebot nicht als ein technischer Schritt auf dem langen Weg zur Mitgliedschaft, sondern als ein strategischer Fehdehandschuh angesehen. Das Russland von heute wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden eingefroren […] Es wird einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.»

Und in einem weiteren Telegramm an Aussenministerin Condoleezza Rice mit dem Titel «Nyet Means Nyet: Russia’s NATO Enlargement Redlines»:

«Die NATO-Bestrebungen der Ukraine und Georgiens treffen nicht nur einen wunden Punkt in Russland, sondern geben auch Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Folgen für die Stabilität in der Region. Russland sieht nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen, den russischen Einfluss in der Region zu untergraben, sondern befürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, welche die russischen Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen würden. Experten zufolge ist Russland besonders besorgt darüber, dass die starken Meinungsverschiedenheiten in der Ukraine über die NATO-Mitgliedschaft – ein Grossteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft ist gegen den Beitritt – zu einer grösseren Spaltung führen könnten, die Gewalt oder schlimmstenfalls einen Bürgerkrieg zur Folge hätte. In diesem Fall müsste Russland entscheiden, ob es eingreift – eine Entscheidung, die es nicht treffen möchte.»

Um es noch einmal zu sagen: Das waren die Worte des derzeitigen US-Direktors der CIA.

Demnächst Teil 2:

  • Wer vom Krieg profitiert
  • Wer die Informationen beeinflusst
  • Die Kosten und Risiken des Krieges
  • Das Potenzial für einen Frieden

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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6 Meinungen

  • am 22.06.2023 um 11:24 Uhr
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    Ich lese bei Infosperber immer wieder: «Weder westliche Provokationen noch eine gefühlte Bedrohung rechtfertigen den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.»
    Ich vermisse aber Vorschläge, wie denn Russland hätte handeln sollen, wenn der Westen, bzw. die USA auf keine seiner Sicherheitsforderungen eingegangen ist, offen zugibt, dass man nie daran dachte Minsk II einzuhalten, die Ukraine weiter aufrüstet und sich offen auf einen Krieg vorbereitet.
    Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Hier wurde der Frömmste so lange provoziert, bis er nicht mehr anders konnte und zum bösen Nachbarn werden musste. Ich kenne Leute, die meinen Russland hätte zuviel Geduld gehabt und zu spät losgeschlagen.

    • am 24.06.2023 um 10:21 Uhr
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      Man sollte nicht vergessen, daß Merkel und Hollande nicht die Absicht hatten Minsk II umzusetzen. Auch gelten die Aussagen führender ukrainischer politischer Beamten, so viele Russen wie möglich zu töten nicht besonders Vertrauen erweckend. Seit 2014 hat Kiev seine eigenen Bürger im Donbass durch das Militär beschossen. Hier erinnere ich gerade die CH an ihre Geschichte mit dem Halbkanton Jura. Statt dessen folgt die CH den Weg der USA. Neutral ist etwas anderes.

  • am 22.06.2023 um 16:51 Uhr
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    Eine hervorragende Aufarbeitung des «Kalten Krieges» bis zur Gegenwart. Der «Kalte Krieg» ist gar nie zu Ende gegangen. Nur die USA haben diesen Sieg und damit das Ende des «Kalten Krieges» für sich beansprucht!. – Damit ist eindeutig bewiesen, die Nato-Osterweiterung ist eine Tatsache! Die Bush-Doktrin hatte drei Kernbestandteile: Unilateralismus, präemptive Militäraktionen und Regimewechsel gemäss diesem Tatsachenbericht. Und diese Bush-Doktrin wird seit George W. Bush von allen US-Präsidenten, ob Republikaner oder Demokraten kompromisslos weitergeführt.

  • am 22.06.2023 um 16:53 Uhr
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    Zur «gefühlten» Bedrohung: Israel hat sich 1967 zum Losschlagen entschlossen, da es es nicht darauf ankommen lassen wollte, ob die Bedrohung eventuell nur «gefühlt» sei oder doch real.
    Als Aussenstehender kann denken, eine Bedrohung sei doch nur «gefühlt», die Beurteilung und Reaktion liegt aber beim «gefühlt Bedrohten». Welch besagte Reaktion man nicht automatisch gutheisst.

  • am 22.06.2023 um 17:20 Uhr
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    Ein fantastisch sachkundiger Artikel. Für diese Art von Journalismus liebe ich den Sperber. Frieden zwischen Superblöcken gibt es nur, nur, nur durch Interessenausgleich; auch wenn dieser einmal recht kurzlebig ausfallen kann. Dazu müssen die Superblöcke gegenseitig ihre Einflußsphären abstecken. Und: man sollte nie einen Gegner unterschätzen. Zu Putin gibt es viel Literatur; man muss den Mann nicht mögen, es gibt genug was man ihm vorzuwerfen ist, aber: er ist kein korrupter Herrenreiter wie manch westlicher Politiker, sondern ein knallharter Typ, der von jahrzehntelanger harter Geheimdiensterfahrung zehrt, der sich als nicht gerade großgewachsener Jugendlicher durch hartes, forderndes Judo-Training nach oben gekämpft, sich in Hinterhöfen geprügelt hat, der sich nicht mehr provozieren lässt. Putin wird im Westen als oft als putziges Männlein mit schlechtem Schuhwerk und Männlichkeitskomplex dargestellt, ein großer vielleicht sogar tödlicher Fehler.

  • am 23.06.2023 um 12:29 Uhr
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    Vielleicht hilft es die Perspektive zu ändern und es aus der Sichtweise der Grossmächte zu betrachten. Von jenen wird erwartet (wenn auch eher mit Misstrauen), dass sie ihre Interessen international auch durchsetzen. Das machen die USA seit 1945 ohne irgendwelche Rücksicht auf Völkerrecht. China macht das bisher noch nicht und Russland seit 1991 nicht mehr – nicht mal im Bereich der ehemaligen UdSSR, beginnt nun aber wieder damit. Die EU beginnt auch – v.a. in der Ukraine/Belarus. Damit die ‹Multipolare Welt› auch Tatsache wird, muss es zur Bildung von Machtblöcken kommen, und das wird nicht nur friedlich ablaufen. Inwieweit dann die nach WK2 geltenden eurozentrischen Regeln der UN, OSZE usw noch gelten werden, weiss man noch nicht. Es wird noch viel passieren, was man nach diesen (alten) Regeln als ’nicht zu rechtfertigen› oder als ‹völkerrechtswidrig› bezeichnen wird – aber dies ist eine Phase der ‹Rechtsfortbildung› in der sich einiges ändern wird. Eine ‹Zeitenwende› eben.

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