Kommentar

kontertext: Mit wenigen Tönen viel sagen

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Der Jazztrompeter und Bandleader Miles Davis war ein Virtuose des bezugsreichen Schweigens.

Auf dem Höhepunkt der Bebop-Euphorie, die 1945 in kleinen Insiderlokalen Harlems einen hektischen Stil und eine urbane afroamerikanische Subkultur hervorbringt, betritt Miles Davis die Szene, ein Trompeter aus St. Louis’ schwarzem Mittelstand. In mancher Hinsicht ist der Zahnarztsohn ein Antipode des modellhaften Bop-Solisten wie Dizzy Gillespie, Fats Navarro oder Clifford Brown: diskret im Auftreten, schlank im Ton, eher relaxed in der Phrasierung und lakonisch im Stil – untypisch für die bohèmehafte Szene, die sich im New York jener Jahre lautstark und selbstbewusst als Cutting edge der Blackness präsentiert.

Komplexe Auslassungen, zum Ersten

Haben die Bop-Matadoren bisher mit offenem Horn die Bühne dominiert, indem sie fiebrig schnelle, halsbrecherische Soli spielten, versucht Davis das Gegenteil. Ohne dem Club-Spirit der Zeit untreu zu werden, ist sein Ton weder ausladend breit noch schneidend scharf, sondern lyrisch und gedeckt. Er berührt kaum die obersten Register des Horns, und seine Licks scheinen die Bebop-Phraseologie mehr zu zitieren als auszuspielen. Davis’ Soli sind in ihren Auslassungen komplex konzipiert. Das Ungespielte spricht mit.

Dabei pflegt er einen vibratoarmen, auf Klangfarbe und Legato setzenden Ton. Selbst in den Ensemblepassagen deutet er die Themen oft nur an; doch weder Zäsur noch Fermate bestimmen seinen Stil, sondern, im Midstream des Fliessens, die präzis gesetzte Aussparung, manchmal derart raumgreifend, dass das Publikum sich fragt, ob ein instrumentaltechnisches Problem vorliege. Trotzdem ist Davis‘ Spiel in seinem Gestus hot, es swingt intensiv: Das Ohr «denkt» die angeschnittenen Phrasen zuende.

Auch wenn Davis ein eher schmalschultriges Temperament ist, zeigen die wenigen dokumentierten Live-Passagen, in denen er seine Zurückhaltung ablegt und eine explizite Hot-Phrasierung pflegt, dass weniger spieltechnische Limiten seine Konzeption prägen als eine neuartige Auffassung melodischen Spannungsaufbaus. Das muss für seine Weggefährten sofort lesbar gewesen sein, denn er war kein Aussenseiter, sondern eine respektierte Figur, die mit den Pionieren jener Jahre spielte.

Albumcover aus dem Jahr 1954 (Capitol Records).

Früh in seiner Biografie kommt es zur Einspielung mit dem programmatischen Titel «Birth of the Cool». Während die Zeitgenossen Sechzehntelketten aneinanderreihen und in manchmal redundanten Improvisationen Harmonien durchdeklinieren, ist hier die solistische Energie zurückgenommen und ins ausnotierte Satzgefüge eingebunden. Davis spielt mit dunklem Timbre so zurückhaltend, dass das Album Kontroversen auslöst. Hier ist nichts mehr hot, stattdessen lotet das Nonett die Grenze zur Unterspanntheit aus. Sollte es in der Jazzgeschichte Soli geben, die das Attribut «kein Ton zu viel» verdienen, ohne karg zu wirken, so sind sie hier zu finden, oder wenig später auf Klassikern wie «Walking» und «Kind of Blue».

Als Mitte der Sechzigerjahre das Bop-Vokabular ausbuchstabiert ist, nennt man Davis’ mit Leerstellen aufgeladenen Stil Space. Er wird ihn beschreiben mit der Formel: «Spielen, was nicht da ist». Pausen akzentuieren den Drive. Angelehnt an Atmosphären des Film Noir führt Davis eine Ästhetik kühler Désinvolture in den Jazz ein, geschult an der Eleganz von urbanem Design und moderner Architektur: abgezirkelte Räumlichkeit im Modus der Introspektion. Die ikonischen Songs dazu heissen «Stella by Starlight» oder «When Lights are Low».

Arbeit an der Reduktion

Im Postscriptum zu seinen «Lettres Provinciales» vom Dezember 1656 entschuldigt sich Blaise Pascal für die Ausführlichkeit eines Briefs, indem er schreibt, es habe ihm die Zeit gefehlt, sich kürzer zu fassen: «Ich habe diesen Brief nur deshalb etwas länger gemacht, weil ich nicht Muße hatte, ihn kürzer zu machen.» Die Formulierung impliziert scherzhaft, dass es harte Arbeit ist, komplexe Sachverhalte auf kleinem Raum darzustellen – von dieser Arbeit werden dreihundert Jahre später nicht nur die schlichten Songformen der Broadway-Musicals zeugen, sondern auch zunehmend Produkte, die unter Rückgriff auf Errungenschaften des Bauhaus schmucklos und funktionell daherkommen sollen.

«Reduce to the max»: Was klingt wie der Auftakt zu einer philosophischen Verzichtsethik, ist der Slogan, mit dem Mercedes Benz nochmals ein halbes Jahrhundert später den Kleinstwagen Smart lanciert. Indem die Devise eine Produktästhetik formuliert, passt sie auch zum künstlerischen Minimalismus der Zeit, in der Miles Davis’ Weltkarriere beginnt: Die Quartettaufnahmen aus jenen Jahren sind Teil eines mit mondäner Coolness aufgeladenen Lifestyles: Fashion, Technik, Architektur, Kunst und Design, sie alle sollen auf das Wesentliche verdichtet werden, um maximal aussagekräftig zu sein.

In der Musik befördern auch technische Innovationen die Tendenz zur Verknappung: Neue Aufnahmetools machen die Stille hinter Einzeltönen hörbar – sie können Klangfarben präziser abbilden und erlauben eine grössere Dynamik zwischen laut und leise, Hinter- und Vordergrund. Ensemble und Solostimme werden zu Gegenspielern, deren Call and Response für die Spannung zwischen Kollektiv und Individuum steht. Neue Abspielgeräte befördern diese Entwicklung, da sie auch intime Momente plastisch wiedergeben können.

Der Coolness-Aspekt

hopper.nighthawks
Edward Hopper: Nighthawks, 1942.

Mit der Erzählung «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» von 1955 hat Heinrich Böll, eigenem Bekunden zufolge, «dem Schweigen einen Altar gebaut»: Ein Radioredakteur sammelt im Studio Bandschnipsel, auf denen die Sprecher schweigen, montiert sie zusammen und hört sie sich zur Entspannung zuhause an, eine Spitze gegen die Unterhaltungsindustrie und ihr the show must go on. In Murkes (Nachkriegs-)Fall wird die Bandstille zu jenem Verschwiegenen, das auf die Nazis und ihre noch immer präsenten Mitläufer verweist.

Im selben Jahrzehnt entsteht die distanzierte, oberflächenbezogene Malerei von Edward Hopper. Die erste grosse Retrospektive im Whitney Museum 1950 macht aus dem gelernten Illustrator einen Chronisten des amerikanischen Lebensstils: Seine einsamen nächtlichen Vorstädte im Mittleren Westen prägen das Bild der Epoche. Drei Jahrzehnte später bekennt Raymond Carver, Ziehsohn Hemingways und Ikone des literarischen Minimalismus in den USA, seine Short Stories seien vom verschwiegenen Malstil Hoppers inspiriert.

JMW Turner, aus den Skizzenheften: Ehrenbreitstein and Marceau’s tomb (1817).

Auslassung als Element künstlerischer Ausdrucksweisen ist freilich nichts Neues, wenn man an die Gattungen von Haiku oder Aphorismus denkt, an die Skizzen eines William Turner oder den klassischen Reduktionismus der japanischen Tuschezeichnung.

Doch Miles Davis’ Fünfzigerjahre ergänzen das Prinzip der lakonischen Zurückhaltung um den Coolness-Aspekt – im Film Noir sind die ›steinernen‹ Mienen des fragilen Nachtschwärmers Alain Delon, der «kühlen Blondine» Lauren Bacall oder des «Lonely Wolf» Humphrey Bogart Spiegel der Seele, in die das Höchste wie das Niederste hineingelegt werden kann – die Tiefe der Oberfläche, der Abgrund des Gewöhnlichen.

Komplexe Auslassungen, zum Zweiten

Im Jazz bezeichnet die Formel in the nude ein kammermusikalisches Setting, das den Solisten ohne Rhythmusgruppe zeigt, als Individuum auf sich selbst zurückgeworfen, ausgeleuchtet vor dem Dunkel einer «angespannten Stille». (Als Pop-Pendant wäre die Gattung unplugged zu nennen.)

Miles Davis‘ über Jahrzehnte weiterverfolgte Art, sich als Einzelstimme im Schattenriss der Leere zu zeigen, ist verknüpft mit einer solchen Schutzlosigkeit, besonders wenn er in grösserer Besetzung spielt. Seine Big Band-Aufnahmen nutzen Kontrastwirkungen zwischen dem Ensemble-Sound und der Freigestelltheit des Horns, das im Modus der Verlorenheit über den Klangflächen schwebt, von vokalen Färbungen und Beugungen des Tons bestimmt – das Individuum und das Kollektiv, die «Rede» des Einzelnen, die mit Hörerwartungen spielt. Hier wählt Davis oft das gestopfte Horn, um seine Spuren feiner zu zeichnen, und das Pausieren oder Ausdünnen der orchestralen Kulisse erlaubt ihm, noch kontrastreicher die Fragilitäten des modernen Subjekts auszuzuloten.

In welcher Formation er auch auftritt, auch im Elektro-Umfeld seiner späteren popnahen Bands, stets präsentiert er sich in dieser falterhaft durchsichtigen Art. Kaum beschwert von phraseologischem Ballast, lässt er weniger das Perlen der Noten als einzelne Töne sprechen. Er öffnet Einsichten und Abgründe, lässt Bezüge anklingen und neue harmonische Lesarten erscheinen. «Birth of the cool»: Ein Individuum, mit der Lakonietrompete in Händen wagt es sich vor ins Ungeschützte. Seine Auslassungen sprechen Bände, denn sie verweisen auf jene Untergründe, von denen das Horn ausdrücklich schweigt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

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