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Ausschnitt der Titelseite des Sonntags-Blick vom 26.6.2005 © ringier

Alarm: Hoden-Hochstände und weniger Spermien

/  Zwei internationale Ärztegesellschaften warnen: Weit verbreitete hormonaktive Stoffe wie Weichmacher haben gravierende Folgen.

Red. Infosperber Redaktor Urs P. Gasche hat bereits vor zehn Jahren im Sonntags-Blick über Forschungsergebnisse einer US-Universität berichtet: «Je stärker Schwangere mit Phthalaten belastet sind, desto häufiger haben deren Buben degenerierte Genitalien: Hoden-Hochstände, kleinere Hoden und kürzere Penisse.»
Unterdessen hat die Schweiz fragwürdige Schnuller und Beissringe für Babys verboten. Doch das genügt nicht.

Ärztegesellschaften von Gynäkologen und HormonspezialistInnen schlagen Alarm
Der Internationale Verband für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) hat im Oktober 2015 eine aussergewöhnliche Warnung veröffentlicht: «Der Kontakt mit weit verbreiteten toxischen Chemikalien in unserer Umwelt gefährdet die menschliche Fortpflanzung.» Anlass zur Sorge geben sogenannte hormonaktive Stoffe: Chemikalien, die menschliche Geschlechtshormone imitieren und dadurch den Hormonhaushalt der Menschen durcheinander bringen. Unter anderem seien solche «endokrine Disruptoren», wie sie im Fachjargon heissen, nicht nur in Pestiziden, Flammschutzmitteln und Plastik zu finden, sondern ebenso in weitaus alltäglicheren Produkten wie Shampoos, Kosmetika, Farben, Lacken oder sogar auf Kaufquittungen und Einfassungen von Konservendosen.
Über diesen Warnaufruf haben grosse Schweizer Medien bis heute nicht berichtet.

Karikaturist Nico im Sonntags-Blick vom 26.6.2005
Hormonspezialisten doppeln nach

Der Internationale Verband der Gynäkologen ist nicht die einzige renommierte Organisation, die auf die latente Gefahr solcher Stoffe hinweist. Unlängst hat auch die Endocrin Society, ein internationaler Verband von Ärzten und Wissenschaftlern, die sich mit Hormonen befassen, eine ähnliche Warnung publiziert: Die Indizien würden sich verdichten, dass hormonaktive Stoffe Ursache seien von weniger zeugungsfähigen Spermien bis zur Unfruchtbarkeit, Hoden-Hochständen und anderen Missbildungen der Fortpflanzungsorgane sowie von Krebserkrankungen der Prostata, Brust, Gebärmutter und Eierstöcken. Hormonaktive Stoffe würden auch beitragen zu den Zivilisationskrankheiten Diabetes und Übergewicht.
Nur noch halb so viele Spermien in der Samenflüssigkeit


Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit. Quelle: Nach Shanna Swan: «The Question of Declining Sperm Density Revisited», 2000, Auswertung von 101 internationalen Studien über Westeuropa. Wenn Paare keine Kinder bekommen können, galt noch in den 90er Jahren in nur 30 Prozent der Fälle die Männer als Ursache. Heute sind es fast 50 Prozent (Quelle: Behandlungsstatistik der Schweizerischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin).

Die Gefahr sei am grössten, wenn die Chemikalien auf ungeborene Kinder einwirken, erklärt die «Endoctrin Society». Doch laut dem Gynäkologenverband FIGO ist der Kontakt mit hormonaktiven und andern toxischen Stoffen während Schwangerschaft und Stillzeit weit verbreitet. So könnten in praktisch jeder Schwangeren der USA mindestens 43 chemische Schadstoffe nachgewiesen werden.
Das «National Cancer Institute» in den USA stellte fest: «Die Babys» kämen «in alarmierendem Ausmass mit Chemie vorbelastet zur Welt». Besonders heimtückisch ist gemäss FIGO, dass die Gesundheitsprobleme erst viele Jahre später im Erwachsenenalter auftreten.
Über viele Wege in den Körper
Phthalate sind in den Kunststoffen chemisch nicht gebunden und können daher leicht entweichen. Sie gelangen in die Nahrung, ins Trinkwasser, in die Luft oder auf die Haut. Der Mensch nimmt die Phthalate nach Angaben des Bundesamts für Gesundheit vorwiegend mit der Nahrung auf. Hormonaktive Stoffe können auch über Kosmetika, das Berühren von Kaufquittungen oder durch regelmässige Einnahme von Medikamenten mit phthalathaltigen Kapseln* in den Körper gelangen.


Hormonaktive Stoffe, die den Hormonhaushalt im Körper beeinflussen können (grössere Auflösung der Grafik hier).

Bürger als Versuchskaninchen der Chemiekonzerne

Der normale Bürger geht in der Regel davon aus, dass Schadstoffe staatlich reguliert und von den Behörden kontrolliert werden. Weit gefehlt, denn gemäss Tracey J. Woodruff, Professorin an der University of California in San Francisco, ist es «ein Mythos, dass die amerikanische Regierung sicherstellt, dass Chemikalien gesundheitlich unbedenklich sind, bevor sie auf den Markt kommen». Von den meisten nehme man einfach solange an, dass sie unschädlich sind, bis das Gegenteil bewiesen sei.

Nicholas Kristof, Kolumnist der New York Times, schätzt die Zahl der Chemikalien, die weltweit zirkulieren, auf über 80’000. Nur ein winziger Teil davon sei rigoros auf ihre Sicherheit überprüft worden. Wird eine Substanz aus dem Verkehr gezogen, sei die Ersatzchemikalie oft genauso schädlich. Besonders stossend: Der Bevölkerung komme die Rolle als Versuchskaninchen zu.
Professorin Woodruff äusserte sich entsprechend frustriert, denn die gleiche Geschichte wiederhole sich ständig: «Tierversuche, Tests im Reagenzglas oder Frühstudien mit Menschen zeigen auf, dass Chemikalie ‚A‘ schädliche Folgen hat. Die Chemieindustrie sagt dann: ‚Das sind schlechte Studien, bringt uns den Nachweis am Menschen‘. Aber der Nachweis am Menschen braucht Jahre und die Leute müssen dafür natürlich erst erkranken.»

Parallelen zur Tabakindustrie
Die Art und Weise wie die Chemieindustrie wissenschaftliche Evidenz herunterspiele und sich der Regulierung ihres Geschäfts widersetze, sodass arglose Bürgerinnen und Bürger grossen Schaden nehmen, gleiche frappant dem Verhalten der Tabakindustrie in den 1950er und 60er Jahren, argumentiert Kristof. Schon in den 1950er Jahren hätten Wissenschaftler herausgefunden, dass Zigaretten Krebs erzeugen. Doch der Tabaklobby konnte mit «Gegenstudien» und Lobbying die Behörden lahmlegen.
Während in Europa zur Regulierung hormonaktiver Substanzen erste Schritte unternommen wurden, existiere in den USA eine mächtige Chemielobby, die eine griffige Gesetzgebung in den beiden Kammern des US-Parlaments mit allen Mitteln zu verhindern suche: Ihre Ausgaben für Lobbying hätten im Jahr 2014 pro Parlamentsabgeordneter 121’000 US-Dollar betragen. Sarkastisch ergänzt Woodruff: «Wir müssen uns gefasst machen auf weiter hohe Quartalsgewinne der Chemiekonzerne, mehr Knaben mit Hoden-Hochständen und mehr Frauen mit Brustkrebs.»
Der beste Schutz sei nach wie vor der Eigenschutz: Biologische Produkte vorziehen, weniger Plastik verbrauchen, den Kontakt mit Kaufquittungen meiden und sich im Internet gründlich informieren.

Diesen Beitrag hat David Lier aufgrund eines Berichts der «New York Times» erstellt. Grosse Medien in der Schweiz haben bisher nicht darüber berichtet.

  • *Infosperber informiert in den nächsten Tagen über Medikamente, deren Kapseln Phthalate enthalten.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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