Kerstin Noelle Vokinger

Professorin Kerstin Noëlle Vokinger: «Die Rabatte führen weder zu einem schnelleren noch zu einem günstigeren Zugang zu Medikamenten.» © srf

Fiktive Pillen-Preise: So trickst die Pharmalobby das BAG aus

Urs P. Gasche /  Zahlreiche Medi-Preise sind nicht nur fiktiv, sondern sogar geheim. Resultat: Krankenkassen zahlen europaweite Rekordpreise.

Wer – ohne eigene Interessen zu verfolgen – über die Preise von Medikamenten mitreden möchte, muss folgende Rahmenbedingungen kennen:

  1. In keinem anderen Land Europas müssen die Krankenkassen so hohe Preise für Medikamente zahlen wie in der Schweiz. Die soziale Krankenversicherung muss fast ein Viertel aller Prämieneinnahmen für Medikamente ausgeben (die Spitalmedikamente eingeschlossen). Das ist ein europäischer Rekord. Es fällt auf, dass das Bundesamt für Gesundheit diese grundlegende Tatsache nicht so benennt.
    Der gestrige Kassensturz gab den Anteil der Medikamentenkosten mit «mehr als zwanzig Prozent» an. Er übernahm dabei vorschnell die gängigen Statistiken, welche die Medikamente, welche die Spitäler verwenden, nicht erfassen. 
  2. Wenn die Pharmaindustrie und auch das BAG die Preise in der Schweiz mit dem Ausland vergleichen, vergleichen sie nicht etwa wie sonst üblich die Konsumentenpreise, welche die Krankenkassen zahlen müssen. Vielmehr vergleichen sie die Listenpreise ab Fabrik der verschiedenen Länder. Auf Grund solcher Preisvergleiche setzen etliche Länder – gleich wie auch die Schweiz – ihre Preise fest. Doch diese Listenpreise sind stark überhöhte Schaufensterpreise. Denn in den meisten Ländern gewähren die Pharmakonzerne den Behörden oder Kassen erhebliche Rabatte. 

Schaufensterpreise für das Ausland

Auf der Liste der kassenpflichtigen Medikamente vermerkt das BAG bei immer mehr Medikamenten lediglich unter «Indikationen», dass die Kassen vom bezahlten hohen Listenpreis pro Patient einen bestimmten Betrag bei der Pharmafirma als Kickback zurückfordern dürfen. Die Pharmakonzerne gehen davon aus, dass etliche Länder Europas bei ihren Preisvergleichen den hohen Schweizer Listenpreis verwenden und nicht bei jedem Medikament unter «Indikationen» die Höhe der Rückvergütung nachschauen und vom Listenpreis abziehen. 

Als sich diese Praxis vor zehn Jahren zu etablieren begann, titelte Infosperber «Fiktive Pillen-Preise sollen das Ausland täuschen». Ein Jahr später erklärte Jurist und Gesundheitsexperte Markus Moser, dass solche Schaufensterpreise «gesetzwidrig» seien. Moser war früher im Bundesamt für Sozialversicherungen für die Krankenkassen zuständig.

Nochmals ein Jahr später, im Jahr 2014, nannte die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats «das Festsetzen eines überhöhten Preises mit einer gleichzeitigen Einigung auf einen Rabatt für die Kassen» eine «abenteuerliche» Praxis. Es handle sich um «Schaufensterpreise». Die Pharmafirmen und das BAG dagegen reden von «neuen Preismodellen».

«Die ganze Welt wird in gewisser Weise erpresst»

Doch anstatt diese Praxis aufzugeben, beriefen sich Pharmakonzerne auf die «Präzedenzfälle». Das BAG weitete ihre Kickback-Politik auf immer mehr Medikamente aus. Die Krankenkasse Helsana schreibt Infosperber: «Wir beobachten, dass immer mehr solche Modelle zugelassen werden, obschon ursprünglich Preismodelle für den Ausnahmefall angedacht waren.» Es geht dabei stets um sehr teure Medikamente, deren Kosten besonders ins Gewicht fallen.

Bald gingen die Pharmafirmen noch einen Schritt weiter und nötigen das BAG, nicht mehr bekanntzugeben, wie hoch die einzelnen Kickbacks sind. Begründung: Das BAG wisse ja auch nicht, wie hoch die Rückvergütungen in anderen Ländern seien. Das BAG räumt ein: «Nur die Pharmaunternehmen selber kennen die tatsächlich vergüteten Preise in den verschiedenen Ländern.» Es handle sich um ein «ungleiches Spiel, bei dem jedes Land glaubt, es habe den besten Preis erzielt». Das kann ein Grund sein, weshalb die Länder die ausgehandelten Preise nicht untereinander austauschen.

Jörg Indermitte ist beim BAG für die Kassenpflicht der Medikamente und deren Vergütungen zuständig und führt Preisverhandlungen mit den Pharmafirmen. Er wurde in einem Interview mit «Heidi.News» noch deutlicher: «Ich weiss nicht, wieviel beispielsweise Österreich oder Schweden zahlen. Deshalb kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, ob der Preis, den wir in der Schweiz erhalten, angemessen ist.» Und weiter: «Jeder Staat kämpft blind für seine Bürger […] Die ganze Welt wird in gewisser Weise erpresst, auch wenn der Begriff vielleicht etwas zu hart ist.»

Doch im gestrigen «Kassensturz vom 28. September» enthielt sich BAG-Vizedirektor Thomas Christen jeglicher Kritik an den Pharmakonzernen, sondern wiederholte die Behauptungen von Bundesrat Berset: Dank der geheimen Rabatte stünden innovative Medikamente «schneller und günstiger zur Verfügung». Dies sei «nicht im Interesse der Pharmaindustrie, sondern im Interesse der Patienten», meinte Christen. Zu einem anderen Schluss kam Kerstin Noëlle Vokinger, Professorin für Gesundheitsrecht und Regulierung an der Universität Zürich, nachdem sie 51 Fälle dieser «Preismodelle» untersucht hatte: «Diese Preismodelle brachten insgesamt weder einen schnelleren Zugang noch einen günstigeren». Pharmafirmen seien beispielsweise einfach mit einem höheren Preisangebot in die Verhandlungen eingestiegen.

«Medikamentenkosten von mehreren Hunderttausend Franken pro Patient und Behandlung sind in der Schweiz keine Seltenheit mehr», teilt das BAG mit. Weil die Schweizer Kassen europaweit die höchsten durchschnittlichen Medikamentenpreise zahlen müssen, ist davon auszugehen, dass Pharmafirmen die wohlhabenden Schweizerinnen und Schweizer besonders schröpfen. Wissen tun es nur die Pharmafirmen selber. Der Kassenverband Santésuisse schrieb Infosperber: «Wir vermuten, dass vielerorts die Rabatte wesentlich höher ausfallen als in der Schweiz.»

Streng auferlegte Geheimhaltung bei den Kassen

Die Krankenkassen mussten strenge Geheimhaltungsklauseln unterschreiben. Bei der Krankenkasse Visana mit 481’000 Grundversicherten oder der Groupe Mutuel mit 314’000 Grundversicherten kennen nach eigenen Angaben nur je fünf Sachbearbeiter die Höhe der Rückvergütungen. «Sie mussten sich verpflichten, diese Informationen vertraulich zu behandeln», erklärt Groupe Mutuel. 

Vor zwei Jahren versuchte der «K-Tipp» aufgrund des Öffentlichkeitsgesetzes, die effektiv ausgehandelten Preise zu erfahren. Der Öffentlichkeitsbeauftragte Adrian Lobsiger empfahl dem BAG, die Zahlen offenzulegen. Doch das BAG verweigerte sie mit der fadenscheinigen Begründung, die Preise seien «Geschäftsgeheimnisse» der Hersteller. Das Verfahren ist nun nach Angaben des «K-Tipp» beim Bundesverwaltungsgericht hängig.

Bundesrat Berset und das BAG bezweifeln offensichtlich selber, dass ihre Praxis rechtmässig ist. Sie wollen jetzt diese «neuen Preismodelle» ins Krankenversicherungsgesetz aufnehmen und machen dies dem Parlament schmackhaft als «Kostensenkungsmassnahme». Bundesrat Berset will dafür das Öffentlichkeitsprinzip aushebeln. Bereits befürwortet FDP-Gesundheitspolitiker Damian Müller die Gesetzesänderung: «Wenn wir keine vertraulichen Preismodelle mehr haben, läuft die Schweiz Gefahr, dass gewisse innovative Medikamente nicht mehr früh eingeführt werden.» Wörtlich mit diesem Argument lobbyieren die Pharmakonzerne zusammen mit Interessenvertretern im Parlament. 

Die Einflussmöglichkeiten der Pharmalobby sind enorm. Vor vier Jahren hetzte eine Pharmafirma das Parlament und die Öffentlichkeit gegen den Bund auf, weil das BAG einen überrissenen Preis des Lungenmedikaments Orkambi nicht akzeptieren wollte. Es kamen gängige Lobby-Methoden zur Anwendung, um die Behörden als unmenschliche Rappenspalter hinzustellen und in die Knie zu zwingen: Direkte Briefe an die Parlamentsmitglieder, parlamentarische Interpellationen, Motionen und Anfragen, offene Briefe an Gesundheitsminister Alain Berset sowie Mitleid erregende Geschichten betroffener PatientInnen in den Medien. 

Inzwischen ist das Lungenmedikament kassenpflichtig – zum Preis von 11’885 Franken für 112 Tabletten. 

Auf dem Buckel der Krankenkassen

Die von Infosperber angefragten grossen Krankenkassen erklärten übereinstimmend, sie hätten keine Ahnung, ob das BAG stringente Kriterien anwendet, um erstens die Höhe der Kickbacks festzulegen und zweitens zu entscheiden, bei welchen Medikamenten die Höhe der Rückvergütung streng geheim bleibt.

Das BAG rechtfertigt die geheimen Preise damit, dass «solche Rückerstattungen international ausnahmslos vertraulich festgelegt» würden: «Solange die internationale Transparenz nicht hergestellt ist, bleibt der Schweiz nichts anderes möglich, als bei Bedarf ebenfalls vertrauliche Preismodelle umzusetzen.» Die Pharmaunternehmen würden «lieber darauf verzichten, ein Medikament kassenpflichtig zu machen, als dass die Rückerstattungen publiziert werden». Die Rückerstattungen könnten mehr als ein Viertel des Listenpreises betragen, so dass die Preise «möglichst wirtschaftlich» seien.

So «einfach» legt das BAG die Rückvergütung beispielsweise beim Krebsmedikament Avastin fest:

Avastin Rückvergütung BAG
Die Krankenkassen müssen die Rückvergütungen für jeden einzelnen Patienten zurückfordern.

Enormer Mehraufwand für die Krankenkassen

Bei den fast 300 betroffenen Medikamentenpackungen heisst es unter «Indikationen» jeweils: 

«Die (Name Pharmafirme) vergütet dem Krankenversicherer, bei dem die versicherte Person zum Zeitpunkt des Bezugs [des Medikaments] versichert war, auf dessen erste Aufforderung hin für jede bezogene Packung einen festgelegten Anteil des Fabrikabgabepreises zurück.»

Für jeden Patienten müssen die Kassen die Rückvergütung beim Hersteller verlangen. «Der administrative Aufwand ist relativ hoch, da der Prozess nicht automatisiert werden kann», erklärt die Kasse Visana. Für die Groupe Mutuel ist die Abwicklung «sehr umständlich» und ein «grosser Mehraufwand».

Schliesslich weist die Kasse Helsana auf ein weiteres Problem hin: Falls es für ein Krankheitsbild mehrere gleichwertige Medikamente gibt, können Ärzte nicht mehr das wirtschaftlichste verschreiben, wie es das Gesetz vorgibt. Denn die Ärzte wissen bei den oben erwähnten Medikamenten gar nicht, wieviel sie tatsächlich kosten. «Aus unserer Sicht wäre es wichtig, dass die echten Preise stets auf der Rechnung der Patienten aufgeführt sind. Dadurch wäre das Thema Rückvergütung erledigt», meint der Mediensprecher.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Sperber.NurKopf.vonLinks.IS-Hintergrund

Des Sperbers Überblick

Kompaktes Wissen: Hier finden Sie die wichtigsten Fakten und Hintergründe zu relevanten Themen.

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Preise von Medikamenten

Medikamente verschlingen jeden vierten Prämienfranken. Warum müssen die Kassen viel mehr zahlen als im Ausland?

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5 Meinungen

  • NikRamseyer011
    am 28.09.2022 um 11:17 Uhr
    Permalink

    Super Geschiche.Merci! Das sind schon fast mafiöse Zustände. Und niemand greift durch. Wer zusehen musste, wie der hilflos um Ausreden ringende BAG-Mann vor der sehr komptenten Kassensturz-Moderatorin auf dem Kanapee herum rutschte, dem/der konnte Angst und Bange werden. Wenn eine solches BAG mit solchen Leuten und einem solchen obersten Chef die Interessen der Menschen (und der PatientInnen) im Land gegen die Big Pharma verteidigen sollen, dann gute Nacht! Aber das Problem liegt vorab beim Parlament: Da verhindern die (teils bezahlten!) rechten VertreterInnen der Pharmaindustrie, der Ärzteschaft und der privaten Versicherer permanent Transparenz, Kontrollen und Kostenreduktionen. Die PatienInnen und Versicherten werden den Profiteuren aller Art im kranken «Gesundheitsmarkt» schutzlos ausgeliefert.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 28.09.2022 um 12:09 Uhr
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    Gemäss der jüngsten Aufsichtsdaten des BAG, waren die Verwaltungskosten der Krankenkassen pro Kopf noch nie so hoch wie 2021. Mit Jahressteigerungsraten von 7.4% per 2021, 6.7% per 2020.

    Ziel der Lobbyarbeit ist es, den Gesamtmarkt in möglichst viele kleine Monopolmärkte aufzuteilen [im Extremfall bis zur Individualbehandlung], in denen die Zahlungswilligkeit der Kostenträger «opimal» ausgereizt werden kann.
    Das Monopol wird vom Staat garantiert (Patentgesetz [«nationale Erschöpfung»], restriktive Zulassungspolitik [«therapeutischer Mehrwert der Originalpräoarate» vs «Generikapreisabstand»], die Zahlungswilligkeit durch das Zahlungsobligatorium für die Kassen vom Staat gesichert.

    Einer unserer Kollegen spach dabei häufig vom «Ferrari für das Grab». Ob das teure Medikament anstatt echte Lebensverlängerung bei hoher Lebensqualität oder nur Leidensverlängerung bringt, ist in der Betrachtungsweise vieler Anbieter zweitrangig. Hauptsache, der Umsatz stimmt.

  • am 28.09.2022 um 12:12 Uhr
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    Bei einigen Bundesdepartemente ist das Wohlergehen des Volkes unwichtig. Hauptsache die UnternehmerInnen und die Firmen können absahnen. Woher kommen solche Haltungen ? Sind das politische Ausrichtungen der Beamten ? Liegt das an unwilligen PolitikerInnen die Scheu haben diesen Beamten auf die Finger zu klopfen?

  • am 28.09.2022 um 15:23 Uhr
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    im Gesundheitssektor scheint es ja nur so von Gutmenschen zu wimmeln, die nur das beste für ihre heilsuchende Kundschaft wollen.

  • am 28.09.2022 um 19:15 Uhr
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    Für 7 Magenblocker habe ich in der Schweiz Fr. 14.- bezahlt, Fr. 2.-/Stk. In Deutschland habe ich ein 14 Generika für € 4.- erhalten.€ -.285. Somit erhalte ich 7 Stk. für den gleichen Preis. Das Original ist in Deutschland etwas teurer, aber in keinem Verhältnis. Es lohnt sich etwas nachzudenken, wer sich in der Schweiz für unser Wohl interessiert und nicht nur unser Bestes will, unser Geld!

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