Kommentar

Armut in Sicht – dem Markt geht’s am Arsch vorbei

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Armut in Griechenland: Die NZZ prognostiziert für den «Markt» keine Nachteile. Denn Griechenland ist für Europa ein «Nonevent».

«Und was me no cha hoffen isch alei, dass si hemmige hei.»

Der Schweizer Mundartdichter Mani Matter hat recht, Hemmungen, Gewissensbisse und Skrupel sind für ein gutes Zusammenleben unerlässlich. Deswegen muss man auch ein scharfes Auge auf alles haben, was Hemmungen abbaut. Das gilt besonders für den Sprachgebrauch: man kann die Realität immer auch so in Worte fassen und verkürzen, dass alles ausgeblendet wird, was das Herz einschalten und Gefühle wecken könnte – Arbeitslosigkeit, Armut, erzwungene Auswanderung, Menschen.

Diese souveräne Wertneutralität erlangt man heutzutage am besten, wenn man die Welt durch die Brille der Kapitalmärkte sieht. Dazu braucht es zwar viel Übung, ab die haben wir inzwischen leider bis zum Abwinken. Wer das Weltgeschehen schon nur bei den Abendnachrichten am Bildschirm verfolgt, weiss, dass ein Vorkommnis erst dann zum berichtenswerten Ereignis wird, wenn es seinen Niederschlag am Markt gefunden hat. Beispielweise indem es einen Spread – die Differenz zwischen Angebot und Nachfrage im Finanzmarkt – um ein paar Punkte nach oben verschoben hat. Politische Analyse besteht heute vor allem darin, im Kaffeesatz der Marktreaktionen zu lesen.

Auf diese Weise finden die Kommentatoren auch immer wieder mal heraus, dass ein angebliches Ereignis – wie etwa der wirtschaftliche und soziale Kollaps Griechenlands – eigentlich gar keines ist. Diese Erkenntnis verdanken wir Michael Rasch von der NZZ. Unter dem Titel «Wer hat Angst vor Griechenland» erfahren wir zu unser aller Beruhigung, dass zwar «die neuesten Finten der unberechenbaren Athener Regierung die Aktienkurse schnell einmal um 3 bis 5 Prozent schwanken lassen, doch aus heutiger Sicht besteht kaum die Gefahr eines Crashs oder einer systemischen Krise, wie sie nach dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers entstanden ist. Trotz der höheren Volatilität schauen viele Marktteilnehmer eher gelassen auf das Treiben in Athen und Brüssel.»

Diese Gelassenheit hängt offenbar auch damit zusammen, dass «fast zwei Drittel der Marktteilnehmer den Euro durch einen Grexit gestärkt sehen, wogegen ein fauler Kompromiss aus ihrer Warte den Euro schwächen würde.» Anders als das Volk sind die Marktteilnehmer offenbar blitzschnell in der Lage, «faule Kompromisse» zu durchschauen und die richtigen Entscheide zu treffen. Und die Ansteckungsgefahr für andere dubiose Debitoren-Länder? Die liegt gemäss einer von Sentix durchgeführten Umfrage bei Marktteilnehmern auf einen «rekordtiefen Niveau».

Und natürlich fehlt auch der bei solchen «Analysen» unvermeidliche Hinweis auf den auf bloss 1,8% gesunkenen Anteil Griechenlands am BIP der Eurozone nicht. Deswegen «erachten viele Bankstrategen etwaige Kursverluste wegen negativer Meldungen über den Schuldenstreit eher als Kaufgelegenheit für riskante Wertpapiere wie Aktien.» Fazit: «Für Europa könnte sich Griechenland immer mehr zum Nonevent entwickeln.» Menschen wie Du und ich kommen in diesem Text nicht vor, bloss Bankstrategen und immer wieder Marktteilnehmer – und damit wiederum sind natürlich nicht Konsumenten und Arbeitnehmer gemeint. Der Markt reduziert sich inzwischen auf den Kapitalmarkt.

Das Wörterbuch des Unmenschen…

Spätere Generationen werden sich wundern, mit welcher Gefühlslosigkeit Vertreter der Gläubigerländer Anfang des 21. Jahrhunderts ein Schuldnerland kaputtgespart haben. Einige Zeitgenossen wundern sich heute schon. Bei der Ursachenforschung wird man zu ähnlichen Erkenntnissen kommen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg der deutsche Politikwissenschafter und Journalist Dolf Sternberger. Er schrieb 1957 das berühmte «Wörterbuch des Unmenschen», in dem er den entmenschlichenden Sprachgebrauch der Nazis analysierte. Für die überfällige aktualisierte Neuauflage müsste man den Titel ein wenig abändern: «Das Wörterbuch des Marktteilnehmers.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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2 Meinungen

  • am 5.07.2015 um 21:11 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen klaren und aufschlussreichen Artikel.
    Der «Markt» ist in den letzten Jahrzehnten zu einer Religion geworden, bei der die Religionsführer das Geld und ihre Rendite über alles andere stellen. Mit Logik und allgemein anerkannten Regeln hat diese Religion wenig zu tun.
    Was die «Religionsführer» nicht wollen führt zu Kurseinbrüchen und Marktturbulenzen. Was sie wollen braucht keinerlei volkswirtschaftlichen Nutzen zu erbringen. Beispiele?
    Die Strompolitik: Die CH-AKW produzieren Strom zu 5-7 Rp., ohne genügende Rückstellungen für deren Altlasten. Der mittlere Strompreis liegt in Europa und in der Schweiz seit über drei Jahren im Durchschnitt um 4 Rp./kWh, aktuell sogar tiefer. Beim Einkauf dieser Menge Strom in Europa hätten die CH-Stromkonsumenten in dieser Zeit über 2 Milliarden Franken gespart.
    Die Geldpolitik: Markt würde aus meiner Sicht bedeuten, dass alle Marktteilnehmer die Regeln kennen und verstehen. Und dass die Regeln für alle TeilnehmerInnen fair sind. Tun sie das und haben Sie den Durchblick?
    Spekulanten heissen heute Investoren.
    Individuelle Bereicherung auf Kosten anderer wird als Erfolg gefeiert.
    Wann endlich haben wir den Mut Nein zu sagen zu dieser Entwicklung, so wie es uns die Griechen heute vormachten?

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