Blatten: Wenn die Natur wütet – statt nur der Markt
Die Solidarität ist gross: Alle 300 Bewohner haben bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf gefunden. Meistens in Nachbargemeinden. Die Armee ist vor Ort, und auch die Bundespräsidentin war da und versprach Hilfe. Für Gemeindepräsident Matthias Bellwald ist klar, dass «sein Dorf» wiederaufgebaut wird, und in Bern wird darüber diskutiert, wie man das finanzieren kann. Überall in den Berggebieten werden Schutzbauten errichtet und Überwachungssystem installiert und unterhalten, um Anwohner vor den Naturgewalten zu schützen und Dorfgemeinschaften zu erhalten. Wir alle sind Blatten.

Auch der Erkenntnisgewinn ist gross. Die ganze Schweiz weiss wieder, dass die eigentliche Quelle unseres Wohlstands nicht eine hohe Investitionsquote ist, sondern die Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl, das auf lokaler Verwurzelung beruht. Das widerspiegelt sich auch in den Pressekommentaren: «So sichtbar war die Stärke der Schweiz noch nie», titelt etwa der Sonntags-Blick und begründet das so: «Das Staatsgebilde Schweiz funktioniert von unten nach oben. Sein Kraftzentrum sind die Kommunen und Gemeinden, nicht Bern oder Zürich oder Brüssel.»
Doch diese Kommunen werden nicht nur alle paar Jahre von Naturgewalten bedroht, sondern auch tagtäglich von der Macht der Märkte. Allein im Umkreis von nur tausend Metern vom Wohnort des Autors dieser Zeilen entfernt gibt es zwei «Blatten»: In der Vita-Siedlung in Langnau müssen bis Ende September 284 Mietparteien oder rund 800 Leute ihr Zuhause verlassen. Und in der Siedlung Sihlmatten in Adliswil werden insgesamt 136 Wohnungen leergekündigt. Daneben werden im selben Umkreis ein rundes halbes Dutzend kleinere Wohnblöcke totalsaniert. Die Zürcher Kantonalbank (ZKB) schätzt in ihrer Studie, dass jährlich rund 30’000 Schweizer von Leerkündigungen betroffen sind – und dass davon nur etwa 10 Prozent im angestammten Quartier bleiben können. Dazu kommen wohl noch viele Tausende, die durch «normale» Mietzinserhöhungen aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Gentrifizierung eben.
Diese Marktkräfte wirken zwar nicht so schnell, spektakulär und instagramabel wie ein Felssturz, aber sie sind nicht minder mächtig. Sowohl in der Sihlmatten als auch in der Vita-Siedlung können nach dem Abriss mehr als doppelt so viele Wohnungen gebaut werden. Und vor allem können die Investoren auch massiv höhere Mieten kassieren. In der Vita-Siedlung etwa zahlen Altmieter für eine Einzimmerwohnung 570 und eine Dreizimmerwohnung 1156 Franken monatlich. Zum Vergleich: Die billigste, nicht befriste Dreizimmerwohnung die aktuell in Langnau am Albis auf Homegate angeboten wird, kostet 2386 Franken. Neue Dreizimmerwohnungen kann man locker auch für etwa 3500 Franken vermieten.
Die ZKB schreibt dazu in ihrer Studie: «Mit den stark gestiegenen Landwerten besteht für Investoren ein beachtlicher Anreiz, vorhandene Ausnützungsreserven und damit zusätzliche Mieteinnahmen über eine Nachverdichtung mit Neubauten zu realisieren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ohnehin umfassende Sanierungen notwendig werden.» Der aktuell desolate Zustand der beiden Siedlungen zeigt auch, dass die Investoren alles getan (bzw. unterlassen) haben, um eine umfassende Sanierung notwendig erscheinen zu lassen. Wer Geld genug hatte, hat die Siedlung schon viel früher verlassen. Zugezogen sind vor allem Leute aus bereits früher gentrifizierten Gegenden. Sie werden jetzt ein zweites oder drittes Mal verjagt. Und das nicht etwa von einer blindwütigen Natur, sondern von profitgierigen Investoren, die eigentlich sehen müssten, was sie ihren Mitmenschen damit antun. Da darf man schon mal sauer werden.
Doch was macht das nun mit einem Staatsgebilde, das einmal von unten nach oben funktioniert hat und dessen Kraftzentrum die Kommunen sein sollten? Wer engagiert sich noch für eine Gemeinde, in der er oder sie nur vorübergehend wohnt? Wo bleibt die Stärke der Schweiz? Kann man Bürger sein, ohne ein Wohnrecht zu haben?
Und warum stellen wir uns diese Fragen immer nur dann, wenn wieder einmal die Natur gewütet hat – und nicht bloss der Markt?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Es ist dringend nötig, auch Ausnahmeereignisse in einen Rahmen zu stellen. Deshalb ist der Vergleich von Werner Vontobel sehr zu verdanken. Meine eigene Reaktion bestand in einem Blick auf den Gaza-Streifen. Von der selbstverständlichen Empathie den Menschen im Wallis gegenüber bleibt überhaupt nichts übrig, wenn es um die herumgehetzten und permanent bedrohten und ausgehungerten, jeglicher Hilfe beraubten Menschen im Gaza-Streifen geht. Der letztlich zynische Hinweis auf Terroristen dispensiert von jeglichem Mitgefühl. Nicht einmal der Hinweis auf Verbrechen gegen Völker- und Menschenrecht zeigt Wirkung.
Vielen Dank Herr Vontobel für diesen mutigen aber naheliegenden und klaren Vergleich!