Eisenstangen, Stacheldraht

Jahrzehntelang standen Dutzende spitzer Eisenstangen mit Stacheldraht im Hirseggwald. Wie vielen Wildtieren wurde dies zum Verhängnis? © Walter Aeschimann

Verhängnisvoller Stacheldraht in der Unesco-Biosphäre

Walter Aeschimann /  An vielen Orten in der Schweiz verschandeln Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg die Natur. Eine Rückbau-Aktion.

Wenn Samuel Christen nach Feierabend den Hirseggwald hochlief, um weiter oben an den Kalkfelsen knifflige Kletterrouten zu begehen, deren schönste die Locals «Shakira» tauften, regte er sich immer auf. Da standen im natürlich verwilderten Mischwald unweit vom luzernischen Flühli Dutzende von spitzen Eisenstangen, an denen mehrere Linien Stacheldraht verknotet und weiträumig ausgebreitet waren. 

Der «Militärschrott» aus dem Zweiten Weltkrieg rostet hier seit Jahrzehnten vor sich hin und gefährdet Gemsen, Hirsche oder Rehe auf der Suche nach Schutz und Nahrung. «Ich dachte immer, dass irgend jemand diese Drähte schon lange weggeräumt haben sollte, sei es die Armee oder die Jäger», sagt Christen. «Leider gibt es viele solche Hinterlassenschaften im Entlebuch.»

Biosphäre Entlebuch. Totale Hirseggwald.
Der Hirseggwald in der Biosphäre Entlebuch sieht idyllisch aus – doch der Stacheldraht dort ist eine tödliche Falle.

Die Jäger waren nicht am Rückbau interessiert

Im vergangenen Herbst hatte der Lehrer aus Sursee die Nase voll und informierte «Mountain Wilderness», einen Verein, der sich seit 1994 für den Erhalt von wilden Gebirgsräumen in der Schweiz einsetzt. «Ich hatte das Gefühl, eine Aufräumaktion im Hirseggwald könnte verschiedene Akteure zusammenbringen, etwa Jäger und Bergsportler:innen, um das gegenseitige Verständnis zu fördern», sagt Christen. Bei «Mountain Wilderness» fand er sofort Gehör. 

Luisa Deubzer ist dort Projektleiterin Wildnis und Bergsport. Zum Ressort gehört auch das Teilprojekt «Rückbau» von Anlagen, die irgendwann von Menschen gebaut und nach Gebrauch in der Natur zurückgelassen wurden. Deubzer kontaktierte den Besitzer des Geländes, den «Verein Festungsanlagen Biosphäre Entlebuch». Der übernahm einst das Gebiet von der Schweizer Armee für einen «symbolischen Preis», mit dem Ziel, die Festungsanlagen zu erhalten und der Öffentlichkeit vorzuführen.

Vereinspräsident Urs Christener wollte den Stacheldraht mit hiesigen Jägern schon lange aus dem Wald entfernen. Diese seien aber «nicht interessiert» gewesen. Die Anfrage von «Mountain Wilderness» war ihm deshalb «mehr als recht». «Mountain Wilderness» kündigte die Rückbau-Aktion im Internet an, ein Dutzend Freiwillige meldete sich. 

Gemeinsam etwas bewegen

So steht an einem regnerischen Freitagmorgen eine bunt gemischte Menschengruppe auf steiler, glitschiger Unterlage, allesamt passionierte Alpinist:innen, die ihre Leidenschaft für die Berge eint und die Idee, dass diese Berge vor den Zumutungen des Menschen, wenn immer möglich, zu schützen sind. Eileen, die an ihrer Masterarbeit in Bodenphysik arbeitet, bekam zum Geburtstag von ihrem Vater eine Mitgliedschaft bei «Mountain Wilderness» geschenkt. Sie habe «gerade mega Lust gehabt, in den Wald zu gehen und im Lokalen etwas zu bewegen». Jacqueline ist «Lebensentdeckerin», arbeitet gerne mit den Händen und glaubt, dass der Mensch «ohne die Schönheit der Landschaft nicht glücklich werden» kann. Franz ist Bauingenieur, geht seit der Pension im Sommer auf die Alp und hat zwischendurch noch Zeit, um sich «bei derart sinnvollen Aktionen zu engagieren». Es gibt ausserdem einen Mathematiker, Physiker, einen Sozialpädagogen, eine Psychoanalytikerin und andere. 

Rückbauaktion. Totale Gruppe.
Aufgabenteilung: Manche entfernen den Stacheldraht, andere schneiden ihn klein oder transportieren ihn ab.

Dichtes «Drahtgestrüpp«

Ausgerüstet mit Bolzenschneidern, gutem Schuhwerk und Schutzhandschuhen aus Rindspaltleder, arbeiten wir uns Eisenstange um Eisenstange durch dichtes Drahtwerk, das teils von morschem Holz und dem jährlichen Laubfall verschüttet ist. Einmal finden wir im Dickicht eine ganze Drahtrolle. Bei der Arbeit gilt immer allergrösste Achtsamkeit, weil die spitzen Stacheln überall lauern und der Hang extrem abschüssig ist.

Die Gruppen funktionieren wie Teams am Berg, jede Handreichung konzentriert, Einzelaktionen gehen nicht. Jemand nestelt den Draht von den Eisenstangen, zerschneidet und zerkleinert ihn zu kleinen Portionen. Andere bündeln handliche Pakete und tragen sie zur Materialseilbahn oder direkt hinunter zur Hirseggbrücke. Die Männer vom Verein Festungsanlagen fahren den Schrott zum Depot Flühli, von dort wird er in die Recyclingstation gebracht werden.

Stacheldraht kleinschneiden
Arbeitshandschuhe aus Rindspaltleder schützen vor dem Stacheldraht. Wichtig sind auch Zeckenschutz sowie Impfschutz vor Wundstarrkrampf (Tetanus), falls man sich sticht.

Gletscherabdeckungen gelangen als Mikroplastik in Gewässer

Nicht nur dieser Stacheldraht, auch anderes verbleibt nach Gebrauch in der Natur: Skilifte, Seilbahnen, touristische, militärische oder landwirtschaftliche Anlagen, ausserdem Infrastruktur für die Versorgung oder Kommunikation. Selbst Hilfskonstruktionen für den Bau von Staumauern werden oft nicht zurückgebaut – mit Folgen: Zäune im Unterholz gefährden Wildtiere, gröbere Anlagen sind eine ästhetische Zumutung, Reste von Gletscherabdeckungen gelangen als Mikroplastik in die Gewässer, zerfallende Gebäude können giftige Bausubstanzen freisetzen. 

«Der Rückbau ist gesetzlich nicht immer eindeutig geregelt», sagt Luisa Deubzer. Das Seilbahngesetz von 2007 schreibt für nicht mehr genutzte Skilifte und Bahnen zwar eine Pflicht zum Rückbau vor. Es greift in der Praxis aber häufig nicht, weil keine gesetzliche Frist vorgesehen ist. So kann der Rückbau um Jahre verzögert werden, oft mit dem Hinweis fehlender finanzieller Mittel oder mit fadenscheinigen Beteuerungen, die Bahnen dereinst wieder zu betreiben. 

Der Bund hat keine Übersicht, wie viele marode Anlagen noch im Gebirge stehen, weil die Kompetenz zu grossen Teilen bei den Kantonen liegt. Im Herbst 2023 gab es gemäss Recherchen von «Mountain Wilderness» noch mindestens 55 Skilifte, die von den Unternehmern aufgegeben und stehen gelassen wurden. 

Schneiden von Drahtgestrüpp
Schneiden von «Drahtgestrüpp».

Militärische Sperrstellen als Orte für Wildtiere

Viele militärische Anlagen sind denkmalgeschützt, auch wenn sie bereits zerfallen. Im Zweiten Weltkrieg verbaute die Schweizer Armee überall Betonblöcke, um Panzer abzuwehren. Am Ende des Krieges verloren die Anlagen weitgehend ihren militärischen Wert, viele rotten im Gelände vor sich hin, sind von Moos und Buschwerk überdeckt. Ein Risiko für Tier und Mensch sind sie kaum. 

«Pro Natura» kaufte vor einigen Jahren der Armee ein Duzend Sperrstellen ab, etwa in Frick, bei Gruyère, im Baselbieter Jura und im Waadtland, mit dem Ziel, sie zu ökologisch wertvollen Zonen zu restaurieren, als Achsen der Artenvielfalt auszubauen, in denen Wildtiere sicher wandern können. Ob dieser Versuch des «Upcyclings» militärischer Anlagen funktioniert, ist noch offen. 

Stacheldrahtrollen Hirseggwald
Ganze Drahtrollen lagen im Wald herum.

Sperrstelle von nationaler Bedeutung

Der Stacheldraht im Hirseggwald (und anderswo) hingegen ist bedrohlich. Er ist Teil der «Sperrstelle Flühli» und hätte feindliche Bodentruppen abwehren sollen. Nach dem Fall Frankreichs im Juni 1940 befahl die Schweizer Armeeleitung, die Verteidigungslinie im Mittelland aufzugeben, und den Rückzug eines grossen Teils der Armee ins sogenannte Reduit. 

Am 3. Juli 1941 – 22 Tage vor dem Rütlirapport – verschoben sich 16’000 Mann der 8. Division ins Gebiet Flühli-Sörenberg im Entlebuch. Verstärkt durch andere Divisionen errichteten sie zwischen 1941 und 1944 mehrere Sperrstellen in der Ebene des Marientals. Sie sollten einen vermuteten Vorstoss der gegnerischen Armee über den Brünigpass und Richtung Gotthard verhindern. Im Raum Hirseggbrücke bauten die Soldaten ein Geländepanzerhindernis, zwei Strassenbarrikaden und das Infanteriewerk Hirsegg, die stärkste Sperre im Divisionsgebiet. 

Flühli gilt heute als Sperrstelle von nationaler Bedeutung. Die Armee nutzte das Infanteriewerk Hirsegg nach dem Krieg als Übungswerk, sanierte die Felsenanlagen und baute unweit des Eingangs zum Stollen eine Unterkunft, ehe Ende 1994 die «Endklassifizierung» erfolgte. 

Hütte des Vereins Festungsanlagen
Einst Militärunterkunft, heute Lokal des Vereins Festungsanlagen.

Entlöhnung: Ein wunderbares Nachtessen

Die einstige Militärunterkunft ist nun das Lokal des Vereins Festungsanlagen Biosphäre Entlebuch und dient uns als Unterkunft. Der Raum ist eng, die Fenster der Hütte sind vom Dampf beschlagen, der süsslich-würzige Geruch von Curry liegt in der Luft. Christener ist über die Städter:innen aus dem Unterland «sehr positiv überrascht» und wir sind begeistert von seinem Geschick als Koch, vom himmlischen Curry-Eintopf mit diversen Gemüsen und Süsskartoffeln. Dazu gibt es gut gereiften Alpkäse und Armeeschokolade. Der Verein belohnt unsere Arbeit mit der Verköstigung.

Bald kriechen wir in den Schlafsack und träumen von Bolzenschneidern und Stacheldraht. Denn am anderen Morgen geht die Arbeit unverdrossen weiter. Sonnenstrahlen dringen durch die Blätter, im Wald steigen Dunstschwaden auf, es duftet mosig. Das Dröhnen der Motorräder auf der Strasse zum Glaubenbielen-Pass ist nicht zu überhören. 

Hunderte Drahtbündel und mehrere Fuhren mit dem Lastanhänger später ist die Arbeit kurz nach Mittag abgeschlossen, auch dank jenen, die «auf keinen Fall aufhören» wollen, bis nicht der letzte Stacheldraht aus dem Waldstück verschwunden ist. 

Stacheldraht auf Anhänger
Per Anhänger werden die Drahtbündel ins Depot Flühli gebracht.

Wilde Landschaft wird immer seltener im Alpenraum

«Das Erleben einer wilden Landschaft ist eine Ressource im Alpenraum, die immer rarer wird. Die unverbaute Natur und deren Schönheit müssen wir schützen», sagt Deubzer. «Wenn eine Anlage nicht mehr genutzt wird, sollte es selbstverständlich sein, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Da sehen wir die Verursacher oder Betreiber der Anlagen, wie hier das Militär, zuerst in der Pflicht». 

Im Fall von militärischen Anlagen gibt es laut Deubzer sogar finanzielle Mittel, die für solche Rückbauten vorgesehen wären. «Unser Ziel ist es, die Rahmenbedingungen zu verändern und die Politik zu animieren, griffigere Gesetze zu erlassen. An bestimmten Orten, an denen der Rückbau lange versäumt wurde, wollen wir mit gezielten Aktionen zeigen, dass es möglich ist, und so ein positives Beispiel schaffen», sagt Deubzer. 

Gruppenfoto vor dem Stollen
Nach getaner Arbeit noch ein Gruppenfoto vor dem Stollen.

Die nächsten Vorhaben sind schon geplant

«Mountain Wilderness» baute erstmals im Oktober 2014 mit Freiwilligen eine marode, besitzerlos gewordene Holzhütte aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg auf dem Safierberg (GR) ab. Seither wurden zahlreiche ähnliche Aktionen durchgeführt. Im vergangenen September entfernten Freiwillige gemeinsam mit «Summit Foundation» in La Robella einen Anhänger voll altem Stacheldraht aus einem Waldstück. Im kommenden Juli ist geplant, im Binntal alte Weidezäune und weitere Überreste landwirtschaftlicher Nutzung aus dem Weg zu räumen. 

«Ich bin ‹Mountain Wilderness› sehr dankbar und hatte irrsinnig Freude am Einsatz und am Resultat im Hirseggwald. Ich glaube, die Wildtiere können jetzt viel besser zirkulieren», sagt Samuel Christen, der sich nun nicht mehr ärgern muss, wenn er in den Felsen geht und die Route «Shakira» klettert.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor hat bei der Rückbau-Aktion mitgemacht.
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Eine Meinung zu

  • am 2.06.2025 um 00:12 Uhr
    Permalink

    vielen Dank an alle Beteiligten, eine schöne Aktion. Liebes Müllitär, als Kind habe ich gelernt, meinen Güsel wieder mitzunehmen.
    Im Wald und in Hecken finde ich überwucherte Güllenschläuche, eingewachsene Plastikplanen von längst verschwundenen Brennholzbeigen, ausgediente Anhänger und anderes verrostetes Landgerät. «Abfall tötet Tiere» gilt nicht nur am Strassenrand wo’s alle sehen. Es gibt Landwirte und es gibt «Chnuschteris». Zweitgenannte schaden dem Ansehen der Bauern und der Waldbesitzer.

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