Demokratie: Wahlen, Parlamente und Gerichte genügen nicht
Die Herausforderungen der Demokratie und des Rechtsstaats
Wenn die politische Kultur wegbreche, könne eine Demokratie nicht bestehen. Es gehe um unrealistische Erwartungen, die Menschen gegenüber dem Staat hegten. Die Enttäuschten brächten dann starke Männer an die Spitze, die ihrerseits den Rechtsstaat systematisch unterminierten.
Zu diesem Schluss kommt Jonathan Sumption, ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof Grossbritanniens. In seinem Buch The Challenges of Democracy and the Rule of Law legt er seine Gedanken dar und fasst das Wesentliche in der «New York Times» zusammen. Dabei fokussiert er zwar auf die USA, sieht aber ähnliche Tendenzen auch in Europa. Seine Diagnose ist besorgniserregend: «Westliche Länder laufen Gefahr, zu gescheiterten Demokratien zu werden»
Dabei gehe es meistens um Demokratien, die nach aussen relativ reibungslos funktionierten, regelmässig Wahlen abhielten, funktionierende Gerichte und Parlamente hätten, also solche mit einem intakten institutionellen Rahmen. Was aber diese bedrohe, sei der Verlust einer politischen Kultur, ohne die eine Demokratie nicht überleben könne. Dies zeige sich im Moment am deutlichsten in den USA.
«Trump zeigt Symptome eines totalitären Herrschers»
Nach Sumption lebt eine gut funktionierende Demokratie von zwei wesentlichen Faktoren: einem institutionellen Rahmen und der politischen Kultur von Entscheidungsträgern.
Als «verfassungsmässiger Mechanismus der kollektiven Selbstverwaltung» fusse die Demokratie auf der Delegation des Volkswillens, sowie über Personen mit Entscheidungsgewalt, die von einer Mehrheit gewählt werden. Ihr Mandat sei aber klar definiert, begrenzt und widerrufbar.
Autokratische Regierungen stellen diese rechtsstaatlichen Mittel der Kontrolle und Machtbeschränkung infrage, indem sie die Gewaltenteilung faktisch aus den Angeln heben, die Verfassung ritzen oder gar umgehen und die Medien unter ihre Kontrolle bringen.
Präsident Trump weise alle drei Symptome eines totalitären Herrschers auf: ein charismatischer Führer, der sich feiern lässt (Personenkult), die «Identifikation des Staates mit sich selbst» und die Weigerung, Andersdenkende als solche zu respektieren.
Die Rolle des Staates
Angesichts einer derartigen politischen (Un-)Kultur werde auch der institutionelle Rahmen immer brüchiger und drohe, vollständig in eine Willkürherrschaft abzugleiten: «Wenn sich die Macht des Stärksten und Lautesten durchsetzt, werden der Tyrannei Tür und Tor geöffnet, wie schon die Gründungsväter der USA wussten.» Sumption zitiert den zweiten US-Präsidenten John Adams, der im hohen Alter zur Überzeugung gelangt sei, dass die Demokratie genauso anfällig für Habgier, Stolz und Eitelkeit wie jede andere Regierungsform, zusätzlich aber wesentlich instabiler sei. «Es hat noch nie eine Demokratie gegeben, die nicht Selbstmord begangen hat.»
Willkürherrschaft der «starken Männer»
Donald Trump behandle den Staat wie sein privates Unternehmen und benutze den institutionellen Rahmen für die Verfolgung seiner «Feinde», indem er Anwaltskanzleien auf sie hetze, sie in den Social Media herabwürdige und unliebsame Institutionen wie die Harvard-Universität mit Schliessung bedrohe und mit Verboten belege. Indem er durch Dekrete (executive orders) regiert, bremse er die Legislative als kontrollierende und kritische Gewalt aus.
Allerdings sieht Sumption auch in Europa ähnliche Tendenzen. So bezieht er sich etwa auf eine Umfrage in seinem Land, nach der 54 Prozent der Bevölkerung meinen, dass «Grossbritannien einen starken Führer braucht, der bereit ist, die Regeln zu brechen». Ähnliche Tendenzen gebe es bekanntlich in Ungarn, der Slowakei, Österreich und Frankreich oder auch in den Niederlanden, Rumänien und der Türkei. Bevölkerungen seien zunehmend bereit, autoritäre und rechtsextreme Persönlichkeiten in die Regierung zu wählen.
Ursachen für Demokratieverlust
Unter den Ursachen für diese in den westlichen Demokratien zunehmende Tendenz ortet Sumption an erster Stelle die unrealistischen Erwartungen, welche die Menschen gegenüber dem Staat hätten. Dieser sei nicht nur für die Rahmenbedingungen für das Gelingen eines guten Lebens, sondern praktisch für dieses selbst verantwortlich. Der Staat solle sie vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Armut im Alter, Dürre, Hitze und Überschwemmungen, aber auch vor Wirtschaftskrisen und Krankheiten schützen.
Wenn diese Erwartungen enttäuscht würden, gäben die Menschen dem «Staat» und seinen Strukturen, Regierungen und Gesetzen die Schuld. Dabei habe der Staat das Versprechen von Wohlfahrt und Fortschritt über lange Zeit, ja sogar über anderthalb Jahrhunderte einlösen können, wie etwa die Geschichte der USA zeige.
Sumption warnt: Was ein enttäuschter Optimismus auslösen könne, zeigten die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre und der darauf folgende Siegeszug des Faschismus.
Autokraten machen alles noch schlimmer
Der enttäuschte Optimismus und die wachsende Unsicherheit führten zu einem Verlust des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Institutionen und deren Vertreter (Parteien, Behörden, Regierungen, Gerichte). Damit steige die Bereitschaft, «starke Männer» in Regierungen zu wählen, die den Hintermännern des Staates («deep state») ein Ende bereiten und die Erwartungen der «kleinen Leute» wieder ernst nehmen würden.
Doch, meint Sumption, hätten «starke Männer noch nie etwas erreicht». Die Tragik bestehe gerade darin, dass dadurch noch mehr Chaos, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, politischer Zusammenbruch und Armut entstehe. Was auf den ersten Blick als Lösung erscheine, die persönlichen Frustrationen und Enttäuschungen wegen Kaufkraftverlust, Arbeitslosigkeit oder Verschuldung in Erfolg und Grösse («Make America Great Again») umzuwandeln, erweise sich als Bumerang. Der Niedergang der politischen Kultur reisse zuerst und vor allem die «kleinen Leute» in den Abgrund.
Stärkung des Rechtsstaats als Rezept
Um dies zu verhindern, gibt es nach Sumption nur ein Rezept: die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Damit meint er, dass nicht in erster Linie Menschen Staaten und Gesellschaften regieren sollen, sondern die «Gesetze». Menschen seien anfällig für Willkür, Korruption und Macht, Gesetze dagegen basierten auf rationalen Prinzipien, die eine konsequente und unparteiische Umsetzung verlangen.
Wie der Rechtsstaat in der aktuellen Weltlage garantiert werden soll, dazu macht der Autor keine Vorschläge. Er stellt lediglich fest: «Es gab schon früher Demagogen … In den USA sind sie bis jetzt alle gescheitert. Die politischen Parteien hatten genügend Respekt vor den Funktionsweisen des demokratischen Staates, um sie von der Macht fernzuhalten.»
Welche Prognosen er europäischen Staaten gibt, sagt er nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Richter Sumption könnte nicht falscher liegen. Es sind niemals die Entrechteten, Enttäuschten, Verarmten, die die Demokratie demontieren. Es sind immer die Eliten, Gruppen mit Einfluss und Geld und Medienmacht. In seinem Land hat Frau Thatcher vorgemacht, wie das geht. Wie man mit blanker Verachtung für arbeitende Menschen privatisiert, Menschen beraubt und die gemeinschaftlichen Gewinne den Freunden von Banken, Versicherungen und Großkonzernen zuschanzt. Trump ist ja nur der weithin sichtbare Höhepunkt von Korruption und Ausverkauf, die schon lange vor ihm extreme Ausmaße erreichte. Wenn in einem Land nur noch Millionäre und Milliardäre in den Parlamenten sitzen, kann man nicht mehr von Demokratie sprechen. Wenn Corona, Ukraine-Krieg und «Hass im Netz» vorgeschoben werden, um Grundrechte auszuhebeln – nicht von der AfD, nicht von einem «Führer», sondern von etablierten Parteien – greift Sumptions allzu vereinfachte Sichtweise wohl viel zu kurz.
Herr Sumption hat anscheinend weder Marx gelesen noch die Entwicklung der bürgerlichen (Parteien-)Demokratie seit der amerikanischen Verfassung studiert: Es ging immer darum, den Einfluß der Eliten (heute des Finanzkapitals) gegenüber der Masse des Volkes zu sichern, d.h., die kapitalistische Demokratie ist von Anfang an als Scheindemokratie geplant gewesen. Jede kleine Errungenschaft (z.B. Frauenwahlrecht, Abschaffung der Kinderarbeit, etc.) wurde von unten durchgesetzt. Die zyklischen Krisen des Kapitalismus (Marx) führen dazu, daß die Scheindemokratien zyklisch demontiert werden:
„Der Kapitalismus in der Krise wird aufrechterhalten mit den terroristischen Mitteln des Faschismus. Deshalb sollte vom Faschismus schweigen, wer nicht auch vom Kapitalismus reden will.“ (Max Horkheimer)
Einen Ausweg könnte nur eine Basisdemokratie mit Direktkandidaten und imperativen Mandat bieten, wie sie von den Grünen mal angedacht war – doch dagegen wissen sich die Eliten zu wehren – noch!