Flucht Bergkarabach

Flucht aus Bergkarabach: Auf der Verbindungsstrasse von Stepanakert nach Armenien stauten sich die Fahrzeuge über Kilometer. (Aufnahme vom 30.9.2023) © Siranush Sargsyan / X

Bergkarabach: Nach der Kapitulation droht ein neuer Konflikt

Amalia van Gent /  Aserbaidschan fordert einen Verbindungs-Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan. Doch der Weg führt über armenisches Gebiet.

Der Exodus der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach hat sich in der letzten Septemberwoche vollzogen: Satellitenbilder des US-Unternehmens Maxar dokumentierten, wie sich auf der Hauptverkehrsachse des sogenannten Latschin-Korridors Tag für Tag eine schier unendlich lange Autokolonne durch die grüne Hügellandschaft des Südkaukasus schlängelte. Sie bewegte sich in eine einzige Richtung: weg aus einem Gebiet, das die Fliehenden bis vor kurzem noch ihre Heimat nannten.

Erschöpfte Kinder, verängstigte Frauen und abgemagerte Männer flohen in Privatwagen, in Bussen und auf vollgestopften Lastwagen, oft nur mit dem, was sie am Leib trugen. Innerhalb der ersten fünf Tage waren von den schätzungsweise 120’000 Einwohnern über 90’000 geflüchtet. Sollte die Hauptverkehrsachse des Latschin-Korridors für Flüchtende weiterhin offen bleiben, werden in Bergkarabach, abgesehen von wenigen Alten und Gebrechlichen, keine Armenier mehr leben – zum ersten Mal seit Jahrtausenden. Bis Ende September machten die Armenier 95 Prozent der Bevölkerung aus.

Auflösung aller Institutionen

Die Menschen sind geflüchtet, weil die Heimat, in der sie sich seit 30 Jahren in Sicherheit wähnten, nicht mehr existiert. Der wohl letzte Präsident ihrer international nie anerkannten Republik Arzach, Samwel Shahramanyan, besiegelte am 27. September mit einem Dekret die Auflösung aller politischen Strukturen Bergkarabachs. Die lokale Präsidentschaft, das Parlament und die gewählten Bürgermeister sowie sämtliche Institutionen der letzten 30 Jahre soll es ab dem 1. Januar 2024 nicht mehr geben.

Die formelle Auflösung der Republik, die vollständige Entwaffnung ihrer eigenen «Verteidigungskräfte», sowie die Aufnahme von Gesprächen mit Baku über die vollständige «Wiedereingliederung» in Aserbaidschan als Minderheit, waren Bedingungen, welche Aserbaidschan nach seinem letzten Blitzkrieg den Behörden in Stepanakert vorgelegt hatte.

Der letzte Krieg um Bergkarabach begann am 19. September, als Aserbaidschan Bergkarabachs Städte und Dörfer massiv mit Artillerie und Drohnen angriff. Es war die zweite Grossoffensive Aserbaidschans gegen Bergkarabach innerhalb der letzten drei Jahre. Die Strategie der Eskalation habe sich für Aserbaidschans Autokraten Ilham Alijew nach 2020 immer ausbezahlt, urteilt Laurence Broers, einer der renommiertesten Südkaukasus-Experten. Alijew habe wiederholt und erfolgreich auf Gewalt gegen seinen schwachen Gegner gesetzt, ohne je auf nennenswerten Widerstand der Weltgemeinschaft zu stossen, sagte er in einem Interview gegenüber dem deutschen Magazin «Spiegel». Und er werde es wieder tun.

Teurer Preis des Triumphs

Tatsache ist, dass Bergkarabach der Offensive am 19. September militärisch wenig entgegenzusetzen hatte. Seine «Verteidigungskräfte», einige Tausend Mann stark, waren auf sich allein gestellt. Zudem stand die Bevölkerung durch Aserbaidschans monatelange Wirtschaftsblockade am Rand einer Hungerkatastrophe.

Moskau vermittelte zwischen den Parteien und erreichte 24 Stunden später ein Waffenstillstandsabkommen, das sämtliche Forderungen Bakus unhinterfragt übernahm. Die Führung Bergkarabachs tauschte ihre Kapitulation gegen das Recht für die Bevölkerung aus, den Latschin-Korridor «frei und ungehindert» für die Flucht benützen zu können. Alijew triumphierte.

Der «Triumph», den Putin Alijew mit diesem Abkommen auf dem Tablett anbot, hatte freilich einen Preis. Berichten aus Baku zufolge, soll der Verbleib der russischen Friedenstruppen auf dem Territorium Aserbaidschans für «eine noch zu auszuhandelnde Zeit» verlängert werden. Als einzige Grossmacht konnte Russland nach dem Krieg 2020 rund 2000 Friedenssoldaten im Gebiet stationieren. Ihre Mission, offiziell zum «Schutz der Armenier Bergkarabachs», endet im Jahr 2025. Der Verbleib von «russischen Stiefeln» auf dem Territorium Aserbaidschans über dieses Datum hinaus garantiert, dass Moskau die Politik von Baku weiterhin mitbestimmen kann.

Von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen

In einer Zeit, in der globale und regionale Mächte wieder dabei sind, neue Verbindungswege für den Transport von Energieressourcen zu erschliessen, misst der Kreml der Nutzung von Aserbaidschans Pipelines besondere Bedeutung bei, um Russlands Energiereichtum trotz Sanktionen auf den Weltmarkt zu bringen. Und wo es um «strategische Interessen» geht, spielen Volksgruppen wie die Karabach-Armenier die Rolle der Bauern auf dem Schachbrett: Sie werden als erstes geopfert.

Am 24. September öffnete Alijew den Latschin-Korridor für die «freie, freiwillige und ungehinderte Bewegung» der Bewohner Bergkarabachs. «Wie sie meine Erinnerungen entweihen. Wie sie meine Werte verhöhnen. Wie sie sich in meinen Himmel einmischen», sagte Meri Asatryan, eine Assistentin des Ombudsmanns für Menschenrechte in Karabach, in einem Video auf Instagram. Dann trat auch sie die Flucht an. «Alle wussten, dass die ethnische Säuberung Bergkarabachs bevorsteht; Niemand hat etwas getan, um sie zu verhindern», beklagt der politische Analytiker Benyamin Poghosyan in Jerewan.

Nach Beginn des Ukraine-Kriegs traten die EU und die USA als geopolitische Akteure und als «Alternative» zu Russland im Südkaukasus auf. Am 6. Oktober 2022 unterzeichneten Aserbaidschans Ilham Alijew und Armeniens Nikol Paschinjan in Prag eine Erklärung, in der sie gegenseitig die territoriale Integrität und Souveränität ihrer Länder anerkannten. Statt einer Selbstbestimmung für Bergkarabach sah der EU-Plan einen internationalen Mechanismus vor, der dafür sorgen sollte, dass die 120‘000 Armenier Bergkarabachs in ihrer Heimat in «Würde und Sicherheit» leben könnten. Der Plan wurde vom US-Aussenminister persönlich unterstützt.

Dieser Friedensplan des Westens war einmal mehr sehr schlecht vorbereitet. Er enthielt keine Mechanismen, die es ermöglicht hätten, die Konflikt-Parteien zu einer Umsetzung zu zwingen. Vom Plan des Westens pickte Alijew nur jenen Paragraphen heraus, der die territoriale Souveränität und Integrität Aserbaidschans vorsah – und setzte einmal mehr auf das Recht des Stärkeren. Die Entvölkerung Bergkarabachs ist auch eine Folge der Unfähigkeit des Westens, seine Pläne umzusetzen. «Ein äusserst schlechter Präzedenzfall für die Glaubwürdigkeit des Westens», kritisierte Stefan Meister, der die Bundesregierung aussenpolitisch berät.

Eine türkische Welt von der Adria bis zu China

Für Alijew zähle nur die Meinung der Türkei und Russlands, schreibt Thomas de Waal, auch er ein sehr guter Kenner des Südkaukasus, in der Zeitschrift «Foreign Affairs». Alijew habe verstanden, dass die Türkei seine Ambitionen unterstützen und Russland ihn dabei nicht hindern würde und dass der Westen nicht fähig sei, seine Worte in Taten umzusetzen. In der Tat halten Ilham Alijew, wie auch Putin und Erdogan, den Westen für dekadent und käuflich. Wie Moskau und Ankara macht auch Baku keinen Hehl daraus, dass sie die USA und die EU aus dem Südkaukasus verdrängen wollen.

Als hätte eine riesige Uhr die Zeit zurückgedreht, buhlen Russland, die Türkei und der Iran wie in vergangenen Jahrhunderten erneut um Macht und Einflusssphären in der Region. Die Türkei ist spätestens seit 2020, als sie im zweiten Krieg um Bergkarabach beträchtlich zum Sieg Aserbaidschans beitrug, als mächtiger Akteur zurückgekehrt. Die türkische Aussenpolitik betrachtet den Südkaukasus und Zentralasien dabei als einen eng miteinander verbundenen Raum, der die Basis bilden sollte für eine turksprachige Welt, die sich von der «Adria bis zur Chinesischen Mauer» erstreckt. Von dieser Welt verspricht sich der immer wieder von Grossmacht-Visionen getriebene türkische Präsident, die Türkei im 21. Jahrhundert in eine globale Macht verwandeln zu können. Voraussetzung für die Verwirklichung seines Traums ist allerdings ein territorialer Zugang, der die Türkei direkt mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet. Und dieser verläuft durch die südarmenische Provinz Sangesur.

Sangesur-Korridor
Der Sangesur-Korridor (Pfeil) soll Aserbaidschan mit seiner Enklave Nachitschewan verbinden. Auch die Türkei hätte damit einen direkten Zugang zu Aserbaidschan. Dieser Weg führt jedoch durch die südarmenische Provinz Sangesur.

Einen Tag nach der Kapitulation Bergkarabachs gratulierte Erdogan seinen Amtskollegen Alijew in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan für dessen historischen Sieg. Dass die Blitzoperation «siegreich und mit grösster Sensibilität für die Rechte der Zivilbevölkerung abgeschlossen wurde», erfülle ihn mit Stolz, sagte er. Dann forderte er den armenischen Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf, die «Friedenshand Aserbaidschans» zu akzeptieren und «aufrichtige Schritte» in Bezug auf den Sangesur-Korridor zu unternehmen.

Die Türkei und Aserbaidschan fordern Armenien ultimativ dazu auf, dieses Stück armenischen Territoriums «freiwillig» freizugeben oder, wie in Bergkarabach, eine neue Niederlage zu riskieren.

Droht ein neuer Flächenband?

Noch stossen die Pläne zur Errichtung eines Sangesur-Korridors in Iran auf heftigen Widerstand. Teheran betrachtet jede Änderung der Grenzen im Südkaukasus als eine «rote Linie». Es befürchtet, dass die von Ankara angestrebte «türkische Welt von der Adria bis zur Chinesischen Mauer» den iranischen Einfluss in Zentralasien sowie ihre Landverbindungen durch den Kaukasus gefährden könnte. Die uralte Rivalität zwischen dem Iran und der Türkei könnte einmal mehr einen Flächenband auslösen, der nicht nur den Südkaukasus, Iran und die Türkei betreffen würde, sondern auch Israel, das sich Aserbaidschans strategischer Verbündeter nennt, und womöglich sogar Indien, das mit dem Iran paktiert.

«Haben die Armenier eine Chance, zu überleben?» fragte der armenische Dichter Hrant Matewosjan den polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, als dieser 1991 die kleine kaukasische Republik besuchte. Gerade war der erste Krieg um Bergkarabach ausgebrochen. «Erwartet sie nicht das Schicksal der Juden: zu existieren, jedoch nur in der Diaspora, nur als Vertriebene, dazu verurteilt, in Ghettos zu leben, über alle Kontinente verstreut?»

Dass die Armenier heute, gut hundert Jahre, nachdem sie Opfer eines Genozids wurden, erneut um ihre Existenz bangen müssen, ist ein Armutszeichen der Weltgemeinschaft. Um nicht noch einmal zu Kollateralschaden der Geschichte zu werden, fordern sie die UNO auf, Friedenstruppen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu schicken. Wird die Weltgemeinschaft darauf antworten?

Momentan überwiegen die Aufrufe an «alle Konfliktparteien», sich zu einigen. Mehr als zwei Jahre lang hat dieselbe Weltgemeinschaft tatenlos zugeschaut, wie sich auf dem Südkaukasus eine ethnische Säuberung gigantischen Ausmasses abzeichnete. Die Gefahr ist gross, dass sich die nun mit Gewalt erreichte «friedliche Lösung» der Weltgemeinschaft als neues Desaster auf die Füsse fallen wird.


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3 Meinungen

  • am 3.10.2023 um 11:34 Uhr
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    Der Unterschied zwischen Kosovo und Arzach? Keiner, ausser dass Arzach von keinem Land – nicht mal von Armenien – als unabhängig anerkannt wurde. Ob diese Anerkennung rechtsgültig sind und wirklich neue Verhältnisse bezüglich des territorialen Ausmasses Serbiens schaffen, darf bezweifelt werden.
    Im Übrigen muss man darauf hinweisen, dass sich Aserbaidschan nicht als Rechtsnachfolger der Sowjetrepublik Aserbaidschan sieht, sondern als der Aserbaidschan Demokratischen Republik, die von 1918 bis 1920 bestand. Diese hat(te) Gebietsansprüche gegenüber dem damaligen Armenien, welche Zangezur (die armenische Provinz Sjunik) umfasst. Nun hat zwischen Armenien und Aserbaidschan nie eine Demarkation und Delimitation stattgefunden, die Ansprüche Bakus bestehen also weiter. Ohne Russische Unterstützung dürfte auch die Liquidation von Armenien durch die Türkei und Aserbaidschan selbst nur eine Frage der Zeit sein. Das gäbe der Türkei/NATO auch einen direkten Land-Korridor nach Zentralasien.

  • am 3.10.2023 um 14:04 Uhr
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    Offenbar hat die Autorin übersehen, dass es die armenische Seite während Jahren versäumte, bei den Genfer Verhandlungen, realistische Vorschläge zu präsentieren, die die jetzige Entwicklung verhindert hätten.

  • am 4.10.2023 um 08:35 Uhr
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    Am Beispiel Bergkarabach zeigt sich erneut, dass die moralischen Werte des Westens nichts wert sind. Bei Russland wurden sofort massive Sanktionen erhoben. Diverse europäische Staaten sind dann vermehrt auf Gaslieferungen aus Aserbaidschan umgestiegen.

    Nun tut Aserbaidschan, was Russland getan hat. Man dürfte annehmen, die westliche Wertegemeinschaft würde sich gleich verhalten wie gegenüber Russland. Es geht ja darum, westeliche Werte zu verteidigen. Aber Sanktionen gegen Aserbaidschan bleiben aus. Es werden keien Vermögen beschlagnahmt etc…..

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