MeuteMitMeinung

Arno Frank schreibt Klartext: eine lesenswerte Analyse der Internet-Kommentarspalten © Kein & Aber

Diagnose Schwarmdummheit

Jürg Müller-Muralt /  Ein «Schlachtfeld aus Gedankentrümmern»: die bitterböse Abrechnung mit der debattierfreudigen Netzgemeinde.

Die mediale Einbahnstrasse gehört längst der Vergangenheit an – dem Internet und allem, was damit zusammenhängt, sei Dank. Jede kann mit jedem kommunizieren, in Echtzeit und jederzeit. Das verändert die Rolle der Medien. Was Journalisten und Journalistinnen schreiben, ist, kaum veröffentlicht, zur Kommentierung freigegeben, und die Kommentarfelder der Online-Medien werden reichlich alimentiert. Schliesslich hat jeder eine Meinung, und viele wollen dies auch kundtun. Wer publiziert, ist heute viel unmittelbarer und viel schonungsloser der Kritik ausgesetzt. Er kann den Fluss und die Inhalte der Reaktionen nicht mehr in jenem Masse steuern, wie in der guten alten Print-Leserbriefspalte. Das ist gut so und im Prinzip ein Gewinn für die demokratische Debatte.

Im Prinzip. Denn es gibt auch einige weniger schöne Seiten dieser Entwicklung. Das Problem ist dabei nicht der Dominanzverlust und die schwindende Deutungshoheit der Journalisten und Publizistinnen, sondern die Frage, ob das Publikum mit dem Machtzuwachs auch wirklich etwas anzufangen weiss. Viele dieser Leserbeiträge sind – vor allem im Schutz der Anonymität auch voller Häme, voller Ausfälligkeiten und voller Niedertracht, zwar meinungsstark, aber häufig frei von jedem Faktenwissen. Da drängt nicht selten eine verbale Wut an die Oberfläche, die einem das Fürchten lehren könnte.

Bitterböse Abrechnung

Es ist selbstverständlich für jedes Medium heikel, auf das eigene Publikum loszugehen. Der deutsche Journalist Arno Frank, der unter anderem für «Spiegel Online», «Die Zeit» und die Berliner «taz» (tageszeitung) schreibt, hat es dennoch getan. In einem kritischen, aber auch witzigen Essay knöpft er sich den «extremistischen Leserbriefschreiber» vor, wie er ihn nennt, und geht Shitstorms, Flashmobs und anderen Phänomenen der digitalen Welt nach. Herausgekommen ist eine phasenweise bitterböse Abrechnung mit einem Teil der mitdiskutierenden Leserschaft. Der Titel des kleinen Büchleins ist allein schon eine Provokation: «Meute mit Meinung: Über die Schwarmdummheit» (Angaben siehe unten).

Asymmetrische Gesprächsführung

Gegenstand des Essays ist eben nicht der sozusagen klassische Leserbriefschreiber, der sachlich und vielleicht sogar sach- und sprachkundig und mit einem minimalen Mass an Fairness seinen Standpunkt vertritt, sondern die durch das Internet generierte neue Form der Leserschaft. Einer Leserschaft, die sich an jedem Gedanken, der ihr nicht passt, fürchterlich aufregt, aber gleichzeitig kaum zu einem Dialog fähig ist und sich nach dem Absingen wüster Lieder wieder aus dem Staub macht: «Asymmetrische Gesprächsführung» nennt es Frank.

«Ereignispornografie»

Der Essay liest sich wie die Replik eines Enttäuschten, der sich vom Internet mehr Demokratie durch einen substanziellen Dialog erhofft hat: «Was eine Debatte unter Gleichgestellten sein könnte, verwandelt sich zusehends in ein Schlachtfeld aus Gedankentrümmern und Meinungsmorast.» Die Kommentarfelder der Medien seien nicht selten «öde Scrollgeröllhalden», gefüllt «mit rauchenden Wortwracks und Satzruinen, soweit Auge und Geduld reichen.»

Wie viel er von einem Teil des Publikums hält, zeigt sich schon in der Kapitelfolge: Er arbeitet die problematische Seite der allgemeinen Debattierfreude an den Begriffen Publikum, Masse und Meute ab. Am Beispiel der flüchtigen Bombenleger vom Boston-Marathon zeigt er, wie heikel das Wir-Gefühl des vernetzten Publikums sein kann; sogar ein falscher Verdächtiger wurde vorgeführt: «Investigativer Journalismus 2.0 sozusagen, orchestriert von einem Schwarm interessierter Laien und durchsetzt mit hämischen Seitenhieben auf die ‚konventionellen Medien‘, die nur mit Verspätung reagieren konnten – weil sie erst prüften, was sie sendeten oder schrieben. Wenn das ein Blick in die Zukunft der Branche war, dann ist es ein völliges Desaster, eine von jedem Hauch von Erkenntnis bereinigte Ereignispornografie.»

Schwarmintelligenz als Totalitarismus

Dass Arno Frank von der vielzitierten Schwarmintelligenz so gut wie nichts hält, versteht sich von selbst. Für ihn liegt sie auf dem Niveau der chinesischen Kulturrevolution: «Wenn die Kulturrevolution die letzte grosse revolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts war, dann ist die schleichende digitale Einebnung des Individuums zugunsten einer kollektiven Intelligenz die erste des 21. Jahrhunderts. Ihr Motor ist die Ideologie der Schwarmintelligenz.» Der Autor versteigt sich gar zur Ansicht, dass sich dahinter ein neuer Typ des Totalitarismus verberge: «Es ist eine rüpelhafte Gruppe, die bei ihrer Jagd auf abweichende Andersdenkende zumindest in ihrer verbalen Radikalität den Roten Garden oder der SA in nichts nachsteht.»

Das ist dicke Post. Hier darf man Arno Frank den Vorwurf nicht ersparen, dass er sich in einen Furor hineinsteigert, der jenem ganz ähnlich ist, den er bei einem Teil der Netzgemeinde zu recht kritisiert. Der Unterschied: Er tut dies gut begründet und mit sprachlicher Brillanz.

Etwas sehr viel ausgeblendet

Allerdings blendet er auch sehr viel aus. Man mag zum schillernden Begriff der Schwarmintelligenz stehen wie man will, aber dass die weltweite Vernetzung auch sehr viel bisher unvorstellbar Schöpferisches hervorbringt, steht ausser Zweifel. Nur schon das Online-Lexikon Wikipedia, das Frank mit keinem Wort erwähnt, zeigt, zu welchen Höhen sich die Kooperation im Netz emporschwingen kann.

Arno Franks einseitiger Blick auf die Netzgemeinde hat System: Es ist ein Appell, die problematischen bis gefährlichen Entwicklungen der weltweiten Vernetzung nicht aus den Augen zu verlieren. Der Essay legt den Finger auf einen wunden Punkt, ist hervorragend geschrieben und geeignet, die eine oder andere heftige Reaktion zu provozieren. Aber dann hoffentlich von ähnlicher Qualität wie das Buch selbst.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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6 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 2.12.2013 um 15:02 Uhr
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    Hochaktueller Beitrag. In Dez.-Nr. v. Schweizer Monat, dem «rechtsliberalen» Elite-Magazin mit herausragendem kritischen Interview mit A. Muschg, wird die «digitale Verdummung» bei Erwähnung der Meinungsblogs vierfach artikuliert. Alt Chefredaktor Gottlieb F. Höpli unterstützt den Gedanken des Verzichts auf faktisch anonyme Online-Kommentare, verweist auf grenzenlose Primitivität beim Thema Lampedusa-Flüchtlinge usw. Schriftsteller Daniel Kehlmann mahnt an, dass ein Autor von Ruf bei online-Kommentaren aus Prinzip nicht mitmachen sollte, womit er mich, der ich zum Thema «Parallelbiographie zum Thema Vermessung» lange vor ihm ein weit weniger erfolgreiches Buch geschrieben habe, darauf aufmerksam macht, wie tief ich derzeit gesunken bin. René Zeyer beklagt im SM auf 2 Seiten einen «Shitstorm» im Netz gegen sein Buch «Armut ist Diebstahl", bei welchem provozierenden Titel er wohl auch bei Infosperber mit Polemik rechnen müsste. Obwohl online-Kommentare eigennützig der Leserbindung dienen, sind sie als Trendhinweis z.T. informativ, man sah z.B. realistischer als bei Longchamp den Trend bei Initiativen von Minder bis 1:12 u. Familieninitiative; Blogs zeigen uns, dass es bei Ausländerinitiativen ganz heiss wird und dass Betreuungskosten v. Carlos als Riesenskandal empfunden werden. Neben extremen gibt es aber immer auch geduldige, gut informierte Stimmen, etwa Ruedi Lais bei Tagi-online, der mit 400 Zeichen oft preiswürdige Erklärungen komplexer Sachverhalte zu geben versteht.

  • am 2.12.2013 um 15:55 Uhr
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    Das Büchlein werde ich mir sicherlich kaufen. Tatsache ist schon jetzt aber: Austeilen alleine ändert tatsächlich nichts an der Situation, auch nicht, wenn begründet und brillant geschrieben. – Das Problem ist seit Jahren bekannt, und Publikumsbeschimpfung nützt hier genauso wenig, wie sich einigeln und das Problem ignorieren. – Wir haben technische Instrumente in die Hand bekommen, denen wir geistig noch nicht gewachsen sind.

    Die Verlage müssen Geld in die Hand nehmen, für technische genauso wie für personelle Massnahmen – sprich MEHR ZEIT und MEHR BEWUSSTSEIN: Diese Kommentare sind nicht nur mühsam, sie sind auch ein Barometer dafür, was da auch noch ist, da draussen in der Gesellschaft. Darüber haben wir uns auch Fragen zu stellen, was geht da ab? Woher diese Wut, dieser Hass in gewissen Kommentaren?

    Viele Journalisten und Journalistinnen entziehen sich dieser Diskussion und damit der Verantwortung gerne mit der These, sie täten nur Bericht erstatten, damit sich die Bürgerinnen eine Meinung bilden können und verweisen auf die vielbesungene Eigenverantwortung. Das ist zu kurz gedacht. Hier muss sich wohl im Selbstverständnis von Journalistinnen und Journalisten einiges ändern – und dieser Prozess darf keine weiteren Jahre dauern. – Denn wehe, wenn sie losgelassen, die hechelnde Meute…

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 2.12.2013 um 16:48 Uhr
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    @Charlotte Heer. Die gewöhnlichen Leute=die hechelnde Meute? Genau dies hat Karl Popper als Irrtum zurückgewiesen; im Prinzip werden Meinungen erst in intellektueller, eventuell theologischer Verdichtung als Führungsinstrumente zu gefährlichen Ideologien; insofern haben Intellektuelle, Journalisten, Meinungsführer klar mehr Verantwortung.

    Die Meinung der Wutbürger kann uns nicht zeigen, wo es lang geht; das ist ein Argument gegen die direkte Demokratie. Das «Volk» hat kaum eine Kompetenz in dem, was richtig ist; seine meisterhafte Kompetenz, seine Überlegenheit gegenüber denjenigen, die auf 1000 Seiten erklären können, dass die 70 Millionen für Vasella und die monatlich Fr. 30 000 für Carlos und 80 000 Einwanderungssaldo jährlich angemessen seien, liegt aber im Erfassen des Falschen. Masslose Boni und Abgangsentschädigungen, falsche Sozialpolitik, falsche Asylpolitik, unverhältnismässige Justiz, extrem unverhältnismässige Kosten, Verhöhnung der Selbstverantwortung, Verschwendung, Selbstbedienungsmentalität, völlig undurchschaubare Systeme produzieren die genannte Wut; dort muss man mit besonnener Politik ansetzen, nicht in der Verachtung unzähliger kleiner Leute als «hechelnde Meute".

    Dabei braucht es jedoch eine Riesengeduld beim Hinweis darauf, dass es für die meisten der grossen Probleme keine einfachen Lösungen gibt. Gut aber, dass Frau Heer von «Barometer» spricht, vor Publikumsbeschimpfung warnt und vor sich einigeln. Die Zeichen nicht sehen wollen bringt nichts.

  • am 2.12.2013 um 17:50 Uhr
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    Mit Blick auf die vor mir eingereichten Kommentare scheint es mir – übrigens nicht zum ersten Mal – nötig, zuerst die Begrifflichkeiten sauber zu definieren. Ein Blog oder Weblog ist eine Webseite die aus einer abwärts chronologisch sortierten Liste von Einträgen (sog. Blogposts) besteht. Kommentare hingegen sind Leserreaktionen auf solche Blogposts oder i.e.S. eben auch auf in Online-Medien generell publizierte Beiträge.

    Journalist Frank bezieht sich in seinem Buch ausschliesslich auf letztere und hat zumindest dahingehend recht, dass dort – und hier v.a. bei den Onlineablegern der bestehenden Massenmedien – in weiten Teilen tatsächlich keine Diskussionen, sondern schlicht mehr oder weniger gehalt- und stilvolle Meinungsäusserungen und Verlautbarungen anzutreffen sind. Anregende Diskussionen mit Gehalt hingegen findet man durchaus oft im Netz – aber eben auf Blogs, und zwar auf solchen, auf denen die Autoren auch die Auseinandersetzung mit dem Leser nicht scheuen und sich an den Diskussionen beteiligen. Anders als die Massenmedien ist deren Reichweite natürlich beschränkt, daher ist auch deren Rezeption in der breiten Öffentlichkeit, für die laut Merkel das Internet bekanntlich Neuland ist, gering.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.12.2013 um 12:09 Uhr
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    Danke, Herr Gisiger, also muss es im Kommentar ganz oben heissen: «Online-Kommentare (nicht Blogs) zeigen uns, dass es bei Ausländerinitiativen ganz heiss wird und dass Betreuungskosten von Carlos als Riesenskandal empfunden werden.» Nach meiner Überzeugung muss sich niemand zu gescheit und zu aufgeklärt vorkommen, bei einseitiger Diskussionsführung sowie bei klar unfairen Aussagen bei online-Diskussionen auch mal einen Widerspruch oder wenigstens eine Präzisierung anzubringen. Übrigens ist der Anteil der Teilnehmer an online-Diskussionen, wenigstens etwa beim Tagesanzeiger oder bei der Nordwestschweiz-Aargauer Zeitung, die identifizierbar sind, recht hoch, so dass nicht von einer rein anonymen Diskussion gesprochen werden kann. Persönlich würde ich klassische Stammtische, die durch Rauchverbote zum Teil unterdrückt sind, etwa Vorabendstammtische, vorziehen. Noch seltener sind intellektuelle Stammtische geworden, in Zürich etwa solche, wo einst Hugo Loetscher (+) anzutreffen war, oder im Raum Solothurn Peter Bichsel, der sich kürzlich in Laufenburg nicht nur über die Weltrettungswirkung der Erhöhung des Zigarettenpreises auf Fr. 11.- skeptisch äusserte.

  • am 11.01.2015 um 18:28 Uhr
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    Diagnose Schwarmdummheit OH JA!
    Es liegt aber nicht nur an der Dummheit der Kommentarschreiber. Ja das ist einer! Sehr viele (fast alle) Medien werden komplett manipuliert und zensurieren sogar die Kommentare nach der Vorgabe ihren Brötchengeber. In den gedruckten Zeitungen sind die Kommentare die Leserbriefe, oder eben neu die Lesermails die dann noch auf Papier gedruckt werden. Auch hier muss, da es ja nicht so viel Platz hat, tüchtig einseitig Zensuriert werden. Inzwischen ist ja bekannt das man das Internet komplett überwacht. Also inkl. Journalisten und Kommentarschreiber. Sogar die Kommentare und Lesermails die nicht auf den Bildschirmen oder Papierflächen auftauchen werden gespeichert und ausgewertet. Die Brötchengeber wissen also nun ganz genau ob auch alles ordnungsgemäss zensuriert wird und sie können sogar bei einer Neubesetzung einer Stelle mal nachsehen wie gut der neue Redakteur so ins Konzept passt. Solange das Netz komplett überwachbar ist, muss auch keine neue Diagnose gestellt werden. Das Netz ist halt kaputt und muss mal neu gemacht werden.
    https://enigmabox.net/warum/

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