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Friedhof im Gelände einer psychiatrischen Klinik in England © tedeyta.flickr.cc

Zu langes Warten in der Klinik auf neue Chance (1)

Christian Bernhart /  Seit sie 20 wurde, lebt sie entweder in einer psychiatrischen Klinik oder im Gefängnis: «Die gleichen Patienten kommen und gehen.»

Nach einem Suizidversuch und der Einlieferung in die Psychiatrische Klinik mit 15 Jahren war ihr freiheitliches Leben zu Ende. Die heute 23-Jährige versucht seit Monaten vergeblich, ein Wohnheim zu finden, um im Leben wieder Tritt zu fassen.
Konzentriert mit dunklen wachen Augen, die dem Fragenden nie ausweichen, und mit fester Stimme, schildert die 23-jährige Rosa Meier* wie sie mit 15 Jahren erstmals in die Psychiatrische Klinik Waldau BE eingeliefert wurde und seither ihre Selbstständigkeit nie wieder erlangte. Der jüngste Versuch, den ersten Tritt für ein selbstständiges Leben in einem Wohnheim zu fassen scheiterte erneut. Nun lebt sie seit über vier Monaten wieder in der Klinik. «Mein Ziel ist, eine Wohngemeinschaft zu finden und eine Lehre anzufangen», sehnt sich Meier. Ihr Lebenslauf in Stichworten: «In der Familie erlebte ich Gewalt, landete auf der Gasse, nahm Heroin und Kokain. Eingeliefert wurde ich nach einem Suizid-Versuch und seither bin ich nie mehr wirklich heraus gekommen.»

Über die Art der Gewalt will sie sich nicht äussern, doch die traurige Kindheit warf sie bereits in der Schule aus der Bahn: «In der Realschule realisierten die Lehrer kaum, dass ich nie bei der Sache war.» Sie wurde gemobbt und nahm schon damals zu Heroin und Kokain Zuflucht. «Ich versuchte zwar den Entzug, sah den Sinn in meiner rebellischen Phase jedoch nicht ein. Wozu auch? Die ganze Zeit fühlte ich mich ungeliebt, wertlos.» Nähe hatte sie nur in der Form von Gewalt erlebt. Sie fing an, sich selbst zu hassen, ritzte ihre Arme von oben bis unten mit dem Messer, um etwas zu spüren und rettete sich im Elend in eine Überdosis von Tabletten.

Der Suizidversuch führt zu einer Behandlung in der Klinik. Danach begann sie zuversichtlich mit der Lehre als Metallbauerin. Mit dem Leben in den Wohnheimen kam sie jedoch nicht klar; es fehlten die Kumpel der Gasse. Und es lastete der Druck, bei Fehlverhalten ausgeschlossen zu werden. In Wutausbrüchen baute sie Stress ab, warf Gegenstände zu Boden, zerschlug Stühle zu Kleinholz. Das Leben in fünf Wohnheimen schlug jedes Mal fehl. Auch darum, weil sie Angst hatte, Beziehungen zu knüpfen und Verantwortung zu übernehmen, denn: «Mir war klar, nach dem Heimaustritt stünde ich wieder allein ohne jemanden da.»

Und doch gelang ihr mit 20 eine Beziehung für ein halbes Jahr. Als ihr Freund Schluss machte und ihr fünfter Entzug scheiterte, brach sie auch die Lehre ab. Alles schien sinnlos und wegen Selbstmordgefahr wurde sie in die Klinik Waldau in die Akutabteilung eingeliefert. Fast täglich kam die Polizei, weil sie wütend auf Gegenstände losging und Türen einschlug. Nun erlebte sie auch die Gewalt der Pfleger, die sie zu ihrem Selbstschutz, festbanden. «Damals habe ich allen andern, nur nicht mir selbst die Schuld gegeben», urteilt sie heute selbstkritisch. Sie war ganz unten angelangt und wurde unter fürsorglichem Freiheitsentzug für vier Monate ins Regionalgefängnis Thun platziert. Nach kurzer Rehabilitation und Klinikaufenthalt musste sie erneut ins Gefängnis nach Thun, darauf in die forensische Abteilung des Psychiatriezentrums Rheinau. An diesen Orten irritierte sie das Leben unter Kinderschänder und Vergewaltigern, weil sie ja nicht als Straftäterin verurteilt war.

Sie fühlte sich fehl am Platz, erlebte Schlägereien, Gravierendes sei nicht passiert, denn: «Die Leute sind zugeklatscht mit Medikamenten.» Auch sie erhält Psychopharmaka und wiegt heute infolge der Nebenwirkungen 30 Kilogramm mehr. Seit dem 20. Lebensjahr ist ihre Lebensumgebung die Klinik oder das Gefängnis. «Hier siehst dieselben Patienten, die immer wieder kommen – der typische Drehtüreffekt.» Ein Leben mit wechselnder Therapie: Mal-, Kunst- und Musiktherapien, schnell hinein und wieder hinaus. Dennoch das Gespräch mit ihrer Therapeutin und der betreuende Sozialarbeiterin findet sie wichtig, nur kennt sie inzwischen die meisten Therapieansätze in- und auswendig. «Eigentlich bin ich austherapiert.» Der vorläufig letzte Versuch in einer Wohngemeinschaft scheiterte, weil sie, unbetreut übers Wochenende, zu Drogen griff und einen Absturz hatte. Zwei Tage Forensische Abteilung danach die Rückkehr, so sei es vereinbart gewesen, doch die seit 2013 tätige Kindes- und Erwachsenenbehörde sah es anders. Seit vier Monaten suchen ihre Betreuerinnen nach einem neuen Wohnheim, Rosa Meier* möchte gerne eine Lehre als Tierpflegerin beginnen. Endlich hat sie in Aussicht für ein paar Schnuppertage in einem Wohnheim. In der Skala von 1 gleich miserabel bis zu 10 gleich volles Glück macht sie rückblickend folgende Einstufung: Kindheit bis 4 Jahre eine 3; danach bis zum 14. Lebensjahr eine 2, die Jugendjahre bis 20 eine 5 und von 20 bis heute eine 6. Es geht aufwärts stellt abschliessend mit leiser Hoffnung fest. So sieht es auch die Sozialarbeiterin, die sie in der Klinik seit bald zwei Jahren betreut. Jetzt müsste sie aber dringend Tritt im wirklichen Leben ausserhalb der Klinik fassen können.

Es folgt ein zweiter Teil: «Im Leben Tritt fassen mit heissem Draht zur Klinik»

*Name auf Wunsch der Patientin geändert


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Artikel erschien in der Berner Zeitung.

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3 Meinungen

  • am 2.12.2013 um 21:20 Uhr
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    Martin Buber sagte es schon, zu empfehlen ist sein Buch «Ich und Du", unsere Psychotherapie mit dem Gefälle Autoritätsperson (Welche nichts von ihren eigenen Neurosen preisgeben darf) und Patient/in, welcher unter einer Diagnose steht welche denselben Charakter haben kann wie eine Verurteilung, ist nichts anderes als billige Kaufhaustherapie. Sie wird nie richtig Heilungsprozesse etablieren können, weil die Therapie nicht auf Augenhöhe stattfindet. Eine Bekannte welche 1 Jahr wegen Suizidgefahr in der Klinik war, erzählte mir Jahre später: Die Gespräche mit der Putzfrau waren der Schlüssel, um wieder raus zu gehen, und zu entdecken was immer alle geleugnet haben, nämlich dass ich ein Mensch bin mit Bedürfnissen, und ein recht habe diese zu erfüllen. La Mama nannte sie die Putzfrau, bei ihr konnte sie zum ersten mal weinen und loslassen. Heute sind sie Freundinnen. Die Psychiatrie von oben herab versagt immer, Autoritätshierarchien blockieren, Kompetenzhierarchien funktionieren.

  • am 3.12.2013 um 10:43 Uhr
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    Lieber Herr Gubler, Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Im Besonderen liegt das Problem darin, dass die Pflegenden in den Psychiatrischen Kliniken eine Nähe gar nicht zulassen dürfen. Sie halten sich verbal zurück, obschon in erster Linie die körperliche Nähe verboten ist. Das führt aber dazu, dass Patientinnen, wie ich erfahren musste, sich als Aussätzige vorkommen, weil ihnen kaum jemand getraut, richtig die Hand zu reichen oder einmal anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Es gibt dann offenbar Patienten, die alleine vor sich hin weinen, wo vielleicht eine tröstende Umarmung gefragt wäre. Was auch nötig wäre nach der akuten medizinischen Behandlung ist eine Umgebung, wo die Patienten dank positiven Erfahrungen wieder Tritt fassen könnten. Dazu bräuchten sie eine Bezugsperson und viel Zeit. Für beides will man das teure Geld nicht sprechen, es bleibt bei den teuren Medikamenten

  • am 3.12.2013 um 23:36 Uhr
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    Danke Herr Bernhart. Die Geldmaschine Plutokratie macht vor nichts halt. Schamlos nutzt sie jeden Winkel. Teure Medikamente statt menschliches Mitgefühl, Gehör und Trost. Ich erlebe es an meinem eigenen Leib, als Behinderter mit nur einer Grundversicherung wartet man Monate auf einen Termin, auch bei Lebensbedrohlichen Krankheiten. Wer Privatversichert ist, kommt zuerst dran. Offiziell wird es bestritten, da ich Medizinstudenten und Pädagogen kenne aus dem Spital-Bereich, bekam ich mehrfach bestätigt, dass es nicht nur mir so geht. Unsere Demokratie wird zersetzt bis in den Medizinischen Bereich, vom Raubtierkapitalismus zerfressen, der einer konsequenten Regulierung bedarf. Wo sind die vielen Steuern welche wir jahrelang eingezahlt haben, unser Geld wurde uns geklaut, und es geht weiter so. 100 Schweizer haben über 500 Milliarden welche sie horten. Dort sind unsere Sparmassnahmen gelandet. Bittertraurig, Politik und Wirtschaft sollten endlich getrennt werden.

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