Der Mythos vom «Autoland Schweiz»
Für «NZZ»-Inlandredaktor Thomas Gafafer ist es unbegreiflich, dass das Stimmvolk die Autobahn-Ausbauten abgelehnt hat. In seinem Kommentar schreibt er: «Die Schweiz ist trotz ihrem dichten Bahnnetz ein Autoland. Die Strasse kommt beim Verkehr auf einen Anteil von rund 80 Prozent. Dennoch hat das Stimmvolk am Sonntag mit rund 53 Prozent den Ausbau der Autobahnen abgelehnt.»
«Blick»-Politikredaktor Lucien Fluri bemüht den Begriff «Autoland Schweiz» gleich zwei Mal. Zuerst fragt er: «Wie kam es dazu, dass das Autoland Schweiz Nein zu neuen Autobahnen sagte?»
Dann stellt er fest: «Das Autoland Schweiz sagt Nein zum Ausbau der Autobahnen. Obwohl es eine Qual ist, in Stosszeiten unterwegs zu sein. Obwohl Tausende Gewerbler leiden, die nicht auf Zug und Bus ausweichen können. Es ist unbestritten, dass die Infrastruktur an gewissen Orten am Limit läuft. Es ist ein historischer Entscheid.»
«Nur auf einer Länge von 45 Kilometern»
Auch «Tages-Anzeiger»-Chefredaktorin Raphaela Birrer tut sich schwer mit dem Abstimmungs-Nein. Sie schreibt: «Mit ein Grund für das Nein dürfte auch die in Teilen polemische Kampagne der Gegnerschaft sein.» Und sie hält fest: «Dabei wären nur auf einer Länge von 45 Kilometern Engpässe beseitigt worden.» Immerhin bemüht sie den Begriff «Autoland Schweiz» nicht.
Ganz im Gegensatz zu vielen ihrer Journalistenkollegen. Eine Abfrage in der Schweizer Mediendatenbank ergibt für den Sonntag und den Montag 38 Treffer für den Begriff «Autoland Schweiz». Die «Aargauer Zeitung» und mit ihr eine ganze Reihe anderer Zeitungen aus dem CH-Media-Verlag sind überrascht: «In der Vergangenheit gingen Abstimmungen stets zugunsten des Autos aus. Die Schweiz ist ein Autoland. Statistisch gesehen verfügt heute jeder zweite Einwohner über ein Auto. Vielleicht auch deshalb waren die Befürworter zu siegessicher.»
Kein «Autoland»
Doch wie ist das mit dem «Autoland Schweiz»? Natürlich legen Schweizer und Schweizerinnen viel mehr Personenkilometer im Auto zurück als im Zug, auf dem Velo oder zu Fuss. Aber im internationalen Vergleich ist die Schweiz alles andere als ein «Autoland». Das zeigen die «Verkehrszahlen 2023» (Seite 62) des Verbandes für den öffentlichen Verkehr (Litra). Berücksichtigt sind alle EU-Länder und Norwegen.
Demnach legte die Schweizer Bevölkerung 21,8 Prozent aller Personenkilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Damit ist die Schweiz der Spitzenreiter bei der ÖV-Nutzung. Dahinter folgen Ungarn mit 21,2 und Österreich mit 19,4 Prozent.
Schlusslichter sind Norwegen mit 6,9, Portugal mit 6,8 und Litauen mit bloss 5,8 Prozent.
Wer den Mythos vom «Autoland Schweiz» erfunden hat, lässt sich nicht so leicht eruieren. Klar ist aber, dass er mit der Angewohnheit mancher Journalisten zu tun hat, einfach abzuschreiben, statt zu überprüfen.
Das zeigte sich in den letzten Tagen mehrmals. Zuerst behauptete Bundesrat Albert Rösti, dass «der Nein-Stimmen-Anteil in jenen Regionen, die nicht direkt ein Projekt hatten, sehr hoch war». Dann verbreiteten das viele Medien, ohne auf die tatsächlichen Resultate hinzuweisen. Und schliesslich machten sich manche Röstis Meinung sogar zu eigen.
Anderes Beispiel fürs Abschreiben: «NZZ»-Inlandredaktor David Vonplon schreibt nach dem Abstimmungs-Nein: «Im Autoland Schweiz sind die Nationalstrassen das Rückgrat der Mobilität.» Die Formulierung dürfte vom Auto-Gewerbe-Verband stammen. Dieser schreibt: «Die Bedeutung der Mobilität wird oft unterschätzt: Sie ist das Rückgrat des Wirtschaftslebens. Das Rückgrat der Mobilität wiederum ist das Auto.»
Was – um Himmels Willen – wollen uns Politiker und Medienleute sagen?
Die Abstimmungen und Wahlen vom Wochenende waren hart umkämpft. Erstaunlich deshalb, dass sich Politiker und Medienleute nicht darum bemühen, sich so zu äussern, dass ihre Botschaft verstanden wird – auch ausserhalb akademischer Kreise. Vieles ist nichtssagend, anderes unverständlich. Ein paar Beispiele:
- «Wir waren faktenbasiert unterwegs.» Beat Flach, Nationalrat GLP/AG.
- «Ich bin sehr breit unterwegs.» Marieke Kruit, Kandidatin fürs Berner Stadtpräsidium, SP.
- «Für zukünftige Abstimmungen müssen wir diesen Fokus definitiv schärfen.» Susanne Vincenz Stauffacher, Präsidentin der FDP-Frauen Schweiz.
- «Wir müssen Frauen bei den Werten abholen, die ihnen wichtig sind.» Nochmals Susanne Vincenz.
- «Eine Farbe, die mich persönlich gar nicht abholt.» Pegah Julia Meggendorfer, Süddeutsche Zeitung.
- «Keine andere Stadtberner Partei schafft es, migrantische Personen so gut zu integrieren und damit auch die Wähler*innenschaft abzuholen.» Vier Autoren auf hauptstadt.be.
- «Man muss die Versorgungslandschaft umbauen.» Noëmi Ackermann, Radio SRF.
- «In einem grossen Echoraum wurden die Inputs aller wichtigen Stakeholder berücksichtigt.» Simone Brander, Zürcher Stadträtin, SP.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Für mich ganz einfach : Viele Zeitungen sind von den rechtsbürgerlichen Mehrheiten abhängig.Da schreibt niemand gegen die.
Journalisten (nicht nur die, aber sie besonders auffallend) argumentieren
oft fern von der Stimmung in der Bevölkerung. Abstimmungen sind jedoch nie allein mit rationalen Gründen zu verstehen, sie spiegeln immer auch emotionale Befindlichkeiten. Der Dichte-Stress (keine Bedenken für eine 10 Mio – CH?) wird den Behörden und Politikern, nicht nur den Ärzten und Psychologen, noch manche Projekte verunmöglichen. Das Abstimmungsergebnis: Eine der vielen Ohrfeigen für abgehobenes Regieren ohne Volksnähe!
Der nichtssagende Taxi-Begriff, jemanden «abzuholen» ist m.E. das Unwort des Jahres, ja gar einer ganzen Epoche. Bei solchen (Abstimmungs-) Analysen darf er natürlich nicht fehlen. Ich sorge mich aber, was und wie mir geschieht, wenn sie mich abgeholt haben….. Das hat ja schon oft ein schlimmes Ende genommen.
«Nur auf einer Länge von 45 Kilometern»
Mehr braucht es zu Erklärung der Ablehnung wohl nicht. Warum die Befürworter glaubten, damit die Verkehrsprobleme zu lösen, bleibt schleierhaft. Die täglichen Verkehrsmeldungen sagen etwas anderes.
Schön auch, dass das Ausländer-Mantra von BR Röstis Parteikollegen diesmal nicht griff.
Wenn ich mir den Fuhrpark auf unseren Strassen anschaue, bin ich eigentlich auch ( aber positiv) über das Abstimmungsresultat überrascht.
Zu den Zitaten im Kasten: Diese würden perfekt in eine Sammlung unter dem Titel «Die Meisterschwurbler von Seldwyla» passen 🙂
Ich finde Schweiz Autoland. Beispiel: Grossraum «Motown» alias «Stautown» Chur. Seit Jahren Staus auch auf Hauptachsen wie A13, wodurch der Verkehr in Dörfer und sogar Feldwege überquillt. Ich (lebenslanger Nichtautofahrer) wohne an der Südumfahrung Chur, wo die Luft schlechter als in einer Tiefgarage sein kann, bei Staus, auch bei Rushhours. Schweiz Tourismus listet elf autofreie Orte in der Schweiz, aber null im grössten Kanton. Mein Anliegen (um Moto-Suchtspirale umzukehren): Wohnen-Paradies (Waldbaden) ohne Motoren als Prototyp (Vorbild für die Welt) zwecks Aha-/Heureka- und Domino-Effekt, ein «Nationalpark für Menschen». Prädikat: Pädagogisch besonders wertvoll. In Natur(gesetzen) hat jedes Lebewesen seine individuell benötigte Nische/Substrat/Biotop, nur der Mensch beim Wohnen nicht (Immissionen Lärm und Luftschadstoffe), insbesondere Schwerkranke, Invalide, in den bisherigen undifferenzierten (Durchmischungs-) Wohnblöcken der Ausweglosigkeit.
Ich finde es auch immer wieder lustig wie Journalisten die Abstimmungsresultate interpretieren. Von links bis rechts konnte aus meiner Sicht niemand wirklich überzeugen.
Ich will über eine Mibilitätsstrategie abstimmen anstatt über einzelne Projekte die sowieso nur «Pflästerlipolitik» sind. Wir müssen zuerst wissen wie viele Menschen in der Schweiz leben werden oder dürfen um das Land nicht zu zerstören. Weiter muss dann eruiert werden wie diese Leute Mobil sind. Erst dann kann der Ausbau stattfinden. Vorher ist das ganze Planlos und ist an der Urne immer zum scheitern verurteilt.
Autoland Schweiz? Was ist dann Deutschland? Dampflokomotivenland?
Unglaublich, welchen Blödsinn uns die Journalisten alles vorsetzen. Die Kluft zwischen Wissen und Bildung wird immer grösser.