Kommentar

«Überalterung» ist ein Kampfbegriff gegen den Sozialstaat

Bernd Hontschik © ute schendel

Bernd Hontschik /  Wer die demographischen Veränderungen zur Demontage unserer Sozialsysteme missbraucht, der hat nichts Gutes im Sinn.

Red. Der Autor dieses Gastbeitrags ist Chirurg und Publizist in Frankfurt.

Es gibt verschiedene Lawinen. Es gibt Schneelawinen, Staublawinen, Eislawinen und Schlammlawinen. Lawinen entwickeln bergabstürzend eine ungeheure Gewalt, sind unentrinnbar und können enorme Schäden verursachen. Sie sind Naturkatastrophen. 

Seit einigen Jahren werden wir nun von einer ganz neuen Lawine heimgesucht, die uns – ebenfalls unentrinnbar – überrollt, ohne dass wir uns zuvor in alpines Gelände begeben haben. Das ist die Alterslawine. Man könnte aber auch wirklich erschrecken. Während im Jahr 1950 etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland über 65 Jahre alt waren, zählte man im Jahr 2022 bereits 22 Prozent. Der Anteil hat sich also mehr als verdoppelt, bei einer Steigerung der Lebenserwartung um etwa 15 Jahre. In manchen Prognosen wird bis 2035 mit einer weiteren Verdoppelung gerechnet. Das nennt man den demographischen Wandel. Er hat weitreichende Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft, auf politische Programme, auf die Umwelt, auf den Arbeitsmarkt, auf die Lebensarbeitszeit und auf die Sozialsysteme. 

Vor allem aber hat er ein demagogisches Trommelfeuer eröffnet, das unter der Überschrift der Kostenexplosion daherkommt. In aller Munde ist seit 2004 Frank Schirrmachers «Methusalem-Komplott», wo eine Verschwörung der Alten suggeriert wird, in der Süddeutschen Zeitung war gar von der Gerontokratie die Rede, wo eine heimliche Herrschaft der Alten suggeriert wird, sodass wir uns «ängstlich vor der unaufhaltsamen Alterslawine ducken», auch die Frankfurter Rundschau stimmte in das Konzert ein, «denn mit dem demografischen Wandel rollt auch die Alterslawine unaufhörlich weiter». Die suggestiven Metaphern werden immer derber: Alterslawine, Rentnerschwemme, Vergreisung, sozialverträgliches Frühableben und Gerontokratie gipfeln in dem perfidesten aller Begriffe, der Überalterung.

Die Suche nach «Überalterung» führt bei Google zu weit mehr als einer halben Million Treffer. Wenn man den überalterten Schilfbestand am Neusiedler See oder die überalterte Militärausrüstung der Nato einmal abzieht, bleiben immer noch knapp 500’000 Internetseiten, die sich mit der unentrinnbaren demographischen Katastrophe beschäftigen, die allenthalben Überalterung genannt wird. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Überalterung allerdings als reiner Kampfbegriff. Mit ihm wird der Zusammenbruch unserer solidarischen Sozialsysteme vorausgesagt, der Rentenversicherung, der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung. Es sei mit einer Kostenexplosion zu rechnen. 

In der Krankenversicherung ist es allerdings trotz der längst eingetretenen «Überalterung» mitnichten zu einem Zusammenbruch gekommen. Es ist zwar eine Tatsache, dass die Menschen immer älter werden, aber es ist genauso nachweisbar, dass sich gleichzeitig der Lebensabschnitt des gesunden Altseins wesentlich verlängert hat. Der gesunde Sechzigjährige von 1950 ist der gesunde Achtzigjährige von heute. Die Gesundheitskosten explodieren nicht, denn die weitaus grössten Kosten im Gesundheitswesen verursacht jede und jeder von uns im letzten Lebensjahr. Mit der erhöhten Lebenserwartung, mit der verlängerten Lebenszeit, verschiebt sich dieser relativ grosse Kostenblock also lediglich in ein entsprechend höheres Lebensalter, aber er erhöht sich nicht, geschweige denn, dass er explodiert. 

Die herrschende Anti-Aging-Ideologie, die Altersfeindschaft und die Träume von ewiger Jugend sind dazu geeignet, pharmakologische und ökonomische Interessen zu bedienen. Wer die demographischen Veränderungen zur Demontage unserer Sozialsysteme missbraucht, der hat nichts Gutes im Sinn. Viel wichtiger als die Frage, wie alt wir werden, ist die Frage, wie wir alt werden. Das ist schon eher entscheidend für den Bestand unserer Sozialsysteme. 

Aus diesem Grund schlage ich für die nächste Wahl zum Unwort des Jahres die Überalterung vor, denn das ist ein gewalttätiges, ein diskriminierendes Wort. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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2 Meinungen

  • am 30.01.2024 um 12:20 Uhr
    Permalink

    Dieser Beitrag von Bernd Hontschik ist der wichtigste zu dieser Sache, den ich bisher gelesen habe.
    Ich bin selbst 89, aktiv und gesund. Aber ab und zu beschleicht mich das Gefühl, mein Dasein störe und gefährde das «Sozialsystem». Man weiss ja nicht, was noch kommt und wer bezahlt.
    Das Dilemma: Die immer noch wachsende 9-Milliarden-Menschheit ist nicht bedroht durch die Überalterung, sondern durch das Streben nach noch mehr Wachstum von Geschäftemachern.
    Besteuert uns, wenn wir zu reich sind, verwendet unser Erbe für die AHV, wenn es die Jungen nicht benötigen, hört auf mit unsinnigen und teuren Behandlungen unser Alter zur Tortur werden zu lassen.
    Wir Alten sind bereit, früher abzutreten, wenn unser Dasein stört und nicht mehr finanzierbar sein sollte. Aber dann sollte unser Abgang nicht von Moralgesetzen verhindert werden. Gleiche Rechte wie beim Tierschutz, das genügt. «Überalterung» ist hausgemacht, nicht Schicksal!

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