Patient auf Intensivstation

Selbst in aussichtslosen Situation gebe es grosse Fehlanreize, den unheilbar Kranken noch lukrative Massnahmen angedeihen zu lassen. So könne ein Spital 10'000 anstatt 1000 Euro erwirtschaften. © Depositphotos

Patient extra länger beatmet – 50’000 Euro mehr fürs Spital

Martina Frei /  Ein Film in der ARD-Mediathek zeigt die Auswüchse des DRG-Abrechnungssystems – rund 20 Jahre nachdem es eingeführt wurde.

Fehlanreize beseitigen, Kosten senken und die Spitäler zu wirtschaftlicherem Arbeiten motivieren – das wollte Deutschland mit der Einführung des «DRG»-Abrechnungssystems für Spitäler erreichen. 2004 wurde es dort eingeführt, die Schweiz zog 2012 nach. 

Zu welchen Auswüchsen dieses Abrechnungssystem in Deutschland mittlerweile geführt hat, zeigt der Film «Wie viel Geld bringt ein Frühchen?», der noch bis 5. September 2023 in der «ARD-Mediathek» abrufbar ist. Erstmals ausgestrahlt wurde er im Herbst 2022 kurz vor Mitternacht. 

Die Filmemacherin Claudia Ruby sprach für ihren Film mit Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften aus verschiedensten Abteilungen: «Sie berichten alle dasselbe: Das Abrechnungssystem beeinflusst die Behandlung im Krankenhaus – oft zum Nachteil der Kranken.» 

Ein Beispiel ist das künstliche Beatmen von Kranken auf Intensivstationen. Im Film wird erläutert, dass «Studien zeigen: Je kürzer die Beatmung, desto besser. Die finanzielle Sicht darauf ist aber eine ganz andere. Denn die Abrechnung erfolgt in Stufen: Für die ersten 24 Stunden bekommt die Klinik – in einem vergleichbaren Fall – knapp 11’000 Euro. Wird [der Patient] aber nur eine Stunde länger beatmet, kann die Klinik schon 23’527 Euro abrechnen. […] Weitere dieser Stufen gibt es nach 4 Tagen, nach gut 10 Tagen und nach rund drei Wochen. Für die Klinik sind diese Sprünge verlockend. Denn: Wird die nächste Stufe erreicht, vervielfachen sich die Einnahmen.» 

«Ich muss das so machen, sonst haben wir hier kein Geld mehr, um euch zu bezahlen»

Ruby lässt eine Pflegekraft zu Wort kommen, welche die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Mit der Begründung «es ist nicht mein Wunsch, aber ich muss das so machen, sonst haben wir hier kein Geld mehr, um euch zu bezahlen» habe ein Arzt darauf verzichtet, einen Patienten nach langer Beatmungszeit wieder selbst atmen zu lassen und verschob dies um einen Tag. So erwirtschaftete er 50’000 Euro mehr für seinen Arbeitgeber. 

«Ich glaube, dass es relativ häufig vorkommt, dass Patienten etwas länger beatmet werden als unbedingt nötig, weil es einen starken ökonomischen Anreiz gibt […]»

Thomas Voshaar, Chefarzt der Klinik für Lungenheilkunde am Bethanien-Krankenhaus in Moers, Deutschland

Auch bei alten, unheilbar Kranken in aussichtslosen Situation gebe es grosse Fehlanreize, ihnen noch lukrative Massnahmen angedeihen zu lassen, berichtet ein Palliativmediziner. Da könne es dann um die Frage gehen, ob ein Spital nur 1000 oder aber 10’000 Euro erwirtschafte, wenn es solche Patienten kurz vor ihrem Tod noch auf der Intensivstation maschinell beatme. 

Dass die ökonomischen Anreize stärker wiegen können als eine medizinisch sinnvolle Behandlung, bestätigt im Film Thomas Voshaar, der Chefarzt einer Klinik für Lungenheilkunde: «Ich glaube, dass es relativ häufig vorkommt, dass Patienten etwas länger beatmet werden als unbedingt nötig, weil es einen starken ökonomischen Anreiz gibt […]»

«Ich darf über Missstände in der eigenen Klinik nicht sprechen»

Der Film beleuchtet auch die abrechnungs-bedingten Zustände in der Geburtshilfe. Pro Geburt würden die Krankenhäuser etwa 2000 Euro erhalten, egal, ob sie drei oder 30 Stunden dauere. So könnten Geburtsabteilungen «ins Minus rutschen – egal, wie gut sie wirtschaften», klärt der Film auf und lässt die Frauenärztin Katharina Lüdemann zu Wort kommen: «Ich habe an einer Klinik gearbeitet, wo das tatsächlich in einer Chefarzt-Konferenz Thema war, wo es hiess: ‹Ja, ihre Abteilung bringt ja kein Geld.› Und das ging so weit, dass dann junge Assistenzärzte der anderen Abteilungen sagen durften: ‹Ja, das müssen wir wieder rein schaffen, was die da in der Geburtshilfe an Geld verlieren.›»

Mit finanziellen Problemen kämpfen ebenso die Kinderstationen. «Wenn die Bilanz nicht stimmt und wenn man sagt, es sind nicht genügend Erlöse, die reinkommen, dann kriegt man im Prinzip angekündigt, dass man entweder Schwesternstellen, Arztstellen oder Betten streicht. Und damit hat natürlich jeder Arzt die Befürchtung, dass sein Problem noch grösser wird, wenn er noch weniger personelle Ressourcen zur Verfügung hat», sagt der Professor für Kinderheilkunde Klaus-Peter Zimmer im Film und fährt fort: «Ich darf über Missstände in der eigenen Klinik laut meinem Arbeitsvertrag nicht sprechen. Kein Chefarzt in Deutschland darf das. Sehr viele Kollegen sind dadurch auch enorm eingeschüchtert. Es gibt auch Kollegen, die deswegen auch ihren Job schon verloren haben.»

Frühgeborenes in Isolette
Für sehr kleine Frühgeborene erhält das Spital sehr viel Geld. Das schafft falsche Anreize. Link zum Film hier.

Über 100’000 Euro für ein Frühgeborenes

Ein finanzieller Lichtblick für die Geschäftsführer sind die Abteilungen für frühgeborene Kinder. Sie machen laut Ruby Gewinne. «Über 100’000 Euro» könne ein Spital für die Behandlung von sehr unreifen, kleinen Frühgeborenen erhalten. Fast 170 Frühgeborenen-Abteilungen hat Deutschland – «mehr als in jedem anderen europäischen Land», hat die Filmemacherin herausgefunden. 

Warnende Stimmen schon vor über zehn Jahren

Ein Frühgeborenes mit einem Geburtsgewicht von 550 g – das ergebe «nach unkompliziertem Verlauf von etwa vier Monaten stationärer Behandlung rund 100’000 Euro» für das Spital. «Sind Operationen erforderlich, kommt es zu Komplikationen wie Infektionen oder werden die (Personal-)Kosten niedrig gehalten, erhöhen sich Einnahmen oder Gewinn», schrieb der Professor für Kinderheilkunde Klaus-Peter Zimmer, der auch im Film zu Wort kommt, 2012 im «Deutschen Ärzteblatt«.

Bereits 2010 zeigten deutsche Ärzte in den «Archives of Diseases in Childhood. Fetal and Neonatal Edition» am Beispiel des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen auf, dass sich das Geburtsgewicht der frühgeborenen Kinder mit der Einführung des «DRG»-Abrechnungssystems dort stark veränderte: Aufs Mal wurden signifikant mehr Frühchen mit einem Gewicht von knapp unter 1000 Gramm sowie knapp unter 1500 Gramm geboren. 

999 anstatt 1000 Gramm Geburtsgewicht bedeute fürs Spital eine Einnahme von zusätzlichen 17’092 Euro. Bei 599 anstelle von 600 Gramm gebe es 18’141 Euro extra, rechneten die Autoren des Artikels vor und appellierten an die Politik, die Abrechnung nach Geburtsgewicht fallen zu lassen. «Es besteht die Gefahr, dass Neugeborene sub­optimal versorgt werden, wenn in erster Linie auf das Gewicht und nicht auf die Reife geachtet wird», warnte auch Hans Ulrich Bucher, damaliger Direktor der Klinik für Neonatologie am Zürcher Universitätsspital schon 2011 im «Schweizer Medizin Forum».

Die Frauenärztin Katharina Lüdemann berichtet im Film «Wie viel Geld bringt ein Frühchen?» von einem Arzt auf einer Neugeborenenstation, der seine Kolleginnen ins Bild setzte: «Ihr wisst aber schon, wenn das Kind jetzt mehr als 1500 Gramm wiegt, dann gibt es nur noch halb so viel Geld. Worauf wartet ihr da eigentlich noch?», forderte er sie auf – obwohl er als Arzt wissen musste, dass jeder Tag im Mutterleib ein so kleines Baby im Allgemeinen reifer, kräftiger und widerstandsfähiger macht und jeder Tag ausserhalb des Mutterleibs ein erhöhtes Risiko für Komplikationen birgt, an denen das Kind sterben kann oder die es womöglich lebenslang behindern werden.

«Das tut der Seele weh»

An der Klinik eines privaten Krankenhausträgers kündigten auf einen Schlag die Chefärztin Maike Manz und fünf Oberärztinnen und Oberärzte. «Wenn wir diese Klinik so weitergeführt hätten, Details möchte und darf ich nicht erzählen, […] dann hätte ich als Chefin irgendwann nicht mehr in den Spiegel gucken können. Wir hatten alle – weder ich noch meine Kollegen – Anschlussstellen. Wir haben tatsächlich einfach gekündigt, ohne was Weiteres zu haben, weil wir es einfach dort nicht mehr weiter verantworten konnten.» 

Im Kollegenkreis sei das «immer Thema, dass […] dieser ökonomische Druck so zugenommen hat, dass er einfach immer Einfluss zu nehmen droht oder häufig auch Einfluss nimmt auf die medizinischen Behandlungsentscheidungen. Und das tut der ärztlichen Seele und der pflegerischen […], und der hebammerischen auch, unendlich weh, weil das nicht die Aufgabe ist, für die wir unsere Berufe erlernt haben und ausüben möchten.»

Kein Geschäftsführer würde sagen: «Holen Sie mehr Frühchen auf die Welt. Oder machen Sie mehr Kaiserschnitte. Natürlich, das würden die Menschen nicht tun. Und natürlich stünde ihnen das auch nicht zu, weil sie ja nun mal keine Ärzte sind», sagt Manz. «Aber dieser Druck wird natürlich indirekt zum Beispiel über die Finanzierung der ärztlichen Stellen an die leitenden Ärztinnen und Ärzte weitergegeben.»

Für ihre Interviews in mehreren Medien habe diese ehemalige Chefärztin «einen hohen Preis bezahlt», berichtet der Film. «Ein Jahr lang fand sie keine Stelle, obwohl qualifizierte Ärztinnen dringend gesucht werden.»  

«Behandlung künftig mehr nach medizinischen und weniger nach ökonomischen Kriterien»

Spitäler rechnen über «DRGs» ab. Diese Abkürzung steht für «Diagnosis Related Groups». Die Vorteile der «DRGs» erläuterte Karl Lauterbach, damals Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie der Universität Köln, anno 2001 im «Deutschlandfunk» so: «DRGs […] bezahlen nicht, was gemacht wird, sondern im Prinzip die Diagnose, mit der der Patient ins Krankenhaus kommt; und dann ist es dem Krankenhaus weitgehend überlassen, wie behandelt wird; es wird immer die gleiche Pauschale abgerechnet. Das hat den Vorteil, dass die Pauschale völlig unabhängig davon ist, wie lange der Patient behandelt wird […] wenn nun DRGs eingeführt werden, dann haben die Krankenhäuser den Anreiz, so kurz wie möglich den Aufenthalt zu gestalten.» Lauterbach brachte das DRG-System mit auf den Weg.

Lauterbachs Aussage war von Anfang an eine Irreführung. Denn die eingeführten Fallpauschalen hängen nicht von den Diagnosen bei Eintritt ins Spital ab, wie der Name DRG behauptet und wie es in den USA teilweise tatsächlich der Fall ist, sondern von den effektiv durchgeführten Behandlungen: Je mehr und intensivere Behandlungen, desto höhere Pauschalen locken.

«Die Fallpauschalen setzen Fehlanreize»

«Seit etwa 20 Jahren funktioniert die Krankenhausfinanzierung primär über Fallpauschalen. Das wiederum setzt Kliniken unter enormen ökonomischen Druck. […] Die Fallpauschalen setzen Fehlanreize zur Masse», sagte der hessische Gesundheitsminister Kai Klose Ende März 2023 in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeine Zeitung». 

Im Dezember 2022 – fast zwei Jahrzehnte nach der Einführung des DRG-Systems in Deutschland – schrieb das deutsche Gesundheitsministerium: «Durch das Fallpauschalensystem besteht ein Anreiz, sehr viele – im Zweifelsfall auch unnötige – Operationen oder anderweitige Behandlungen durchzuführen (sog. Leistungs- oder Mengenanreiz), zudem insbesondere die Fallpauschalen abzurechnen, die besonders lukrativ sind – und Fachbereiche, die weniger lukrativ sind, wie die Kinder- und Jugendmedizin, zu schliessen. Darüber hinaus besteht der wirtschaftliche Anreiz, Patientinnen und Patienten so früh wie möglich zu entlassen, um durch die Fallpauschale mehr einzunehmen, als die Behandlung gekostet hat («blutige Entlassung»). Entsprechend hoch ist der wirtschaftliche Druck im System.»

Die Schweiz übernahm das deutsche Spital-Vergütungssystem 2012 weitgehend, obwohl die Niederlande schon sechs Jahre vorher Pauschalen für die ganze Behandlung von der Diagnose bis zur endgültigen Genesung inklusive Reha und Nachbetreuungen einführten. Bei solchen Behandlungspauschalen sind die Interessen der Ärzte und Spitäler sowie der Patientinnen und Patienten identisch, nämlich mit optimalen Behandlungen möglichst schnell wieder gesund zu werden.

Deutschland plant eine Krankenhausreform

Karl Lauterbach, der die DRGs mit auf den Weg gebracht hat, ist aktuell deutscher Gesundheitsminister. Auch ihm ist nun klar, dass das bisherige Abrechnungssystem nicht der Weisheit letzter Schluss war: «Patientinnen und Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass […] medizinische und nicht ökonomische Gründe ihre Behandlung bestimmen. Dafür müssen wir das Fallpauschalen-System überwinden. Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben», bekannte er. Lauterbach kündigte an, dass die deutschen Spitäler – von denen laut Filmemacherin Ruby rund ein Viertel rote Zahlen schreibt – substanziell höhere Vorhaltepauschalen erhalten sollen. Die Kliniken würden dann künftig besser dafür bezahlt, dass sie in Bereitschaft sind, auch wenn sie nicht ausgelastet sind. Bisher müssen solche Fixkosten überwiegend über die Fallpauschalen gedeckt werden.

«Die Behandlung von Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern soll künftig mehr nach medizinischen und weniger nach ökonomischen Kriterien erfolgen», empfiehlt die deutsche «Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung». (mfr/upg)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120125um10_27_01

Gesundheitskosten

Jeden achten Franken geben wir für Gesundheit aus – mit Steuern und Prämien. Der Nutzen ist häufig zweifelhaft.

Blutdruck_messen

Unnütze Abklärungen und Operationen

Behandeln ohne Nutzen ist verbreitet. Manchen Patienten bleiben Nebenwirkungen oder bleibende Schäden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 1.05.2023 um 11:47 Uhr
    Permalink

    Werte Frau Frei, vielen Dank für Ihren Artikel. Ich möchte Sie zu etwas ermuntern, was mir nicht gelang, bzw. wo ich – während eines Jahres – auf stets verschlossene Türen stiess/eine Mauer des Schweigens vorfand. Folgendes: Vor einigen Jahren eröffnete mir ein Insider im Gesundheitswesen (heute in einem Regierungsamt), dass nur durch die Einführung der aus Deutschland übernommenen DRG in der Transplantationsmedizin, die Kosten 2012 – bei etwa gleichen Fallzahlen – um mehr als das Doppelte angestiegen seien. Entsprechende/brauchbare Zahlen dazu habe ich von Krankenkassen, Krankenkassen-Verbänden, von Swiss-DRG, Swiss-Transplant…usw. bis zu Bundesstellen, Preisübewacher, keine Erhalten. Auch die Anrufung des BG über das Öffentlichkeitsprinzip half nicht weiter. Vielleicht haben Sie zu diesem Thema mehr Glück. Im kommenden Jahr stehen wieder deutliche Prämienerhöhungen an: das Thema dürfte also von grossem Interesse sein.
    Dr. med. Peter Meier-Schlittler

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...