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Fällander Tagebuch 27 © cc

Die Härte-Trophy oder sagen wie’s ist

Jürgmeier /  Die Losung der Stunde: Im Kampf gegen rechts – nach rechts rücken. Die Sprache sprechen, die alle verstehen. Augenblick verweile.

31. Dezember 2018

Sagen, wie’s ist oder mehr Härte wagen (*)

Wir müssen. Sagen sie.
Endlich wieder reden.
Wie uns der Schnabel.
Wie es unsere Natur.
Wie der liebe Gott uns.
Damit der Wähler und
Die Frau von der Strasse
Uns wieder verstehen.
Müssen sagen, wie’s ist.
Der Mann – ein Jäger.
Die Frau – ein Rehlein.1
Der Reiche – leistungsstark.2
Die Arme – selber schuld.
Der Flüchtling – ein Verräter
An seinem eigenen Land,
Eine Made in unserem Wohlstand,
Ein, man wird es noch
Sagen dürfen, Einbrecher3, ein
Krimineller, und der Holocaust –
Eine Frage der Meinung.4

Damit wir uns nicht falsch verstehen:
Wir wären lieber gut – anstatt so roh,
Doch die Wähler, die wollen uns nicht so.5

Wir müssen. Sagen sie.
Wieder realistisch werden.
Schluss mit Willkommenskultur,
Sozialromantik, Kuschelrock,
Schmusejustiz und Blümchensex.
Müssen mehr Härte wagen.6
Ohne die Pazifistinnen
Oder andere Gutmenschen
Hätte es kein Auschwitz und
Keinen Zweiten Weltkrieg.
Wer seine Kinder liebt,
Zeigt es mit harter Hand.
Frauen wollen Kerle.
Steuern senken. Renten kürzen.
Dann können wir. Sagen sie.
Endlich denen helfen, die
Es wirklich nötig haben.
Wer uns, wer die Millionen in
Afrika vor Flucht und Schleppern
Schützen will, lässt die paar
Hundert, die schon in den
Booten treiben, absaufen.7
Und Frieden schaffen –
Das geht nur mit Waffen.
Sagen sie und fragen
Den Spiegel an der Wand:
Wer ist die Härteste im –
Wer auf der ganzen Welt.

Damit wir uns nicht falsch verstehen:
Wir wären lieber gut – anstatt so roh,
Doch die Wählerinnen wollen uns nicht so.

Wir müssen. Sagen sie.
Im Kampf gegen die Rechten.
Wieder klare Kante zeigen.
WortfürWort. SatzfürSatz.
SchrittfürSchritt – nach rechts.
Damit der Mann von der Strasse,
Damit die Wählerin sieht:
Wir sind, wie im Märchen vom
Hasen und vom Igel, immer schon
Da, wo die Rechten erst hinwollen.
Sagen sie.

Aber wer, fragen Sie, sind die?
Sind es noch die andern?
Oder sind es schon wir?

15. Januar 2019

Die Frau – ein paar Meter vor mir, auf dem Weg zum See, im Hintergrund der Bachtel mit etwas Schnee und die Glarner Alpen, als stünden sie einer Malerin Modell –, die Frau, ich bin nicht sicher, ist es die Mutter oder die Grossmutter, die droht einem Buben auf dem Kindervelo, sie werde ihm den Kopf ins Wasser, wenn er durch die braune Pfütze fahre. «Anders verstehst du es ja nicht!» Brüllt sie dem Kleinen nach, der sie offensichtlich an diesem Sonnentag schon mehr als einmal genervt und jetzt, im letzten Moment, einen Schlenker macht. Ich stelle mir, wieder einmal, vor, wie eine Mitarbeiterin ihrem nervigen Chef – den sie schon x-mal (x = wieviel?) gebeten, er solle die abgelegte Korrespondenz nicht durcheinanderbringen, der einfach nicht begreifen will, wie man einen Serienbrief eröffnet, und sie immer noch lächelnd herumkommandiert, als wäre sie sein Haussklave –, stelle mir vor, wie sie den vorgesetzten Kopf in den Papierwolf presst. Wenn alles Reden nicht hilft, bleibt nur die Sprache, die alle verstehen. Das gilt auch in unseren zivilisierten Gesellschaften mit ihren europäischen Werten. Allerdings nur für die Kleinsten. Die sicher nicht zurückschlagen. So und so nicht.

30. Januar 2019

Die Hände zittern, als ich (wieder einmal) Spuren früherer Leben auf Papier und Audiokassetten wegwerfe. Abfallsack für Altpapierbündel trage ich zerrissene Briefe, Protokolle und Gesprächsnotizen, Zeitschriften und Zeitungsausschnitte, alte Manuskripte und Aufzeichnungen eigener Radiosendungen aus der Wohnung. Werde ich heute Nacht – wenn alles ruht und alle schlafen – zum Container schleichen, morgen um sieben aus dem Haus rennen, wenn ich den gefrässigen Schlund des Kehrichtwagens höre, oder am Nachmittag mit dem Velo zur Hauptsammelstelle Dübendorf fahren? Um in Abfällen zu wühlen? Weil ich es mit der Angst bekomme, jemand könnte es mir übelnehmen, dass ich ihre Liebes- und Schandbriefe aus alter Zeit oder seine ausgedruckten MailsSMSWhatsapp’s dem Feuer übergeben will. Weil mich die Panik befällt, ich müsste irgendwann doch noch beweisen, dass ein verwendetes Zitat so und nicht anders in der Silvesterausgabe 1999 des Tagesanzeigers, der Wochenzeitung oder der Emma gestanden. Weil ich es doch noch bereuen könnte, dass die Idee zu einer Kurzgeschichte – die mir nie mehr zufallen wird – mit all den Tagebuchnotizen, die mir immerhin digital erhalten bleiben, zerfetzt wird.

Die Erinnerung an Wolfgang Koeppen. Den Schriftsteller, den deutschen, der die «Trilogie des Scheiterns» schrieb. Der sich gegen die Flüchtigkeit der Gedanken und das Vergessen von Einfällen – so jedenfalls hat es sich in meinem Gedächtnis eingenistet – eine kleine Maschine im Kopf wünschte, die allesalles aufzeichnen würde, was er dachte und fühlte. Er erlebte die Zeiten nicht mehr, in denen das Festhalten von allem, dank Bits und Chips, keine Utopie mehr ist, auf Handys ganze Bibliotheken und Fotoarchive Platz haben, Touristinnen und Urlauber mit aktivierten Selfiesticks aus Bergbahnen stolpern oder auf der Zürcher Münsterbrücke unvergessliche Augenblicke – «Verweile doch! du bist so schön!» (Goethe: Faust) – für private Ewigkeiten speichern, Filmchen von kreischenden Kindern oder tanzenden Katzen per MailFacebookInstagram global verbreitet werden und, manchmal, viral gehen. Würde er sich darüber freuen oder sich nach dem guten alten Vergessen sehnen?

Fortwerfen als Befreiung. Von Ballast, der die Sicht verstellt. Von Erfahrungen, die einen tragen und fesseln. Von Papier, das (wieder) gelesen werden will. Von Unvollendetem, das den Pflichtbewussten zur Ordnung ruft und nach Fertigstellung schreit. Eine Befreiung, die (auch) Angst macht. Vor dem Verlust der Gewohnheiten, die zuverlässig erledigen. Vor Schritten ins Unbekannte – ohne die vertrauten Netze.

(*) Erste Notizen in der Silvesternacht 2018, abgeschlossen am 1. März 2019,
als, meteorologisch gesehen, der Frühling begann

1 Vera Dillier im Club SRF «Was Frauen wollen – Was Männer sollen» vom 5.2.2019
2 Tenor der reichen Männer im Club SRF «Steuern sind sie gerecht?» vom 26.2.2019
3 «Wer widerrechtlich in ein Haus einbricht, wird bestraft. Wer widerrechtlich in einen Staat einbricht, kann mit Sozialleistungen und bevorzugter Behandlung rechnen. Das muss aufhören.» (Roger Köppel, zitiert von der Jungen Union München-Nord, auf Facebook, 29.4.2016)
4 David Hesse im Tages-Anzeiger vom 10.5.2018 zur Bestrafung von Holocaustleugner*innen: «…Denn darum geht es: um die Kriminalisierung von Meinung…»
5 In Anlehnung an «Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse»,
Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper
6 Zum Beispiel die deutschen Grünen, taz, 20. Dezember 2018
7 SRF global «Haltung zeigen» mit Anja Reschke, vom 27. Dezember 2018
(nach ca. 12.5 Min.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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3 Meinungen

  • am 7.03.2019 um 15:10 Uhr
    Permalink

    Mir kam beim Lesen das Bild eines Zuges, der abgefahren und unweigerlich immer schneller in ein Unglück rast, in den Sinn. Im Geiste gehe ich in den Speisewagen 1.Klasse und lebe noch mal so richtig gut.

    "WIR müssen wieder Kriege gewinnen.» – Der POTUS Donald Trump öffentlich am 27.02.2017, 38 Tage nach der Machtergreifung des Alt-Right Libertarian Movements.

  • am 7.03.2019 um 15:52 Uhr
    Permalink

    Prima – inkl. Anklang an Martin Niemöller…

  • am 10.03.2019 um 17:13 Uhr
    Permalink

    Gut gemacht, Jürgmeier.

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