Kommentar

kontertext: Das Leben auf dem Lande (2)

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Einigen ist ihr Heimatdorf heilig, andere wollen hier nur hohen Mieten oder dem Lärm entgehen. Ein kontrastreiches Zusammenleben.

Warum ich auf dem Land lebe, wüsste ich nicht wirklich zu sagen. Zu lange ist das schon Teil meines Alltags, eine Art Gewohnheit. Stadtflucht war nicht das Motiv, Landliebe ebensowenig. Geografische Reize mögen eine Rolle gespielt haben, wohl auch Grundstückpreise. Vielleicht ist die Provinz der einzige Ort, wo ein Schweizer sich hierzulande noch als Fremdkörper fühlen kann?

Immer öfter höre ich Weggefährten von der Unerschwinglichkeit des Lebens in den Städten berichten. Stellt man Miet- und Kaufpreise kartografisch dar, zeigen sie die Roadmap einer Vertreibung, die sich ökonomisch tarnt.

Lebt also nur noch halbwegs freiwillig auf dem Land, wer die Preissteigerungen in den Städten nicht mehr mitgehen kann?

Meine Begegnungen vor Ort sprechen eine andere Sprache. Die Gründe sind vielfältig. Viele Einheimische würden auch dann nicht nach Luzern ziehen, wenn sie es sich leisten könnten. Das Dorf versammelt auf engem Raum die unterschiedlichsten Lebenskonzepte. Sie mögen alle mit dem Traum vom ‹naturnäheren› Leben zusammenhängen, sonst aber divergieren sie deutlich. Nur eines verbindet sie: das Heulen der Laubbläser und das ferne Rauschen der Autobahn.

Die Zuzüger, meist in Neubauquartieren, suchen Ruhe und den Farbwechsel von Grün und Beton, oft auch einfach eine Oase für ihre Kleinfamilien. Sie finden, ihre Kinder sollten noch so spielen, wie sie einst gespielt haben: ohne Touchscreen, mit Erde unter den Fingernägeln. Viele Einheimische dagegen, meist im Dorfkern angesiedelt, sind hier geblieben, weil sie keine Alternative sehen – sie suchen die Nähe von Menschen, mit denen sie die Schulbank gedrückt haben. Viele von ihnen haben eine Liegenschaft aus Familienbesitz übernommen. Die Nachbarschaft der Eltern ist wichtig, ohne kostengünstige Babysitter ist Kinderkriegen eine Plackerei.

Die Angehörigen einer dritten Gruppe sind eher zufällig hier. Man könnte sie Wirtschaftsflüchtlinge nennen, doch anders als die Menschen aus Sahelländern sind sie hier willkommen – jedenfalls solange sie brav ihre Steuern zahlen und sich nicht daran stossen, dass Dorfpolitik weder durchschaubar noch wirklich zu beeinflussen ist. Was Bau- und Gartenstile angeht, scheinen sie wenig wählerisch zu sein. Hauptsache, sie finden bezahlbaren Wohnraum, schnelles Internet, ein Fitnesscenter in der Nähe und einen Ort, wo ihr Wagen über Nacht vor Neidern und Nagern sicher ist. Sie sind oft am Dorfrand domiziliert, in Überbauungen, deren grosse Fensterflächen ein gleichförmiges Carré-Muster durch die Landschaft ziehen. Der Wald ist nah, doch sie suchen kaum je sein Grün. Sie sind fast jedes Wochenende in den Alpen oder zum Shopping in europäischen Metropolen.

Zungenschlag

Und was nehmen diese unterschiedlichen Gruppen voneinander wahr? Quartiervereine gibt es keine, dafür sind die Ortsteile zu klein. An der Gemeindeversammlung ist der Altersdurchschnitt hoch. Hier sieht man vor allem Menschen, die sich auf den Apéro mit Gleichgesinnten freuen. Man kennt sich seit Jahrzehnten und tauscht beim hiesigen Wein ein paar Nettigkeiten aus. Wenn die Behörde über die neuesten Beschlüsse referiert, ergreift man nur das Wort, um sich über unnötige Ausgaben zu beschweren. Man trauert der Sparpolitik vergangener Zeiten nach. Die autochthonen Dialekte, die nun hörbar werden, weisen ihre Sprecher einzelnen Talschaften, sogar Talseiten zu. Sie dürfen als Kernelement der Gruppenzugehörigkeit verstanden werden. Für das ungeschulte Ohr mögen sie alle gleich klingen, doch entscheidend sind die feinen Unterschiede.

Ist mangels einer gemeinsamen Sprache das Gespräch schwierig, überwinden Gerüche alle Hürden. Sie durchdringen die dichtesten Hecken. Schwaden vom Grill etwa oder der heisse Atem des Dampfabzugs, kleine Transpirations- und Kosmetikwolken aus gelüfteten Nasszellen. Der feierabendliche Smalltalk am Gartenzaun verwedelt Aerosole und Pheromone und dreht sich um das Wetter oder den Entsorgungskalender. Wer will, kann am Wochenende von Balkonen und Terrassen auch das Gelächter hören, wenn der Supermarkt-Rioja die Zungen lockert. Abgesehen davon verschwindet alles Private Abend für Abend hinter elektrisch bewegten Garagentoren. Die gravitätische Langsamkeit, mit der sie sich über den einfahrenden Wagen senken, läutet das Wochenende ein.

In seinem Buch Im Hause enden die Geschichten schreibt der Schriftsteller Paul Nizon 1971: «Dies ist dein Haus. Da musst du hinein. Da verschwindest du abends: geduckt, falschblickend, neidisch und hasserfüllt. Deine Gerüche, dein Zwielicht, deine Umstände. Hinein ins Haus, das dich erwartet.»

So giftig muss es im Zeitalter der freundlichen Gleichgültigkeit nicht mehr formuliert werden. Längst ist die Idealform des Aneinander-Vorbeilebens gefunden: Toleranz durch Desinteresse. Das Internet verbindet uns, wenn wir es wollen, und lässt uns, wo wir sind, wenn wir unser Steckenpferdchen satteln möchten. Im virtuellen Raum spielt Nachbarschaft eine marginale Rolle.

Der verspätete Zug aus Zürich

Sieht man sich vielleicht in der Beiz? Es sind nur noch wenige verblieben, die Pandemie hat ganze Arbeit geleistet. Die Kalabresen, Ende der 1950er-Jahre für den Kraftwerksbau hergekommen, haben im Café Rohrspatz ihre feste Zeit zwischen neun und elf. Längst sind sie pensioniert – wer jetzt noch hier ist, hat seine Rückkehrpläne begraben. Viele haben sich in Eigenheimen eingerichtet, züchten Bohnen und Tomaten oder sammeln Porzellan. Und die Männer sehen sich im Rohrspatz, um ihren Frauen nicht auf die Nerven zu gehen. Nach ihnen kommen die Fernfahrer. Sie verwickeln die Serviererin gern in Gespräche und essen mit langsamen, schaufelnden Bewegungen. Der Nachmittag gehört dann den Hausfrauen – ja, die gibt es noch hier. Nachdem der Haushalt geregelt und das Nachtessen vorbereitet ist, gönnen sie sich einen Schwatz. Kurz vor Lokalschluss um 18 Uhr, wenn diese Kaffeerunden sich aufgelöst haben, kann man manchmal ein paar Pendler über ihren Bieren hängen sehen, nachdem ein Bus den verspäteten Zug aus Zürich nicht abwarten konnte.

Wer Ende Nachmittag mit seinem Hund durch die Quartiere geht, begegnet kaum Zuzügern. Es ist Feierabend, sie sind auf dem Heimweg von Tiefgarage zu Tiefgarage – jetzt wohl noch im Stau vor einem der Tunnelportale. Ab und zu rennt ein Kind vorbei, als vermisse es den heimischen Computer. Zu dieser Zeit sind die Strassen oft derart entvölkert, dass der Gassigeher schon erwog, hier einen Film über Europa nach dem dritten Weltkrieg zu drehen.

Ja, da und dort mag er Einheimische sehen, Rentner vor allem. Sie stehen vor Garageneinfahrten, die Köpfe vornüber geneigt. Der Fremde hat seine Lektion gelernt – er weiss, sie erkennen einander am Dialekt. Mit einigen hat er schon gesprochen und erfahren, wie sie zur Moderne stehen. Hört er sie über Politisches reden, fragt er sich manchmal, ob das Frauenstimmrecht die letzte Umwälzung sei, die sie unbeschadet mitvollzogen haben. Errungenschaften, die bei ihnen auf Gegenliebe stossen, sind auffallend oft technischer Natur: der Mähdrescher mit kühlbarer Führerkabine; gut formbare Baustoffe wie Beton, Eternit, Isolierschaum oder MDF; Motorisierung im Allgemeinen; auch Unkrautvertilger und Air condition als Rezept gegen steigende Temperaturen.

Reden sie überhaupt mit Leuten, die andere Dialekte sprechen? Zur Not ja, sie haben es gelernt. Doch eine Sprachbarriere gibt es durchaus – nur wer mit dem örtlichen Zungenschlag aufgewachsen ist, kann ihn richtig sprechen. Erlernbar ist er kaum. Nicht nur muss er phonetisch korrekt geformt werden, auch einschlägige Gebärden sollen ihn begleiten – eine halb verhärmte, halb abgeklärte Art, die Mundwinkel herabzuziehen und durch zugekniffene Augen zu schauen, gehört dazu; auch präzis bemessene Abwinkgebärden, mit denen Vorbeigehende zu grüssen sind.

Am Hund interessiert zuerst der Gehorsam, dann erst Alter, Name oder Rasse. Ordnung muss sein. Nähert sich der Hundefreund einer dieser Runden, drehen sich ihm alle Köpfe zu. Ist er aber nah genug herangerückt, um als Zuzüger erkannt zu werden (vermutlich am Gang), drehen die Köpfe sich zurück, und sein Gruss geht ins Leere. Nur jene im Kreis, auf die er scheinbar direkt zukommt, deuten mit einem verhaltenen Nicken an, dass sie ihn bemerkt haben – so als möchten sie vor den anderen nicht als Weichei dastehen, das jeden Dahergelaufenen grüsst, ohne seine dialektale Eignung geprüft zu haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

2 Meinungen

  • am 21.09.2023 um 18:12 Uhr
    Permalink

    Auch ich lebe seit rund 30 Jahren auf dem Lande und teile die meisten Beobachtungen mit Michel Mettler. In jungen Jahren war ich links-politisch aktiv, nun würde es mir nicht einfallen, mich ins Dorfleben einzumischen: Der Commonsense schliesst – vor allem wenn finanzielle Interessen auf dem Spiel stehen – andere Meinungen und Neuerungen aus. Mit Einzelnen kann man jederzeit und gut reden.
    Was mir auffällt: Dorfbewohner sind Maschinen-Menschen; für jede Tätigkeit im und ums Haus hat man eine Maschine (Rasenmäher, Laubbläser etc.). Selbstverständlich hat jeder Haushalt mindestens zwei Autos plus motorisierte Zweiräder. Wenn dann so eine Maschine stillsteht, ist ein Mensch wie ich, der sich vor allem mit Büchern und Ideen auskennt, aufgeschmissen. Das Restaurant und die Post gibt es nicht mehr. Postalisches ist dem VOLG-Laden angegliedert. Die nächsten Supermärkte (Migros, Coop, Aldi) sind nur wenige Autokilometer entfernt. Die Hypothek aufs Haus ein Bruchteil einer Wohnungsmiete.

  • am 22.09.2023 um 15:04 Uhr
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    Feine Beobachtungen, immer wieder ein Genuss zu lesen. Sich einem Hund anschliessen erscheint manchmal wirklich als der einzige Trost. Die Frage nach dem Alter meines Hundes quittiere ich jeweils mit: Und wie ist ihr Alter?

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