Kommentar

kontertext: Das Leben auf dem Lande (1)

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Seit Jahrzehnten lässt der Traum vom Leben im Grünen spannungsreiche und farbenfrohe dörfliche Zwangsgemeinschaften entstehen.

Nach sechs Monaten in London bietet sich mir die Möglichkeit, als Fremdling mein altes Leben von aussen zu betrachten. Bis es wieder zur Gewohnheit geworden ist, will ich daran etwas Ethnologie du proche betreiben. Das ländliche Dasein in der Schweiz: Kann man es provinziell nennen? So wie die Provinz sich in grösseren Ländern präsentiert, existiert das Entlegene im Schweizer Mittelland kaum. Die Distanzen sind zu klein für ein wirklich abgeschiedenes Leben. Wer vierzig Zugminuten von Zürich lebt, kann kaum so aus der Zeit fallen wie jemand in der France profonde.

Wie also leben dörfliche Zwangsgemeinschaften in der Schweiz den Traum vom «Leben im Grünen», diesen Kulturland verschlingenden Nachtmahr der Siedlungsplanung? – Zuerst steht der Schweizer Hillbilly vor einem Versorgungsproblem. Wie soll er seinen täglichen Bedarf decken, nachdem die Nahversorger eingegangen sind? Und wie führt er sich geistige Inhalte zu? Über Netflix und die SRG fällt dies schwer, und selber eine Oper zu bauen, wie Fitzcarraldo es im gleichnamigen Film von Werner Herzog im Amazonas tut, wäre im Berner Jura schwierig.

Wohnglück

Ich betrachte meine Nachbarn: Einmal wöchentlich räumen sie feierlich den Kofferraum ihres Wagens leer und rüsten sich für den Grosseinkauf. Die Supermärkte in der Region sind für die motorisierte Anfahrt konzipiert, ihre Sortimente derart breit, dass man denken könnte, die Eingeborenen scheuten vor der kleinteiligen Angebotswelt der Zentren zurück und suchten hier eine Art Komplettversorgung, wie es die Muttermilch für Säuglinge ist.

Viele Shoppingcenter verfügen über einen angegliederten Baumarkt mit Gartenabteilung. Do it yourself ist grossgeschrieben im Tal – kaum jemand wird hier mehr belächelt als der Mann mit zwei linken Händen (allenfalls die Frau, die nicht kochen kann). Bei meinen Nachbarn gleicht der Grosseinkauf einem religiösen Ritual. Dass die Kinder sich auf das Immergleiche freuen, dafür sorgt der anschliessende Besuch im Burger King. Offenbar befriedigt er Gelüste, die nur beim Durchstreifen weitläufiger Regalwelten entstehen.

Fast ebenso pünktlich, wie die Nachbarn losgefahren sind, sehe ich sie nach zwei Stunden mit einer besonderen Gesichtsfarbe heimkehren. Ich will es die «Konsumröte» nennen. Jung wie Alt wirken aufgedreht, als hätte der Einkauf ihren Stoffwechsel angekurbelt. Beladen mit Tüten und Kühlboxen, manchmal auch mit einem neuen Gerät, eilen sie zwischen Haus und Wagen hin und her. Die Neuanschaffung steckt in einem übergrossen Karton, der unter lauten Zurufen ins Haus bugsiert wird. Dann nimmt man das Erworbene in Betrieb und lädt zur Feier etwas Verwandtschaft ein. Haushaltgeräte, teils hochspezialisiert, haben Konjunktur im Dorf. Das lokale Gewerbe wirbt dafür, Installation inklusive. Doch mir fällt auf, dass viele Ansässige das Selbstgekaufte und Selbstmontierte bevorzugen. Statt tatenlos zuzusehen, wie eine Fachperson sich über ihre Armaturen beugt, legen sie selber Hand an. Sie studieren YouTube-Tutorials und die mitgelieferten Anleitungen, um dann fluchend und hämmernd an ihrem Wohnglück zu arbeiten. Sollten alle Stricke reissen, sind da noch immer die Verwandten mit ihren Talenten. Fast alle leben sie im Tal – sie helfen ebenso gern, wie sie sich helfen lassen. Das versteht man hier unter Solidargemeinschaft.

Leergefischt

Und die geistige Grundversorgung? Vom Inhalt ihres Briefkastens zu schliessen, sind meine Nachbarn zufrieden mit dem katholisch gefärbten Lokalblatt, das Agenturmeldungen, politische und kirchliche Mitteilungen, Berichte vom Abschneiden örtlicher Vereine am Jodlerfest, Todesanzeigen, Lokalsport und Fotos von zwischengelandeten Zugvögeln traulich vereint.

Ganz glücklich könnte ich mit diesem Mix nicht werden. Zwar hat hinsichtlich Wissens- und Informationsversorgung das Internet viel bewirkt – ich kann online Zeitung lesen, Podcasts hören und Newsportale besuchen, im Cyberspace liegt das Bayreuth der Opernliebhaber um die Ecke –, doch die Strasse bleibt ein Problem: Wären in Städten Menschen anzutreffen, zufällig ebenso wie gewollt, so sind die Quartiere hier tagsüber derart leergefegt, als hätte man den atomaren Erstschlag überlebt. Begegnungen, die einen aus der Reserve locken, bleiben die Ausnahme.

Die Versorgungsfrage hat sich schon kurz nach dem Auspacken der Bibliothek aufgedrängt. In den Jahren zuvor hatte ich mir angewöhnt, ohne Auto zu leben. Doch im Dorfkern gibt es neben ein paar Kneipen, dem stillgelegten Dorfbrunnen, zwei Versicherungsagenturen, einem Damencoiffeur und zwei Bancomaten nur noch das Bibelpanorama der Methodisten. Viel mehr als etwas Urdinkel und griechischer Honig ist dort nicht zu holen – manchmal hoffnungsgrüne Oliven aus dem Heiligen Land und bei der Kasse zahnschonende Bonbons für die Kleinen.

Kein Geschäft, das noch schliessen könnte: Das Ladensterben ist vorbei, selbst der Begriff gehört der Vergangenheit an. Von den Pontonieren am Ortsrand ist nur Essbares zu erwarten, wenn sie ihren Fischschmaus im Clubhaus abhalten. Doch da, in Sichtweite des Flusses, wird nichts Selbstgefangenes aufgetischt, sondern Filets vom Supermarkt. Seit Jahrzehnten ist der Fluss leergefischt, alle Renaturierungsversuche sind am abgelagerten Klärschlamm gescheitert.

Beim Anblick des Marktfleckens mit seinen historischen Häuserreihen, Wirtshausschildern und der heiligen Verena über der Brunnenschale hatte ich einst auf einen Wochenmarkt gehofft. Den aber gibt es nicht mehr, seit die Discounter um Marktanteile kämpfen im Tal: Wer seinen Haushalt ohne fahrbaren Untersatz bestreiten will, dessen Einkauf gleicht einer Expedition. Er tankt die E-Bike-Batterie auf, greift sich den grössten Rucksack im Haus und radelt auf der Kantonsstrasse, umbraust von Vierzigtönnern, eine halbe Stunde an Sport-Outlets, Lagerhallen, Müllverwertern und LKW-Terminals vorbei. Veloständer sucht man beim Einkaufszentrum vergebens. Nicht, dass das Geld dafür fehlte, nur rechnet hier keine Menschenseele mit Unentwegten, die den Strapazen der Anfahrt trotzen.

In den Hallen der Grossverteiler herrscht so grelles Licht, dass viele vergessen, ihre Sonnenbrillen abzunehmen. Im Sommer ist die Luft angenehm kühl. Die Fleischtheke macht Eindruck. Sie thront in der Mitte, kunstvoll ausgeleuchtet. Das Brummen der Kühlaggregate stimmt auch Vegetarier auf den Grundton einer vormodernen Kalorienversorgung ein. Obwohl da noch die Bio-Ecke ist. Sie liegt so abgerückt wie in den einstigen Videotheken die Porno-Abteilung: Welke Salatblätter und schrumplige Heidelbeeren zeugen von mangelnder Nachfrage. Das Sortiment ist schmal – wer sich davon ernähren will, muss wohl täglich Peperoni essen.

Obertongesang

Seit die Pandemie den Versandhandel gestärkt hat, könnte ich mir Frischprodukte senden lassen. Ich könnte Hofläden auskundschaften oder örtliche Einkaufsgemeinschaften bilden. Versuche dieser Art sind alle gescheitert. Nicht ohne Grund sind die meisten Zuzüger hier in Eigenheimen untergekommen. Beruflich eingespannt, suchen sie die abendliche Ruhe in ihrem Garten. Sie möchten Privatheit erleben, von Hecken abgeschirmt und vor Ansprüchen geschützt. Im Beruf sind sie oft genug in Grossraumbüros gepfercht, überhäuft mit Mails und Memoranden. Zuhause möchten sie nur eines: für eine Weile diesem hochgetakteten Rhythmus entfliehen. Wer ihnen jetzt mit Einkaufspolitik, Car-Sharing und Quartieranlässen kommt, hat einen schweren Stand. So kauft bis auf weiteres jede Partei auf eigene Faust ein, wie es die Devise one man one car nahezulegen scheint, wenn beim Abendspaziergang der Blick von Garagentor zu Garagentor hüpft, ein jedes die Pforte zu einem häuslichen Paralleluniversum.

Gestern habe ich mir überlegt, meiner schwachen Konstitution zum Trotz dem Pontonierfahrverein beizutreten. Heute morgen mutet diese Idee abwegig an. Zwar interessiert mich die Redeweise der Pontoniere sosehr wie ihre Vereinslieder; doch das Stacheln und Anlanden nicht wirklich.

In East London gibt es in fast allen Quartieren sogenannte Greens, parkartige Grünflächen zwischen den Wohnanlagen, durch Radwege erschlossen. Hier werden Wochenmärkte abgehalten, Bauernbetriebe vom Stadtrand bieten ihre Produkte an, und im Freiluft-Bistro erholt sich das Auge vom Schwarz-Grau der Ausfallstrassen. In diesen Naturoasen, geprägt von Duft- und Diversitätsbewusstsein, haben sich Quartierkollektive eingerichtet, die City Farms. Es grünt vieltönig in ihren Rabatten, der englische Rasen gehört der Vergangenheit an. Kleintiere grasen, man bietet erdverbundene Kinderbetreuung und Kurse an, von Töpfern bis Obertongesang.

In dem Dorf, wo ich nach sechs Monaten zwischen Green und Finanzdistrikt wieder lebe, inklusive Garage und Kabelbuchse für lineares Fernsehen, wäre mit Obertongesang kaum ein Blumentopf zu gewinnen. Hier ist das uniforme Grün der Rasenflächen und Kirschlorbeerhecken gefragt. Warum das so ist und wie kontrastreich der Schweizer Traum vom Landleben auf den Heimkehrer trotz allem wirkt, versucht die nächste Folge dieses Berichts zu ergründen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).
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Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).