Kommentar

kontertext: Als Papst im Friseursalon

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Je dichter die Tweets hereinprasseln, desto kostbarer wird das Schweigen. Erster Versuch über eine vernachlässigte Kulturtechnik.

Selten präsentiert sich das Leben so einfach wie beim Coiffeur. Ich betrete den Salon und sehe zwei Alternativen vor mir. Ich kann mich auf einen Schwatz mit der Friseurin einlassen – oder schweigend das Schwinden meines Haarkleids verfolgen. Wie entlastend klar ist diese Situation, verglichen mit den Ambivalenzen, die der multioptionelle Alltag an mich heranträgt: Zwischen Waschbecken und Spiegel finde ich mich in einer simplen Ja-Nein-Situation, die mir ausserhalb des Salons oft fehlt.

Soll ich also die Sitzung in eine Freisprechübung zu Themen wie Wetter, Verkehr, Urlaub oder Benzinpreis verwandeln? Oder soll ich mich gegen alle Anfechtungen der Redseligkeit mit Stille wappnen, verkapselt in ein Schweigen, auf das ich als zahlender Kunde ein ebensolches Recht habe wie auf die Verwirklichung meiner unzeitgemässen Frisurideen: keine Stufen, kein Gel, keine Mèche?

Mit der Plauder-Variante befände ich mich in der Standardsituation, gleichsam im coiffistischen Mainstream, wie ein schneller Blick nach links und rechts zeigt: Allenthalben geht da der Smalltalk zwischen Haar und Schere vonstatten, ein lispelndes Schnipp-Schnapp der Silben, das umso eingespielter wirkt, je regelmässiger wohl der Salonbesuch ist.

Diese Einvernehmlichkeit erinnert an die Stammgäste meines bevorzugten Lokals. Sie sind per Du mit allen Servierpersonen und scheinen beinahe in der Schankstube zu leben. Man begrüsst sie mit Namen, man weiss um ihre Gewohnheiten, sie brauchen sich nur hinzusetzen, und schon wird das Übliche vor sie hingestellt.

Ein Papst bei der Weihung

Wähle ich die Option Schweigen und entferne mich damit vom Common Sense im Salon, bin ich gut beraten, das Angebot einer mit dem Zeitschriftenwägelchen an mich herantretenden Lehrtochter anzunehmen. Sie lässt mich aus einer Handvoll Illustrierten wählen. Weise ich auch diesen Ausweg zurück, hiermit den Elan einer Nachwuchskraft brüskierend, spricht viel dafür, dass ich für eine halbe Stunde zum Salongespenst werde, das mich aus dem Spiegel unheilschwanger fixiert, während die Friseurin als mundtoter Schutzengel um mich herumgeht, dasjenige bewirtschaftend, was die Jahre von meiner Haarespracht übriggelassen haben.

Mein Schweigen, ohnehin mit einem Zug ins Wehrhafte ausgestattet, da ich jederzeit auf unverhoffte Ansprachen gefasst sein muss, bekommt nun etwas Bohrendes, so wie der ausforschende Blick, mit dem ich mich selbst und das Tun der mir zugewiesenen Fachkraft beäuge. Ich sitze da wie ein Papst bei der Weihung, ein Würdenträger, der zusätzlich zum Frisiermantel und der Krepp-Halskrause einen gravitätisch dunklen Umhang des Schweigens trägt. Dieser verleiht mir eine Aura der Unnahbarkeit. Mein Schweigen wirkt jetzt unsinnig verbarrikadiert, im Gegensatz zum Tun der übrigen Kundschaft, die sich zwanglos unterhält rundum, durchaus auch über kosmetikfremde Themen.

Nach Herzenslust schweigen

Täusche ich mich, oder sieht man schon tuschelnd zu mir herüber? Oh ja, die Omertà, für die ich mich entschieden habe, passt nicht an diesen Ort. Aber nun kann ich nicht mehr zurück. Würde ich jetzt ein paar unverfängliche Worte an meine Haarpflegerin richten, wirkte das willkürlich und gezwungen, sogar übergriffig womöglich.

Je genauer ich hinhöre, desto leiser scheint das Wispern an den Stühlen zu sein, und umso mehr frage ich mich, was man von mir sagen wird, nachdem ich diese Stätte der Selbstauffrischung verlassen habe. In diesem Augenblick taucht vor meinem geistigen Auge ein Wunschtraum auf. Er verdrängt wohltuend mein Ebenbild, das im Spiegel Federn lässt, während die Schere es als verirrter Kolibri umflirrt: Mein Wunschtraum wäre jene Friseurin, die mit meinem Ruhebedürfnis so rundum vertraut ist wie die Bedienung mit ihren Stammgästen. Sie kennt meine Aversion gegen Coiffeurstuhlgeschwätz und Hairstyling-Extravaganzen und schweigt deshalb gelassen, statt immer neue Smalltalk-Anläufe zu nehmen, die so erbärmlich enden müssten wie das Häufchen Haupthaar um meinen Stuhl.

Hat meine Wunschfriseurin ein bestimmtes Aussehen, einen standesgemässen IQ, ein charakteristisches Sternzeichen? Nein, sie unterscheidet sich nur durch eine einzige Eigenschaft von anderen Mitgliedern ihrer Zunft: Sie ist erleichtert, darf sie in meiner Nähe nach Herzenslust schweigen, froh, nicht zum zehnten Mal von ihren verregneten Skiferien im Prättigau erzählen zu müssen und davon, dass auch ihre Mutter neulich eine Trennkostdiät versucht habe. Stattdessen darf sie frank und frei ihren Gedanken nachhängen, statt immer neue rhetorische Versuchsballons abzusetzen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten in unserer beider Leben, während die Schere wie selbsttätig ihr Werk tut.

Lauter leibliche Dinge

Diese Schere kennt mich inzwischen fast besser als ich selbst. Sie kennt meine Wunschfrisur, meine sämtlichen Warzen, meinen Haarausfall, den Verlauf meiner Fontanellen, den Wirbel links von der Schädelmitte und die Hauttrockenheit über den Schläfen – lauter leibliche Dinge, über die kein Profi ein Sterbenswort verliert.

Auch meinen bevorzugten Modus operandi kennt sie aus dem Effeff: das kopfhautentspannende, haarwurzelregenerierende Schweigen, das zwischendurch wohltuend im Surren eines Trimmgeräts verschwindet – oder eines Föns, der aus dem Hintergrund lautstark den Salonvorsitz reklamiert, während unter den Hauben einige Haarkunstwerke ihrer Vollendung harren.

Aus all diesen Gründen braucht meine Wunschfriseurin nichts weiter zu tun, als mit etwas Wohlgefallen das Werk der Schere in ihren Fingern und die Frisur-Genese an meinem Kopf zu verfolgen, während ich, von der Brille befreit, einen temporären Dispens von meiner Selbstwahrnehmung geniesse, eine regelrechte Ich-Blindheit, weil dort vorn im Spiegel nur ein wohltuend diffuser, gleichsam sich ausschweigender Umriss meiner Person erscheint.

Weiterführende Informationen

  • Demnächst erscheint der zweite Teil dieser Reihe zum Schweigen: Vom Absingen der Hymne bei Länderspielen.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

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