Bildschirmfoto20120208um12_18_32

Das Initiativ-Komitee von «MeinOE» in Österreich sammelt Unterschriften für eine Demokratie-Reform © MeinOE

Direkte Demokratie – populär und ambivalent

Jürg Müller-Muralt /  Demokratie ist gut, direkte Demokratie ist besser: Dieses Credo gewinnt immer mehr Anhänger. Doch es gibt auch kritische Stimmen.

Bei der direkten Demokratie spielt die Schweiz in einer eigenen Liga: Weltweit können nur noch das Fürstentum Liechtenstein und einige Gliedstaaten der USA punkto Bürgerbeteiligung an Sachgeschäften einigermassen mithalten.
Doch nun erschallt auch in anderen Ländern immer deutlicher der Ruf nach direktdemokratischer Partizipation. Die Globalisierung, die «Sachzwänge» der Finanz- und Wirtschaftskrise und die häufig als bürgerfern wahrgenommene EU führen die rein repräsentative, nationalstaatliche Demokratie in eine Legitimationskrise. Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von politischen Entscheidungen ausgeschlossen, Ohnmacht, Unmut und Empörung breiten sich auch in den europäischen Demokratien aus.

Aufbruch in Österreich

In Österreich hat Ende Januar ein Komitee aus teils prominenten Alt-Politikern das Heft in die Hand genommen. «Während in diesen Tagen in vielen Staaten um Demokratie gekämpft wird, oft unter dem Einsatz des Lebens junger Menschen, herrscht in Österreich Stillstand, wird die Demokratie gar mehr und mehr ausgehöhlt», schreibt das Initiativ-Komitee von «MeinOE».
Diesen Februar soll der Trägerverein «Mein Österreich» gegründet werden. Initianten der ersten Stunde sind etwa der frühere Vizekanzler Erhard Busek (Österreichische Volkspartei, ÖVP), Ex-Grünen-Chef Johannes Voggenhuber und Wolfgang Radlegger, der frühere Chef der Salzburger Sozialdemokraten (SPÖ).

«MeinOE» will bis im September 2012 ein Volksbegehren mit mindestens 400 000 Unterzeichnenden einreichen. Ziel: ein breit gefächertes Programm zur Demokratiereform. Im Zentrum stehen die Stärkung der direktdemokratischen Instrumente, aber auch eine Wahlrechtsreform, der Ausbau der Grund- und Freiheitsrechte und eine Stärkung des Parlaments. Offene Sympathie bringt Österreichs Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) diesem Begehren gegenüber zum Ausdruck. Gemäss Medienberichten will die Parlamentschefin die Bemühungen für eine stärkere Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung im laufenden Jahr deutlich vorantreiben. Auch Exponenten von ÖVP und SPÖ legten in den letzten Wochen Bekenntnisse zu einer Stärkung der direkten Demokratie ab.

«Mehr Demokratie» in Deutschland

Dass direktdemokratische Sachentscheide auch in Deutschland populärer werden, zeigen die in den letzten Monaten durchgeführten Volksabstimmungen zur Schulreform in Hamburg und über das Bahnhofprojekt Stuttgart 21. Wie in Österreich wird nun aber die Forderung nach direktdemokratischen Instrumenten in Deutschland auch auf nationaler Ebene immer häufiger gestellt. Bereits 2010 hat sich die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Petra Pau, für mehr direkte Demokratie ausgesprochen. Die Politikerin der Partei «Die Linke» schrieb im «Tagesspiegel»: «Meine These ist seit langem: Gegen Demokratieverdruss hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch auf Bundesebene.»

Auch die seit 1988 aktive deutsche Vereinigung «Mehr Demokratie» geht vermehrt in die Offensive. Im März 2012 veranstaltet sie zusammen mit der renommierten Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung zur Ausgestaltung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene. Die kleine, aber einflussreiche Bürgervereinigung erhält Zuspruch aus fast allen politischen Lagern. Ihre Analyse: «Der Ruf nach politischer Mitbestimmung in Deutschland wird immer stärker.»

Versuche scheitern an der CDU

Zentrales Anliegen von «Mehr Demokratie» ist die Förderung der direkten Demokratie in ganz Deutschland – nicht allein auf Ebene von Gemeinden und Bundesländern, wo es direktdemokratische Mitbestimmungsrechte in unterschiedlichen Ausprägungen durchaus gibt, sondern eben vor allem auf Bundesebene, wo sie vollständig fehlen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien, ausser der CDU/CSU, sprechen sich für die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden aus. Doch dazu braucht es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Länderkammer) – und das wird ohne CDU/CSU kaum möglich sein.

Bekannt ist die deutsche Zurückhaltung gegenüber der direkten Demokratie wegen schlechter Erfahrungen zur Zeit der Weimarer Republik. Weniger bekannt ist dagegen, dass in den vergangenen 30 Jahren schon mehrere entsprechende Vorstösse unternommen worden sind, zuletzt im Jahr 2002. Damals unterbreiteten SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzesentwurf zur «Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz». Im Bundestag fand das Vorhaben sogar eine Mehrheit, doch es scheiterte an der erwähnten Zweidrittelmehrheit.

NPD nimmt die Schweiz zum Vorbild

Auf der direktdemokratischen Welle reiten jedoch auch Kreise mit, deren demokratische Weste nicht lupenrein ist. Wenn der Vorsitzende der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Heinz-Christian Strache, bekannt durch seine notorische Nähe zum Rechtsextremismus, das Jahr 2012 zum Jahr der Demokratie ausruft, macht das stutzig. Und wenn die rechtsradikale Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) immer wieder die schweizerische direkte Demokratie hoch leben lässt, dann ist das kein Kompliment, auf das man stolz sein kann. Die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag verlangte kürzlich eine Debatte unter dem Titel: «Für eine wahre Demokratie nach Schweizer Vorbild Volksentscheide jetzt auf allen Ebenen einführen.» Und ein regionaler NPD-Vorsitzender verteidigte sich gegen den Vorwurf antidemokratischer Umtriebe mit dem Argument: «Was wirft man der NPD eigentlich vor? Sie würde die Demokratie abschaffen, sagen die Regierenden. Tatsache aber ist, dass die NPD die Direkte Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz will.»

Die Gründe für die rechtsextreme Sympathie am helvetischen Politsystem sind unschwer auszumachen: die Erfolge ausländerfeindlicher Volksinitiativen. «Die Schweiz als Vorbild: Kriminelle Ausländer raus!» steht auf der Homepage der Neonazi-Partei. Und weiter: In Deutschland werde «jeden Tag von Demokratie, soll heissen Volksherrschaft, geredet. In der Schweiz wird sie praktiziert.» Dann wird ein Hohelied auf das vom Schweizervolk angenommene Bauverbot für Minarette angestimmt. Und nach Annahme der SVP-Ausschaffungsinitiative folgte postwendend die rechtsextreme Gratulationsadresse: «Nun hat die Schweiz wieder ein Zeichen gesetzt, welches wir Nachbarn nicht unkommentiert Geschichte werden lassen sollten. Die Schweiz hat das Volk entscheiden lassen, wie in Zukunft mit kriminellen Ausländern umgegangen werden soll: Weiter Samthandschuhpolitik und Dauerangst für anständige Bürger oder konsequente Ausschaffung krimineller Subjekte und Sicherheit für die Schweiz?»

«Anfällig für autoritäre Entgleisungen»

Der Ruf nach direkter Demokratie war zwar selten deutlicher zu vernehmen als in der gegenwärtigen Krise, aber er war auch kaum je zuvor ambivalenter. Der deutsche Soziologe und Journalist Thomas Wagner analysiert in seinem kürzlich erschienenen Buch «Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus» (Papyrossa Verlag, Köln 2011), wie die aktuellen Forderungen nach mehr Volksabstimmungen nahtlos in ein rechtes bis rechtsextremes Programm passen. Es werde immer deutlicher, schreibt Wagner, «dass es sich bei dem heute allgegenwärtigen Ruf nach direkter Demokratie nicht schon per se um eine emanzipatorische Forderung handelt. Sie ist vielmehr anfällig für autoritäre Entgleisungen.» Das Engagement für Volksabstimmungen berge «ernst zu nehmende politische Risiken, die von Demokraten bedacht werden müssen.» Gesellschaftliche Konflikte könnten noch stärker populistisch aufgeladen werden und finanzkräftige Kreise würden ermuntert, ihre Ziele mit viel Geld zu erreichen.

Gefahr des Bonapartismus

Wagner erachtet die direkte Demokratie vor allem dann als heikel, wenn sie mit einer massiven Stärkung der Exekutive einhergeht. «Besonders skeptisch sollten Vorschläge betrachtet werden, die in der direkten Wahl des politischen Führungspersonals einen Ausweg aus der Krise des politischen Systems erkennen wollen». Das führe letztlich in den Bonapartismus, also jenes politische Modell, das diktatorische mit plebiszitären Elementen verbindet, und in dem das Volk in unmittelbarem Verhältnis zu seinen «Führern» steht, möglichst ohne Parlamente, Parteien und andere politische und zivilgesellschaftliche Zwischeninstanzen.

Am unverblümtesten sagt es wiederum die NPD in einer internen Schulungsbroschüre: «Wir wollen das liberale Parteienregime – ganz demokratisch! – durch ein neues Gemeinwesen mit einem volksgewählten Präsidenten und Volksabstimmungen in allen Lebensfragen der Nation ablösen. Ein solches plebiszitäres Präsidialsystem würde die deutsche Politik aus dem Würgegriff der Blockparteien und der eigensüchtigen Interessengruppen befreien. Es entstünde eine wirkliche Volksherrschaft mit einer ‚Identität von Regierten und Regierenden‘ (Carl Schmitt)».

Doch es sind nicht nur die Rechtsextremen, sondern auch bürgerlich-konservative Kräfte in Deutschland, wie der Philosoph Peter Sloterdijk und einige Wirtschaftsführer, welche die Zurückdrängung der Parteienmacht und die Erweiterung plebiszitärer Mitwirkungsrechte fordern. Für Wagner ist deshalb klar: «Auf die Zerschlagung, Einhegung und Neutralisierung organisierter Gegenmacht haben es jene abgesehen, die Plebiszite zur Zementierung der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu instrumentalisieren versuchen.» Vor allem aber macht Wagner darauf aufmerksam, dass autoritäre Tendenzen heute nicht mehr mit offen antidemokratischer Rhetorik punkten könnten; sie träten vielmehr mit dem Anspruch auf, die Demokratie zu «verbessern».

Plebiszit und direkte Demokratie

Thomas Wagner ist kein strikter Gegner der direkten Demokratie. Er sieht durchaus, dass sich «verschiedene Initiativen und Gruppen ehrlich für die Demokratisierung dieses Staates und der EU engagieren». Aber er warnt vor Tendenzen der «plebiszitären Legitimation einer autokratischen Regierung.»

Von helvetischer Warte aus kann man Wagner insofern kritisieren, als er nicht genügend zwischen den Begriffen «plebiszitär» und «direktdemokratisch» unterscheidet. Der Schweizer Verfassungsrechtler Daniel Thürer hat in einem Vortrag an der Universität Trier unter dem Titel «Direkte Demokratie in Deutschland?» gerade darauf grosses Gewicht gelegt. Es sei, wenn von direkter Demokratie gesprochen werde, unerlässlich, «terminologisch und der Sache nach eine Unterscheidung zu treffen, die nur allzu oft vernachlässigt wird: nämlich zwischen ‚plebiszitären‘ Formen der direkten Demokratie einerseits und auf ‚Volksrechten‘ gegründeten Formen der direkten Demokratie anderseits.»
In einer plebiszitären Demokratie werden Volksbefragungen «von oben herab» nach Gutdünken und Opportunität veranstaltet, «während in der (halb-)direkten ‚Demokratie der Volksrechte‘ die Verfassung den Bürgern nach allgemein gefassten Regeln Rechte zusichert und sie damit ermächtigt, auf einzelne Sachgeschäfte des Staates ‚von unten nach oben‘ Einfluss zu nehmen und mitzuentscheiden.»

Demokratie mit «totalitären Zügen»

Das tönt wie eine direkte Entgegnung auf das Buch von Thomas Wagner; doch der Vortrag Thürers stammt aus dem Jahr 2007. Schon damals machte auch Thürer auf die heiklen Seiten der direkten Demokratie aufmerksam. Denn auch eine Mehrheit könne tyrannisch sein, und das souveräne Volk ist, «ebenso wie das autokratische Regime, nicht gegen Willkür und Machtmissbrauch gefeit. Das Volks kann anfällig sein für Emotionen wie Xenophobie und Rassismus und deren Ausbeutung durch die Machthaber». Deshalb pocht Thürer darauf, dass Demokratie auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruhen müsse. Und auch sie «muss an Grund- und Menschenrechten ihre Schranke finden; sonst gerät sie in Gefahr, totalitäre Züge anzunehmen».

Das ins Ohr all jener, die finden, die direkte Demokratie sei immer und unter allen Umständen die beste aller Staatsformen – und die vor allem glauben, eine wie auch immer geartete Volksherrschaft funktioniere dann am besten, wenn sie möglichste keinen Einschränkungen unterworfen sei.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120107um17_56_48

Die Demokratien im Stress

Die Finanz- und Politkrisen setzen den Demokratien im Westen arg zu. Auch mit der Gewaltenteilung haperts.

Nationalratssaal_Bundeshaus

Parteien und Politiker

Parteien und Politiker drängen in die Öffentlichkeit. Aber sie tun nicht immer, was sie sagen und versprechen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 12.02.2012 um 23:00 Uhr
    Permalink

    Ich frage mich, wie der Autor zur Ansicht gelangt, die direkte Demokratie sei anfälliger für «totalitäre Züge» als die repräsentative. Vielleicht, weil Politiker so viel scharfsinniger und vernünftiger sind als das Volk?

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...