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Einkaufszentrum: Je höher die Umsätze, desto besser? © Brett Critchley | Dreamstime.com

Tagesschau als Handlanger des Weihnachtsgeschäfts

upg /  Toll, wenn die Umsätze steigen. Ein Jammertal, wenn sie sinken. – Zum Jahreswechsel ist es Zeit, dieses Mantra zu hinterfragen.

Wie jedes Jahr vor Weihnachten hielt die Tagesschau Vertretern des Detailhandels das Mikrofon hin, damit diese berichten können, wie kauffreudig die Konsumenten angeblich sind, oder darüber klagen, dass zu wenig gekauft wird. Die Tagesschau macht sich zum Handlanger des Weihnachtsgeschäfts. Kritische Stimmen zum Konsum sind in dieser Zeit tabu.

«Weniger ist manchmal mehr», mahnte zwar Bundesrätin Doris Leuthard am letzten Dank-, Buss- und Bettag im Grossmünster Zürich. Doch zurück in Bern zählte für sie als Bundesrätin wieder nur eines: Die Wirtschaft muss wachsen. Ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft, hängt primär vom Kaufverhalten der Konsumentinnen und Konsumenten ab – auch und gerade jetzt vor Weihnachten und über die Feiertage. Wachsen die Umsätze, so bewerten Wirtschaftsförderer die Entwicklung als «positiv». Und die Medien loben die «gutgelaunten Konsumenten». Wenn aber die Umsätze stagnieren und der «Index der Konsumentenstimmung» sinkt, klagen sie über die «schlecht gestimmten Konsumenten».

Man kann das auch umgekehrt sehen: Viele Leute, die weniger kaufen, sind zufrieden mit dem, was sie haben, also gut gestimmt. Sie häufen keine Schulden an. Sie verzichten auf Konsumkredite und zahlen Hypotheken zurück. Sie fahren das gleiche Fahrzeug länger und kaufen weniger Wegwerfprodukte. Dinge, die sie selten brauchen, besitzen sie nicht, sondern mieten diese oder leihen sie von Bekannten. Für Prestigelabels zahlen sie keinen Aufpreis. Sie verbringen mehr Zeit mit Freundinnen und Freunden als im Einkaufszentrum, bewegen sich mehr im Alltag und schlucken dafür weniger Medikamente.

Mehr Konsum, weniger Nutzen

Selbstverständlich brauchen wir ein bestimmtes Mass an Lebensstandard, um ohne Mangel und unbeschwert leben zu können. Doch wenn Einkommen und Konsum ein bestimmtes Niveau übersteigen, macht ein Mehr davon nicht glücklicher. Das belegen Resultate der Glücksforschung: Schon in den 1950er-Jahren bezeichneten sich in den USA und Japan rund 30 Prozent der befragten Personen als «sehr glücklich». Inzwischen sind es nicht mehr geworden, obwohl sich das Bruttoinlandprodukt und der private Konsum vervielfacht haben.

Eine Erklärung dafür lieferte Christopher Flavin, Präsident des Worldwatch-Institutes in New York, als er den Bericht zur Lage der Welt 2004 den Medien vorstellte. «Mehr Übergewichtige und mehr private Schulden, chronische Zeitnot und schlechtere Umweltbedingungen sind alles Zeichen, dass exzessiver Konsum die Lebensqualität verringert.»

Wenn unsere wichtigsten Bedürfnisse gestillt sind, bringt wachsender Konsum nur noch wenig zusätzlichen Nutzen. Das können wohlhabende Leute aus eigener Erfahrung bestätigen: Das Zweitauto ist weniger wert als das erste. Die Ferienwohnung vermindert die Nutzung des Einfamilienhauses am Hauptwohnsitz. Wer schon eine Ski- und Langlaufausrüstung besitzt, kann sich an einem Snowboard weniger oft freuen. Denn die Zahl der schneesicheren Sonntage vermehrt sich nicht.

Konsum wird zur Plage

Auf der andern Seite entwickelt sich der wachsende Konsum zunehmend zur Plage. Beispiele: Je mehr Leute ihren Traum vom Einfamilienhaus oder Ferienhaus erfüllen, desto mehr Landschaften werden verschandelt, desto weiter müssen sie fahren und desto grössere Regionen belärmen sie, um ihr Ziel zu erreichen. Je mehr Menschen Autos besitzen und benützen, desto langsamer kommen alle im stockenden Kolonnenverkehr voran.

Doch über alle Kanäle gaukelt man uns vor, unser Glück hänge davon ab, ob die Wirtschaft ein, zwei, gar drei Prozent wächst oder ob sie «stagniert». Auch in Zukunft steigere Wachstum unseren Wohlstand, rette die Sozialwerke und reduziere die Arbeitslosigkeit, heisst es. Dieses Mantra hat sich in unseren Köpfen eingebrannt. Genügsamkeit würdigen nur noch Geistliche auf der Kanzel. Nur wenige Ärzte bewerten einen sinkenden Medikamentenverbrauch als gesundheitspolitischen Erfolg.

Je mehr Quadratkilometer überbaut werden, je mehr Flugverkehr lärmt oder je mehr Autos verkauft werden, desto besser. Auch die Plünderung der begrenzten Energie- und Rohstoffreserven steigert das Bruttoinlandprodukt. Je höher Umweltschäden oder Krankheitskosten sind, desto stärker wächst die Reinigungs- und Pharmaindustrie. Die Milliarden an Dollar, welche die Schäden der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko oder die Folgen der Atomkatastrophe in Japan kosten, schlagen beim Wachstum des Bruttoinlandprodukts positiv zu Buche. Euphorisch können dann Radio und Fernsehen wieder berichten, dass Umsätze und Gewinne steigen.

Kaufbefehle verweigern

Das Wirtschaftswachstum wird zur Diktatur. Mit Argumenten wie «Handelshemmnis», «Standortnachteil» oder «Umsatzeinbussen» lassen sich fast alle Vorschläge für eine sozialere, gerechtere und friedlichere Ordnung abblocken. Chancen haben fast nur Vorschläge, die mehr Umsätze und mehr Wachstum bringen. Ökonomen und Politiker reden von «freier» Marktwirtschaft, verlangen aber, dass sich alle dem Zwang zum Wachstum unterwerfen und mehr konsumieren.

Narrenfreiheit erlauben sich nur noch bunte Vögel oder Kirchenleute: Wir sollen weniger konsumieren, mehr spenden, weniger wegwerfen, mehr Sorge tragen, weniger in die Karibik fliegen, mehr Zeit mit Familie, Freundeskreis verbringen und Notleidende unterstützen: «Das sind Werte, die wir vertreten sollten», sagte zwar Bundesrätin Doris Leuthard dem Fernsehpublikum, als sie das bescheidene Leben der heilig gesprochenen Schwester Bernarda Bütler würdigte. Als Bundesrätin aber möchte sie auf keinen Fall, dass wir diese Werte ernst nehmen. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen fordert sie unverdrossen ein höheres Wachstum.

Gespaltene Zungen

Leute aus Politik und Wirtschaft reden mit gespaltener Zunge: Wenn das Klima zur Gefahr wird, die Meere leer gefischt oder Landschaften zersiedelt werden, schieben sie den schwarzen Peter den Konsumentinnen und Konsumenten zu: Diese würden zu viel Energie brauchen, zu viel Herumreisen, zu viele Fische essen oder Zweitwohnungen kaufen. Sobald sich die Konsumierenden aber etwas bescheidener verhalten, machen die gleichen Leute sie dafür verantwortlich, dass die Wirtschaft weniger Umsatz macht. Die Politik setzt alle Hebel und Anreize in Bewegung, damit wieder mehr konsumiert wird. Sparen gilt dann als unmoralisch, eine «zu hohe Sparquote» wird kritisiert.

Dabei hätten wir allen Grund, unseren Konsum einzuschränken und das Geld verantwortungsbewusster auszugeben. Wasser, Energie und Rohstoffe sind schon heute knapp. Kontinente wie Afrika, Indien und China haben einen riesigen Nachholbedarf. Wie sollen wir den Armen in Niger oder Indien erklären, dass wir Reichen in den Industrieländern unseren Konsum unbedingt nochmals verdoppeln müssen?

Oder anders gefragt: Wie reagieren wir als vernünftige Menschen, wenn der Energieverbrauch das Klima erwärmt, Wasser und Rohstoffe rar werden, Tier- und Pflanzenwelt bedroht sind, und Milliarden von Armen auf dieser Erde einen Nachholbedarf haben? Normale Menschen reagieren mit Sparsamkeit und mit einem haushälterischen Einsatz der Mittel. Politikerinnen und Wirtschaftsvertreter aber rufen zum Konsum auf, beklagen eine «Wachstumsschwäche» und kurbeln mit allen Mitteln die Wirtschaft an. Der St. Galler Soziologe Peter Gross formulierte es pointiert: «Wachstum bedeutet Marsch- und Kaufbefehle, um die Sozialwerke oder Arbeitsplätze zu retten».

Crash statt Glück

Wenn aber die Marktwirtschaft so frei ist, wie sie vorgibt, sollten die Konsumenten Kaufbefehle verweigern dürfen, und zwar ohne Schuldgefühle. Sie können die Umwelt schonen, indem sie vom Auto auf die Bahn oder aufs Velo umsteigen, selbst wenn die Autoverkäufer jammern. Sie können weniger wegwerfen und ihren bisherigen Hausrat länger nutzen. Sie dürfen Aufrufen von «Fastenopfer» und «Brot für alle» folgen, weniger Geld im Warenhaus auszugeben und mehr Geld für die Armen zu spenden. Sie dürfen ihre Ferien geruhsam in der Nähe verbringen und ihren Konsum an Flugkilometern drosseln. Es soll sie kalt lassen, wenn das Fernsehen als Hiobsbotschaft verkündet, die Übersee-Ferien seien weniger gut gebucht.

Anzupassen haben sich die Unternehmen. In einer Marktwirtschaft müssen die Konsumentinnen und Konsumenten mit ihren Kaufentscheiden bestimmen können, was und wie viel produziert wird. Wenn sie nur noch Benzin sparende und kleinere Autos kaufen, ist es unvermeidlich, dass Hersteller grosser Benzinfresser pleite gehen. Wenn sie von ihrem Einkommen mehr auf die hohe Kante legen anstatt sofort zu konsumieren, muss die Wirtschaft ihre Produktion eben vermindern. Das gleiche gilt, wenn Menschen mehr Freizeit statt mehr Einkommen wählen.

Konsumentinnen und Konsumenten sollten sich kein schlechtes Gewissen einreden lassen, wenn sie bei ihren Weihnachtseinkäufen zurückhaltend sind. Denn das Wachstum des Konsums ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Ungebremstes Wachstum führt nicht ins Glück, sondern zum Crash.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Kein. Co-Autor des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für einen Ausstieg».

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