
UNO-Recht auf Familienplanung gilt für viele Menschen nur auf dem Papier
Die 50-jährige Verhütung der sexuellen Selbstbestimmung
Die Pillen-Enzyklika und das UNO-Menschenrecht auf Familienplanung stehen sich seit 1968 diametral gegenüber. Eine Bilanz.
Red. Im folgenden Text zieht Gastautor Alec Gagneux Bilanz zur päpstlichen Pillen-Enzyklika und zum UNO-Menschenrecht auf Familienplanung, die 2018 beide 50 Jahre alt wurden. Gagneux ist studierter Maschineningenieur und verfügt über ein Nachdiplom in Unternehmensführung. Im Rahmen von Entwicklungsprojekten kämpft er gegen Wachstumszwänge. Er engagiert sich für das Menschenrecht auf Familienplanung und wendet sich gegen Überproduktion. Er ist Initiant von fairCH.com und Vorstandsmitglied des Vereins Ecologie et Population (Ecopop).
1968, am 25. Juli vor fünfzig Jahren, fällten ein paar Männer in Rom, die sexuell inaktiv leben (sollten), eine der wichtigsten Entscheidungen für den Planeten und damit für die gesamte Menschheit. Es handelt sich um die Enzyklika "Humanae Vitae" – auch Pillen-Enzyklika genannt. Die Verhütung von Schwangerschaften wird darin strikt verboten *.
Kürzlich machte der Churer Bischof Vitus Huonder erneut klar, wo die Wahrheit sitzt: "Verhütung gehört zur Kultur des Todes." In England haben fast 500 Priester (100% Männer) mit ihrer Unterschrift die Stützung der Pillen-Enzyklika bekundet. Die Bewegung sei stärker als 1968, berichtete der "Catholic Herald". Und im Oktober 2018 will der heutige Papst Franziskus den damaligen Papst Paul Vl. heiligsprechen. Das lässt vermuten, dass (arme) Frauen sich weiterhin nicht davor schützen können, als Gebärmaschinen missbraucht zu werden.
Kampf gegen ein essentielles Menschenrecht
Ebenfalls seit 50 Jahren, seit dem 13. Mai 1968, ist das UNO-Menschenrecht auf Familienplanung in Kraft. Die Schweizer Medien haben dieses goldene Jubiläum ignoriert. Warum dieses essentielle Menschenrecht der 68er heute dermassen verbissen bekämpft beziehungsweise tabuisiert wird, hat verschiedene Ursachen.
Eine davon ist das heutige Wirtschafts- und Geldsystem, das ewiges Wachstum braucht, um nicht zu kollabieren. Eine wachsende Weltbevölkerung ist ein wesentlicher Treiber des Wirtschaftswachstums und damit gut fürs Geschäft einer kleinen Minderheit von finanzkräftigen Leuten. Für das Leben als Ganzes aber erzeugt die (ungewollte) Zunahme der Bevölkerung auf endlichem Raum unnötiges Leid. Dazu gehören Hunger, Kriege und Zerstörung der Mitwelt.
1971 fordert der WWF Schweiz noch: "Begnüge dich mit zwei Kindern." Weiter steht beim ersten Punkt der damaligen WWF-Broschüre mit dem Titel "Die 44 Punkte des Umweltschutzes": "Wenn Du unbedingt mehr als zwei haben willst, so adoptiere die weiteren oder nimm Pflegekinder auf." Begründung: "Wohl ist die Umweltzerstörung eine Begleiterscheinung der Zivilisation, ihre schlimmen Ausmasse aber hat sie durch die grosse und immer noch wachsende Zahl von Menschen angenommen (…) Noch können wir uns entscheiden, ob wir den Ausgleich durch eine freiwillige Senkung der Geburtenrate erreichen oder ob wir zuwarten wollen, bis die Natur durch eine gewaltsame Erhöhung der Todesrate dafür sorgen wird."
Der heutige WWF, ebenso Greenpeace, Pro Natura und andere Umweltorganisationen, wollen mit diesem wichtigen Umweltfaktor leider nichts (mehr) zu tun haben: Marketingexperten sagen, es sei nicht förderlich fürs Image und damit für das Spendenkonto. Einzig die Organisation für Umwelt und Bevölkerung (ECOlogie et POPulation) engagiert sich aktiv für eine Begrenzung der Bevölkerung – und wird deswegen diffamiert.
Kaum Geld für Familienplanung, aber Billionen für Krieg
In den sogenannten Entwicklungsländern wurden 2017 rund 90 Millionen Frauen ungewollt schwanger – so viele wie noch nie. Diese nicht-gewollten Schwangerschaften führen zu 48 Millionen Abtreibungen. Dies ist so, weil mehr als 200 Millionen Paaren die sexuelle Selbstbestimmung in Form von Aufklärung und guter Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln vorenthalten wird.
Dem UNO-Bevölkerungsfonds (UNFPA) fehlen jedes Jahr vier bis acht Milliarden Dollars oder Franken, also eine vergleichsweise kleine Summe, um diese Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Ist es ein Zufall, dass für die Umsetzung des Menschenrechts auf Familienplanung die notwendigen bescheidenen Mittel fehlen?
Zum Vergleich: Entscheidungsträger erhalten für Bankenrettungen und Militär Billionen. Die NATO kann damit rechnen, dass ihre Forderung nach zwei Prozent des BIP für Bomben, Kanonen, Drohnen etc. von den Mitgliedstaaten erfüllt wird. Für Deutsche heisst dies, dass sie bis 2024 ihr Kriegsbudget von rund 30 Milliarden auf über 60 Milliarden verdoppeln müss(t)en. Das passt schlecht zur Beschwörung, "von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen".
Schutz des Lebens – aber nur vor der Geburt
Die Kultur der Massenvernichtung wird vom Vatikan kaum bekämpft. Stattdessen sind vatikanische Männer weltweit gegen Abtreibungen politisch aktiv. Es gibt hunderte von katholischen Organisationen, die sich für den Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt engagieren.
Abtreibungen präventiv zu verhindern ist auf jeden Fall förderungswürdig. Dogmatische Verbote aber sind kontraproduktiv: Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung und die UNO beweisen wissenschaftlich, dass es über 50 Millionen weniger ungewollte Schwangerschaften und über 25 Millionen weniger Abtreibungen gäbe, hätten alle Menschen einen würdigen Zugang zu Aufklärung und freiwilliger Familienplanung. Wer also tatsächlich weniger Abtreibungen will, sollte endlich aufhören, das 50-jährige UNO-Menschenrecht auf Familienplanung zu bekämpfen.
Auffällig ist, dass es kaum vatikanische Organisationen gibt, die sich politisch aktiv gegen Todesstrafe, Kriegsgeschäfte, Waffenexporte und (völkerrechtswidrige) Kriege engagieren. Warum ist das Leben vor der Geburt heilig und warum erhält der Schutz des Lebens nach der Geburt vom Heiligen Stuhl höchstens Lippenbekenntnisse?
Schutz von Mutter Erde mit der Umweltformel
In seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato Si“ von 2015 hat Papst Franziskus klargemacht, nicht das Bevölkerungswachstum sei das Problem für Mensch und Mitwelt, sondern der Konsum der Wohlhabenden. Kurz zuvor, auf dem Rückflug aus den Philippinen, sagte Franziskus noch in der Luft: "Gute Katholiken müssen sich nicht wie Karnickel vermehren." Was gilt denn nun?
Fest steht: Die Effekte (E) auf das Ökosystem Erde werden von der Anzahl Menschen (m) und ihrem durchschnittlichen Konsumverhalten (c) beeinflusst. Das ergibt die Formel E = m mal c. Beide Komponenten müssen berücksichtigt werden. Dies wird unter anderem vom Global Footprint Network bestätigt. Da eine zunehmende Menschheitsfamilie (m) mittels Politik, Marketing und Werbung zu immer mehr Konsum (c) animiert wird, stehen wir vor einem Erd-Belastungsrekord: Der diesjährige Earth Overshoot Day fällt auf den 1. August – so früh wie noch nie. Vom Schweizer Nationalfeiertag an bis Ende Jahr beansprucht respektive raubt die Menschheit also das, was unseren Kindeskindern zusteht.
Die Erde kann nur dann genesen, wenn m und c endlich (wieder) gemeinsam berücksichtigt werden. Die Begrenzung von Bevölkerung und Konsum sind überlebenswichtig. Auf diese Einsicht sollten sich Rechte und Linke einigen. Erst wenn rechts und links für das gute Leben – auch kommender Generationen – aktiv zusammenspannen, hat Nachhaltigkeit eine echte Chance.
Mit Empathie und Statistik zum Menschenrecht für alle
Wer Statistiken konsultiert, sieht, dass sich die Weltbevölkerung innerhalb von nur einer Generation vervierfacht hat. Der WWF von 1971 hat‘s verstanden und sofortiges Handeln vorgeschlagen. Eine weitere Möglichkeit fürs Verständnis ist Empathiefähigkeit: Wer sich in eine Mutter hineinfühlen kann, die ungewollt schwanger wurde und nicht weiss, wie sie ihr (zusätzliches) Kind ernähren soll, versteht, wie wichtig es ist, dass das Menschenrecht auf freiwillige Familienplanung endlich allen Menschen zur Verfügung steht. Dank der Einhaltung dieses Menschenrechts kann millionenfaches unmittelbares Leid verhindert werden. Und die Weltbevölkerung würde um einen Drittel weniger wachsen – immerhin.
Wer empathiefähig ist, darf nicht akzeptieren, dass Hilfswerke, Umweltorganisationen, Staaten, Religionen, aber auch Unternehmen** das 68er Menschenrecht auf Familienplanung verletzen. Sexuelle Selbstbestimmung ist noch immer für viel zu viele Menschen keine Selbstverständlichkeit. Benachteiligte Menschen sollen nicht weiterhin diskriminiert werden! Deshalb braucht es eine starke Solidarisierung mit Frauen (und Männern), die teilweise mit Gewalt von diesem Menschenrecht ausgegrenzt werden.
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Anmerkungen
* Nur "natürliche" Familienplanung wird vom Vatikan toleriert. Ich habe in den 90er Jahren mehrmals Mutter Teresa in Kalkutta besucht und ihr natürliches Familienplanungs-Programm kennengelernt. Es hat nicht funktioniert.
** Eine Deklaration für Entscheidungsträger/innen zeigt Möglichkeiten auf, wie das 68er Menschenrecht auch von Unternehmen in Projekte integriert werden kann. Diese Deklaration wird mitgetragen von Hans Herren, Emil Steinberger, Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jacques Gaillot, Eugen Drewermann, Vandana Shiva, Remo Gysin, Richard Gerster, Al Imfeld, Liliane Maury Pasquier, Franz Alt, P.V. Rajagopal und weiteren Persönlichkeiten.
Quellen:
- UNFPA: United Nations Population Fund
- fairCH
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Alec Gagneux ist Initiant von fairCH.com und Vorstandsmitglied der Vereinigung für Umwelt und Bevölkerung (Ecopop)
Weiterführende Informationen
Dossier: Wachstum
Dossier: Menschenrechte
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