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Kaum Geld, kaum soziale Kontakte: Corona trifft die Surprise-Verkäufer hart. © Ruben Hollinger

Die Lücke im Strassenbild der Städte

Linda Stibler /  Die Corona-Krise hat das Strassenmagazin Surprise und ihre Verkaufenden mehrfach getroffen. Ab kommenden Freitag wird es besser.

Normalerweise trifft man sie vor grossen Einkaufszentren, die Verkäuferinnen und Verkäufer des Strassenmagazins Surprise, doch jetzt sind sie überall verschwunden.
Zwar gibt es das Heft immer noch, vor allem im Internet, zurzeit gratis zu lesen. Es existiert auch in gedruckter Form für die Abonnenten und in einzelnen wenigen Verkaufsgeschäften in grösseren Ortschaften für jene, die Surprise lieber in gedruckter Form lesen. Die meisten Stammkunden kaufen sich das Magazin normalerweise auf der Strasse; der direkte Kontakt mit den Verkaufenden ist ihnen wichtig. Sie machen das nicht aus einem Impuls von Wohltätigkeit, erhalten sie doch einen reellen Gegenwert. Surprise ist ein professionell gemachtes Medium mit vielen aktuellen Beiträgen, die vor allem über den Alltag von Menschen berichten, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das ist das zentrale Thema des Magazins; daneben finden sich auch viele Beiträge, die andere Themen berühren. Als Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit wäre etwa eine grosse Reportage über die Arbeit in einer Kaffeeplantage in Äthiopien, dem Ursprungsland des Kaffees, zu erwähnen. Oder eine grössere Geschichte des Modejournalisten Jeroen van Rooijen über die omnipräsente Versuchung der digitalen Medien. Oder ein selbstironischer Beitrag des Erfolgsautors Thomas Meyer. Zudem findet man in jedem Surprise-Heft kompetente Artikel über Film, Musik, Literatur und kulturelle Anlässe.

Weit verbreitet in der Deutschschweiz

Surprise ist ein Medium, das sich neben anderen gedruckten Medien sehen lassen kann. Es hat schweizweit eine beglaubigte Auflage von 19’418 Exemplaren und finanziert sich weitgehend eigenständig, ohne Subventionen. Der grösste Teil der Einnahmen – mehr als die Hälfte – wird durch den Heftverkauf finanziert, der Rest durch Inserate, Stadtrundgänge, Spenden und Beiträge von Sponsoren und Stiftungen. Zwischen 350 und 450 registrierte Verkäuferinnen und Verkäufer standen im vergangenen Jahr auf den Strassen und boten ihre Hefte zu 6 Franken an. Davon geht die Hälfte als Lohn in ihre Taschen. Diese Löhne beliefen sich im vergangenen Jahr auf 1,6 Mio Franken. Für rund die Hälfte der Verkaufenden sind diese Einnahmen der wichtigste Teil ihres Einkommens, nur die Hälfte von ihnen bezieht Zuschüsse aus der Sozialhilfe. Und selbstredend sind die Löhne sozialversichert.
Die Redaktion ist mit drei fest angestellten RedaktorInnen und zwei Reportern bescheiden bestückt, sie legt jedoch grossen Wert auf professionelle Arbeit und bezahlt reguläre Löhne und Honorare für freie Mitarbeiter. Das ist ein wichtiger Teil ihrer redaktionellen Unabhängigkeit.

Dramatische Einschränkungen in Corona-Zeiten

Surprise ist als Verein organisiert. Zusammen mit der Zeitschrift ist Suprise also schweizweit ein vielseitiges soziales Unternehmen, das nicht nur den Kontakt, sondern auch die Information zwischen verschiedenen sozialen Bevölkerungsschichten fördert. Aufgrund dieser besonderen Form des Vertriebs in der Öffentlichkeit wurde Surprise im Gegensatz zu andern gedruckten Medien besonders hart getroffen. Die Einnahmen sind dramatisch eingebrochen. Zwar konnte den Verkaufenden bis jetzt die Ausfälle weitgehend garantiert werden, und zum Glück gab es zahlreiche spontane Spenden von privaten Personen und auch von Institutionen, die Surprise bis jetzt über Wasser halten konnten und die Weiterführung des Heftes ermöglichten.
Zur Zeit beziehen sich die Themen vor allem auf die schwierige Situation, in der sich Menschen am Rande der Gesellschaft seit den Ausgangsbeschränkungen befinden. Ein Beispiel: Unter dem Titel «und schon zeigen sie wieder mit den Fingern auf uns» schildern Menschen, die kein Zuhause haben, in welchen Schwierigkeiten sie sich befinden, irgendwo unterzukommen. In den Notschlafstellen finden sie kaum mehr Platz, und wo sie vielleicht bisher bei Bekannten schlafen konnten, sind sie plötzlich nicht mehr erwünscht. In der Öffentlichkeit fallen sie auf leer gefegten Strassen besonders auf. Sie haben kaum mehr Möglichkeiten einen Gelegenheitsverdienst zu finden; das Geld und die Nahrung wird immer knapper. Auch die Kontakte in den eigenen Kreisen brechen ein. Misstrauen nimmt zu und jeder ist sich selbst der Nächste.

Psychische Nebenwirkungen und vermehrte Ausgrenzung

Auch die Surprise-Verkäufer sind auf spezielle Weise betroffen, selbst wenn ihnen ein Minimaleinkommen bis jetzt garantiert werden konnte. Sie können keine Hefte mehr verkaufen, was auch sinnlos wäre, weil es kaum mehr Passanten auf den Strassen gibt. Ihre Existenzängste steigen und sie haben vor allem keine Kontakte mit andern Menschen mehr – für sie die erfreulichste Seite ihrer Arbeit. Viele von ihnen haben eine besondere Lebensgeschichte und oft auch wenig soziale Beziehungen, was sie leicht einsam macht. Darunter leiden sie jetzt besonders. Das wird verschärft durch die ausser Kraft gesetzten Freizeitmöglichkeiten, die Suprise in den vergangenen Jahren für ihre Verkaufenden ins Leben gerufen hat, etwa den Strassenfussball-Verein oder den Surprise-Chor.
Bleibt noch die Institution der Stadtrundgänge zu erwähnen. Sie werden von speziell ausgebildeten Stadtführerinnen und Stadtführern durchgeführt, die eindrücklich über ihre Erfahrungen von Armut und Obdachlosigkeit berichten. Die meisten von ihnen sind ehemalige oder noch aktive Surprise-Verkäufer. Auch ihnen fehlt zur Zeit die Arbeit.

Abhilfe ist möglich

Nicht zuletzt auch dank der vermehrten Spenden in dieser Krisenzeit kann der Verein die Löhne und Einkommen seiner Mitarbeitenden sichern. Ein Beratungsangebot für die Verkaufenden und die Stadtführerinnen und Stadtführer gab es schon immer, doch während des Verkaufsstopps führt Surprise die Sozialberatung telefonisch durch und ergänzt sie mit zusätzlichen Informationen, hilft im Kontakt mit Behörden und bietet auch psychologische Unterstützung an, wie Andreas Jahn, Kommunikationsverantwortlicher, auf Anfrage mitteilte.

Und eine weitere Mitteilung kann Surprise machen: Am kommenden Freitag, den 29. Mai soll die Zeitung wieder auf Schweizer Strassen verkauft werden. Das wird das Stadtbild beleben – zur Freude der Verkäuferinnen und Verkäufer und der Kunden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Die Journalistin und Autorin Linda Stibler war über 40 Jahre in verschiedenen Medien tätig, unter anderem in der damaligen National-Zeitung, in der Basler AZ und bei Radio DRS (heute SRF).

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2 Meinungen

  • am 27.05.2020 um 12:17 Uhr
    Permalink

    Ich freue mich, wenn Surprise endlich wieder auf der Strasse zu kaufen ist. Und ich kann bestätigen,. dass die Berichterstattung punkto Qualität anderen, grossen Zeitschriften in nichts nachhängt, eher im Gegenteil.

    Meiner Ansicht nach ist Surprise eine der wenigen gedruckten Zeitschriften, welche es sich wirklich lohnt zu kaufen und zu lesen. Wer sich ein komplettes Bild von unserer Gesellschaft machen will, kommt um Surprise eigentlich nicht rum. Nur da ist nach zu lesen, wie unsere Gesellschaft und unser sogenannter Sozialstaat mit den Ärmsten umgeht.

    Man soll einen Staat am Umgang mit den Ärmsten und nicht am Umgang mit den Reichsten messen.

  • am 27.05.2020 um 16:11 Uhr
    Permalink

    Zu hoffen ist, dass in Zürich auch bald wieder das Taxi Magazin auf der Strasse verkauft wird. Diese lesenswerte Non Profit Zeitschrift wird auch durch Arbeitslose verkauft, unter anderem durch einen Somalier mit dem ich einige Male in Oerlikon gesprochen habe. In der neuesten Nummer ist wieder ein Text über das Leben von Gertrud Weinhandl zu lesen die in Zürich im Altersheim lebt und ein Artikel über das leestehende Bundesasylzentrum Kappelen bei Lyss. Es ist gut, dass neben all den kommerziellen Zeitungen und Zeitschriften den Infos Sperber, das Journal 24, die WoZ, Surprise, das Taxi usw. gibt.

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