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Marc-André Raetzo, Leiter des grössten Westschweizer Ärztenetzwerks © Peter Mosimann

«Unsere Patientinnen stürzen nur halb so häufig»

upg /  Der Internist Marc-André Raetzo leitet ein integriertes Ärztenetzwerk, das Prävention gross schreibt. Patientinnen profitieren.

Herr Raetzo, Sechzig Prozent der Patientinnen und Patienten sollen sich bis in fünf Jahren einer Gruppenpraxis oder einem integrierten Ärztenetzwerk anschliessen. So will es Bundesrat Didier Burkhalter. In der Region Genf leiten Sie schon seit zwanzig Jahren ein grosses Netzwerk von Hausärzten. Warum waren Sie der Zeit voraus?
Ich wollte nicht mehr als Einzelkämpfer weiter machen, sondern mich mit andern Ärzten austauschen können. Wenn man Patienten besser behandeln will, muss man Erfahrungen teilen und schwierige Fälle diskutieren. In unserem Netzwerk Delta tauschen sich die Ärzte in Qualitätszirkeln aus und bilden sich ständig weiter. Heute sind 172 Ärzte der Region Genf angeschlossen. 28 Apotheken machen ebenfalls mit.

Rund 60’000 Delta-Patienten haben sich freiwillig verpflichtet, immer zuerst einen Arzt oder eine Ärztin des Netzwerks aufzusuchen. Dafür erhalten sie von den Kassen Prämienreduktionen von 10 bis 25 Prozent…
…am Anfang ging das nicht so einfach. 1991 hatte das Genfer Parlament mit einer Motion einstimmig verlangt, dieses Hausarztmodell zu verbieten. Die Linke befürchtete eine Billigmedizin für Einkommensschwache. Die Rechte behauptete, wir würden die Freiheit der Ärzte bedrohen, weil das Netz mit den Kassen ein Globalbudget aushandelte.

Aus welchen Motiven machen Patienten denn mit, wenn nicht wegen des Prämienrabatts?
Es gibt kaum Patienten, die das Netz verlassen, weil sie unzufrieden sind. Sie schätzen die Qualität der Versorgung. Und sie profitieren von Leistungen, welche die Grundversicherung nicht zahlt.

Welche sind dies?
Vor allem Präventivmassnahmen, die sonst niemand zahlt: Kurse für Diabetiker, Übergewichtige und auch Asthmatiker. Oder als weitere Beispiele Kurse für Kranke mit einer Herzinsuffizienz oder für Osteoporose-Patientinnen mit Sturzrisiken.

Wer finanziert diese Leistungen, welche die Grundversicherung nicht vergütet?
Die Netzwerk-Organisation erhält von den Krankenkassen eine Vergütung, wenn alle Ärzte zusammen ein vereinbartes Globalbudget unterschreiten. Letztes Jahr hatten wir eine halbe Million Franken zur Verfügung. Damit zahlt die Organisation diese Präventivmassnahmen und finanziert auch eine unabhängige Weiterbildung der Ärzte. Die einzelnen Ärzte rechnen mit den Netz-Patienten gleich ab wie mit den andern.

Bundesrat Burkhalter will Gruppenpraxen und ärztliche Netzwerke fördern, weil die Versicherten besser behandelt würden. Können Sie das mit Ihrer Erfahrung bestätigen?
Bei der strukturierten Arbeit in Qualitätszirkeln müssen sich die Ärzte immer wieder in Frage stellen. Das trägt am meisten bei zur Verbesserung. Es ist auch erwiesen dass Chronischkranke in einem integrierten Ärztenetzwerk besser versorgt werden.

Haben Sie Belege dafür, dass die Ärzte des integrierten Netzwerks Delta die Patienten schneller und nachhaltiger gesund bekommen?
Die Behandlungsqualität in den Arztpraxen erforscht in der Schweiz leider niemand. Ein Buch für die Delta-Ärzte enthält die Resultate der evidenzbasierten Medizin sowie Fragenkataloge zum Einschätzen des individuellen Risikos. Diese Grundlagen sowie der strukturierte Austausch in den Qualitätszirkeln erleichtern den Ärzten bestmögliche Entscheide. Und vergessen Sie nicht die erwähnten Präventionsangebote. Eine Vergleichsstudie hat bewiesen, dass ältere Patientinnen dank unseres Präventionsprogramms nur halb so häufig stürzen. Eine neue Studie zeigt wahrscheinlich, dass unsere Herzinsuffizienz-Patienten seltener rehospitalisiert werden müssen.

Die Netzärzte verschreiben fast nur günstige Generika. Sind Originalmedikamente für bestimmte Patientengruppen nicht besser?
Die Diskussionen in den Qualitätszirkeln haben ergeben, dass bei häufig verschriebenen Generika keine Nachteile bekannt sind. Aber alle Ärzte sind frei, einzelnen Patienten Originalpräparate zu verschreiben.

Oft gibt es mehrere Generika mit dem gleichen Wirkstoff. Nach welchen Kriterien wählen Sie das Generikum aus?
Wir diskutieren das in den Qualitätszirkeln mit den angeschlossenen Apotheken. Die Marge der Apotheken darf keine Rolle spielen. Für die Patienten ist wichtig, dass das ausgewählte Generika bei diesen Apotheken auch längerfristig im Angebot ist.

Bessere Qualität soll Kosten sparen. Können Sie das bestätigen?
Eine unabhängige Studie hatte gezeigt, dass wir vergleichbare Patienten etwa zwanzig Prozent günstiger behandeln. Weniger Kosten hatten wir vor allem bei den Medikamenten, dann bei den Labors und den Röntgenuntersuchungen. Die Behandlungsresultate waren in beiden Gruppen identisch.

Aus Erfahrung wissen Hausärzte, welche Augenärzte, Neurochirurgen oder Orthopäden die besten sind. Tauschen die Ärzte des Netzwerks ihre Erfahrungen aus und empfehlen den Patienten stets die besten Spezialisten?
Wir machen keine formelle Benotung und führen keine Listen. Jeder Arzt ist in seiner Empfehlung frei. Aber wie andere Ärzte kennen wir die besten Spezialärzte und versuchen, diese zu bevorzugen.

Kann ein Ärztenetzwerk den Qualitätswettbewerb unter den Spezialisten fördern?

Ja, sofern ein Netzwerk viele Versicherte hat, und wenn die Patienten ein grosses Vertrauen in die Ärzte des Netzwerks haben.
In den andern Kantonen der Westschweiz sind die meisten Ärzte immer noch Alleinkämpfer in Einzelpraxen, die in keinem Netzwerk integriert sind. Warum hat Ihr Beispiel so wenig Nachahmer gefunden?

In einigen Kantonen gibt es immer ältere und immer weniger Grundversorger. Die meisten haben ihre Praxis jeden Tag voll und wollen möglichst wenig mit den Kassen zu tun haben. Zudem sind sie in den kantonalen Ärztegesellschaften integriert, welche von Spezialisten dominiert sind. Das Hausarztmodell kann sich dort schwer durchsetzen.

Noch einen Blick in die Zukunft: Welche Rahmenbedingungen würden die Behandlungsqualität in Ihren Augen noch weiter verbessern?
Zuerst hoffe ich, dass der Gesetzesvorschlag zur Förderung der integrierten Ärztenetzwerke und der Gruppenpraxen HMO in der ursprünglichen Fassung durchkommt. Er enthält auch einen verbesserten Risikoausgleich unter den Kassen, damit Chronischkranke oder Menschen mit einem allgemein schlechten Gesundheitszustand nicht mehr diskriminiert werden.

Marc-André Raetzo

hat zusammen mit Philippe Schaller im Jahr 1989 die ärztliche Gruppenpraxis Onex GE gegründet sowie zwei Jahre später das integrierte Ärztenetzwerk Delta in der Region Genf. Der 58-jährige Allgemeinpraktiker ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er arbeitet in der Genfer Vorortsgemeinde Onex.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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