Kommentar

Sprachlust: Armutsbetroffen mit und ohne Armut

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Betroffen sind auch solche, die es nicht sind: Was andere plagt, macht sie «betroffen» – und mitleidig reden sie von «Betroffenen».

Von Armutsbetroffenen ist seit einigen Jahren öfters die Rede, besonders seit die Caritas mit einer Kampagne das oft ausgeblendete Thema Armut ausleuchtete und dabei das neue Wort auch selber brauchte. Die löbliche Absicht dürfte sein, einen Ausdruck zu verwenden, der die Betroffenen möglichst wenig stigmatisiert, sie nicht mit einem Makel behaftet. Bei anderen etwas umständlichen Bezeichnungen geht es meist darum, ein geschlechtsneutrales Wort zu finden. Dieses Motiv entfällt hier: Der Arme und die Arme klingen gleich, und sie sind im Plural als die Armen vereint.
Doch diese Armen wären, so bezeichnet, auch gleich in eine Kategorie eingeteilt, die definitiv anmutet und deren Zugehörigen eine Identität zuschreibt. Da ist es zum hartherzigen Spruch, «die Armen sind selber schuld», womöglich nicht mehr weit. Anders ist es, oder soll es zumindest sein, wenn wir von Armutsbetroffenen reden: Das innere Auge soll Menschen sehen, die zurzeit von Armut betroffen sind, aber auch noch andere Eigenschaften haben. Und die Identität liegt in den dauerhaften Qualitäten, während die Armut zum Verschwinden gebracht werden soll.
Neuer Name, altes Problem
Ähnlich legen medizinische Fachleute etwa Wert darauf, nicht von Dementen zu reden, sondern von Demenzkranken: Diese bleiben, selbst wenn sie von einer unumkehrbaren Krankheit befallen sind, in erster Linie Menschen, und sie dürfen nicht auf dieses Leiden reduziert werden – nicht in der Behandlung und nicht in der Bezeichnung. Allerdings ist es ein mühseliges Unterfangen, Einstellungen zu verändern, indem man das Vokabular verändert: Wer Demente gering schätzt, wird Demenzkranke kaum besser respektieren. Und er wird sich auch nicht davon beeindrucken lassen, dass neuerdings «Menschen mit Demenz» als korrekte Bezeichnung gilt.
Denn negative Wahrnehmungen können sich auch auf die neuen Bezeichnungen übertragen: Wer gelernt hat, vom Down-Syndrom zu reden, geht dadurch nicht unbedingt freundlicher mit einstigen Mongoloiden um. Und er muss ohnehin wieder umlernen: Man nennt die genetische Abweichung heute, vielleicht weil Syndrom zu stark nach Krankheit tönt, Trisomie 21.
«Das macht mich betroffen» – wirklich?
Die Trisomiebetroffenen dürfen so wenig ausgegrenzt werden wie die Armutsbetroffenen. Gemäss einer neueren Verwendung von «betroffen» sollten ohnehin alle mitbetroffen sein: «Es macht mich betroffen» heisst ja so viel wie «es berührt mich tief». Aber man kann das auch ausdrücken, ohne sich als «betroffen» zu bezeichnen, wenn man nicht im herkömmlichen, direkten Sinn betroffen ist: wenn das fragliche Schicksal also nicht einen selber getroffen hat. Und den wirklich Betroffenen ist wohl ebenfalls besser gedient, wenn man sie nicht mit verbalen Plastikhandschuhen anfasst, sondern sie zum Beispiel als arme Leute bezeichnet und verständnisvoll behandelt.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 25.07.2015 um 10:15 Uhr
    Permalink

    Die Ausdrucksweise «das macht mich betroffen» drückt also eher Hilflosigkeit aus als – wenn es das gibt – unfreiwillige Verlogenheit.

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