Kinderarbeit. Unicef

Kinderarbeit: Konzerne weigern sich, die Konsumentinnen und Konsumenten über ihre Lieferketten und die Arbeitsbedingungen zu informieren. © Unicef

Auf Jean Ziegler folgt Marc Chesney

Urs P. Gasche /  Grossbanken und Schattenbanken betreiben einen «Raubtierkapitalismus», schreibt der frühere Finanzprofessor der Universität Zürich.

Als Rebell und Drittweltvertreter der ersten Stunde hatte der Genfer Soziologieprofessor Jean Ziegler, 91, sein Leben lang gegen Ungerechtigkeit und Leid gekämpft – verursacht durch den «Raubtierkapitalismus».

In seinem 1976 veröffentlichten Buch «Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben» griff Ziegler die Eliten des Landes frontal an. Er stellte Schweizer Grossbanken und Konzerne an den Pranger, weil sie Profite auf Kosten der Ärmsten gemacht und die politischen Institutionen für sich gekapert hätten. 

Fast fünfzig Jahre später fordert jetzt Marc Chesney, bis 2024 Finanzprofessor an der Universität Zürich: «Raus aus dem Finanzcasino-Wirtschaft.» Der «Raubtierkapitalismus» sei verantwortlich für den Klimawandel, den Verlust der Artenvielfalt sowie die Umweltverschmutzung im grossen Stil, für unerträgliche soziale Ungerechtigkeiten, ständige Kriege und die steigende Gefahr eines Weltkriegs. 

Schon gar nicht sei der herrschende Kapitalismus in der Lage, diese existenziellen Probleme zu lösen. Vielmehr verdamme uns dieser «Kapitalismus in seiner libertären Spielart» dazu, von einer Katastrophe in die nächste zu schlittern.

Das schreibt Marc Chesney in seinem neusten Buch «Stopp – Gegen die Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur».*


«Reichtum und Macht in der Hand von wenigen oder eine Diktatur der Oligarchie»

Chesney erinnert an die französische Revolution von 1789, die alle Privilegien abschaffen wollte. Das sei «heute aktueller denn je». Die Macht der Super-Reichen mit ihren angehäuften Vermögen gehe in Richtung einer «Diktatur der Oligarchie». 

Das Vermögen von Elon Musk beispielsweise habe nach Trumps Wahlsieg in wenigen Wochen einen Sprung um 70 Milliarden auf über 400 Milliarden Dollar gemacht. Für Chesney sind Musk (Tesla, X), Jeff Bezos (Amazon und «Washington Post»), Mark Zuckerberg (Meta) und andere Milliardäre «skrupellose Herrscher». 

Die «schwerreichen Bonzen» würden aus der Zerstörung der Natur und aus Kriegen enorme kurzfristige Gewinne erzielen. Langfristig werde zwar nicht viel zum Ausbeuten übrigbleiben: «Aber bis dahin ist der Verkauf von Pestiziden, Massenvernichtungswaffen, Opioiden, Geländewagen, Klimaanlagen, toxischen Finanzprodukten und allerlei Ramsch extrem lukrativ und der Besitz von Privatjets und Superjachten eminent befriedigend.»

241130 Blick Superreiche

Für Chesney ist es «grotesk und unerträglich», dass «zwielichtige Figuren mit ihrer Gier nach Kapital und überbordendem Luxus von etlichen Medien in den Himmel gelobt werden», während «mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung unter schwierigen, ja elenden Bedingungen überleben» müsse.

Der «libertäre Neoliberalismus» sei eine «radikalisierte Form des Kapitalismus»: «Die Oligarchie, ihre Konglomerate und ihre Finanzkonzerne herrschen völlig unkontrolliert und undemokratisch im Namen der sogenannten freien Märkte: absolute Freiheit für die Mächtigen und absolute Knechtschaft für den Rest.»

Im Namen des Privateigentums würden die herrschenden Oligarchen dem grössten Teil der Menschheit jegliches Eigentum vorenthalten: «Was besitzen denn die Milliarden Menschen, die mit weniger als 10 Dollar am Tag überleben müssen?» 


«Grenzenlos arrogant»

Chesney weiter: «Nie zuvor in der Geschichte hat sich in so kurzer Zeit so viel Vermögen in so wenigen Händen konzentriert […] Der winzige Anteil der Weltbevölkerung, der daraus Profit zieht, verhält sich zynisch, ja geradezu grenzenlos arrogant.»

Die «ungeheuerliche Bündelung» von Reichtum und Macht hat laut Chesney im Wesentlichen zwei Ursachen:

  1. Der Finanzsektor unterjoche die Wirtschaft. In Wirklicheit regieren würden systemrelevante Banken, die Schattenfinanzwelt, Vermögensverwaltungskonzerne (wie Blackrock oder Vanguard) sowie die Zentralbanken. 
    Die Zentralbanken pumpten besonders während Finanzkrisen oder während der Covid-19-Pandemie riesige Mengen an Liquidität in die Finanzmärkte, um einen plötzlichen Zusammenbruch des Systems zu verhindern: «Die angeblich freien Finanzmärkte stehen zunehmend unter der Vormundschaft der Zentralbanken.»
  2. Die Digitalisierung der Wirtschaft, häufig als Fortschrittsfaktor dargestellt, führe oft zu noch mehr Kontrolle, noch mehr Energiebedarf, noch mehr Profit für die Tech-Oligarchen – während die Natur geplündert werde. 
    «In einer gut organisierten nachhaltigen Gesellschaft sollte eine digitalisierte Wirtschaft mehr Freizeit und Freiheit schaffen. Im neoliberalen Umfeld jedoch trägt sie zu mehr Elend, Prekariat, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit bei.»
    Ausserdem spioniere der Überwachungs-Kapitalismus die Bevölkerung in beträchtlichem Umfang aus. Für diese Arbeit im Dienste des Staates erhielten die Tech-Oligarchen noch Subventionen.

Chesney ortet einen «eklatanten Widerspruch zu den Prinzipien der freien Märkte und der Individualität, auf die prominente Politiker und Vertreter der Finanzwelt, Wirtschaft und der Informationstechnologien so gern verweisen». Die heutige «Marktwirtschaft» (in Anführungszeichen) führe in Wirklichkeit zu einer «masslosen Ungleichheit zwischen einer Mehrheit der Weltbevölkerung, die in prekären Verhältnissen oder sogar in absoluter Armut lebt, und einer Kaste von Oligarchen, die sich als die Herren der Erde aufspielt, sie nach Gutdünken verschmutzt, zerstört und unzählige Reichtümer anhäuft».

Im Gewand des Liberalismus würden die Despoten eine Diktatur durchsetzen: «Sie nehmen sich das Recht, die Umwelt zu verschmutzen, die Natur in grossem Ausmass zu zerstören, die Treibhausgasemissionen weiter in die Höhe zu treiben, grotesken und irrsinnigen Reichtum in wenigen Händen zu konzentrieren und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Mehrheit der Menschen zu verschlechtern – das ist de facto eine Diktatur.»

Die Oligarchen würden die staatliche Gewalt nach Belieben missbrauchen. Sie würden ihre Vorteile sichern und das Allgemeinwohl mit Füssen treten. Die Demokratie sei nur noch eine Maske, um den Despotismus zynischer Oligarchen zu übertünchen: «Alle vier oder fünf Jahre zu wählen, reicht als Merkmal für eine Demokratie nicht aus.»

241001 NZZaS 1
«NZZ am Sonntag» vom 1. Januar 2024


«Der libertäre Neoliberalismus droht die Menschheit in den Abgrund zu reissen»

Der Kapitalismus in seiner heutigen Ausprägung als libertärer Neoliberalismus sei «völlig ausser Kontrolle» geraten und könne «die Menschheit in den Abgrund mitreissen»: Alle Warnlampen würden rot blinken: «Klimawandel, Umweltverschmutzung, Kollaps der Gesundheitssysteme wegen Pandemien, diverse bewaffnete Konflikte, die Finanzkrisen und die absurde Zunahme der sozialen Ungerechtigkeiten.»

Die Oligarchie sei nicht fähig, diese Probleme zu lösen, sondern beute Mensch und Natur rücksichtslos aus: «In den Augen der konventionellen Ökonomen sind die Wirtschaft und die damit verbundene Gesellschaftsordnung den Märkten unterworfen. Das erklärt ihren herablassenden Blick auf alle anderen Geisteswissenschaften.»

Der libertäre Neoliberalismus «verträgt sich ausgezeichnet mit dem islamistischen Despotismus, gerade auch demjenigen in den Golfstaaten», schreibt Chesney. «Die westlichen Regierungen verkaufen ihnen eifrig Waffen und verschliessen die Augen vor den Massakern, die damit verübt werden.»


Abhängige Wirtschaftsprofessoren

An vielen Wirtschaftsfakultäten hänge die «akademische Anerkennung davon ab, ob man in der Lage ist, seinen Posten sponsern und seine Forschung von grossen Finanzinstituten oder von Industriekonzernen finanzieren zu lassen». Professoren, die nicht selber gesponsert werden, würden oft «nichts sehnlicher wünschen, als ebenfalls davon zu profitieren». Die Folge davon sei eine akademische Gefälligkeit, wie sie beispielsweise die «Uber-Files» aufgedeckt hätten. «Kaum jemanden scheint es zu stören, wie unwürdig das Spektakel ist.»

Dabei sollten diese Professoren – so Chesney – das öffentliche Interesse im Auge behalten und die übermässige Macht des Finanzsektors und die damit verbundene Uberisierung der Wirtschaft kritisch analysieren. 

Doch die klassische Wirtschaftswissenschaft sei unfähig, die schweren Krisen als Folge eines toxischen Systems zu begreifen: «Ihre Modelle sind fehlerhaft und unterschätzen komplett die Gefahren, die von der Erderwärmung oder dem Verlust der Artenvielfalt ausgehen.»

Die relativ neue Disziplin der Finanzwissenschaften versage in dieser Hinsicht komplett: «Die Lehrpläne riechen modrig und die vermittelten Konzepte befinden sich in einem Zustand fortgeschrittener Verwesung.» Die Lehrpläne würden beispielsweise nicht thematisieren, dass «viele Finanzprodukte toxisch sind und dass ihre Komplexität ein Profit- sowie ein Machtfaktor sind».

Kaum kritisch analysiert würden auch die immensen Staatsschulden und Zinszahlungen auf internationaler Ebene. «Diese werden von all den Steuerzahlenden beglichen, die sich keine Berater für Steueroptimierung leisten können.» Sie seien das Resultat der neoliberalen Politik der letzten vierzig Jahre.

Diese Politik bereite den Boden für das Erstarken rechtskonservativer libertärer Bewegungen wie Milei in Argentinien oder die AfD in Deutschland.


Eine scheinheilige CO2-Politik

Der «kapitalistische Neoliberalismus» schaffe es nicht, die menschengemachte Erwärmung der Erde zu bremsen. Noch immer würden Staaten fossile Brennstoffe mit jährlich etwa 7 Billionen Dollar subventionieren, statt diese Summen für die Energiewende einzusetzen. Das Medienspektakel über die Klimakonferenzen sei «zynisch und scheinheilig». Die zur Schau gestellte Sorge um den Klimawandel entpuppe sich als Heuchelei: «Grossbanken geben Unternehmen wie Shell und TotalEnergies weiterhin grosszügige Kredite, welche zu einer schamlosen Ausbeutung der Ressourcen und damit zu einer irreparablen Zerstörung der Natur führen.» 

Dazu passe, dass Finanzkonzerne – auch schweizerische – brasilianische Agrarkonzerne wie BrasilAgro oder Marfrig finanzieren, die sich am illegalen Abholzen des Urwalds beteiligen.

«Nachhaltigkeit» sei im Finanzwesen «ein perfider Etikettenschwindel, hinter dem eine skrupellose Zerstörung von Natur und Klima steckt». Grossbanken würden fossile Brennstoffe finanzieren und Konzerne wie Blackrock oder Vanguard in solche Bereiche investieren. Beide seien auch in das Herstellen von Massenvernichtungswaffen involviert. Von den militärischen Aktivitäten rede kaum jemand, obwohl sie weltweit zu etwa 5,5 Prozent aller Treibhausemissionen beitrügen.

Schliesslich würden Grossbanken und die Oligarchen die «Augen davor verschliessen, dass Kriege, Erderwärmung und Armut zu den Migrationsströmen in Richtung der westlichen Länder führen».

Marc Chesney kommentiert sarkastisch: «Auf keinen Fall einschneidende Massnahmen durchsetzen, sondern sich zwischen zwei Glas Champagner heuchlerisch um den Zustand der Natur und den Klimawandel sorgen. So verhalten sich die meisten der Regierenden und die Chefs von Konzernen und systemrelevanten Banken.»

Es brauche einen «echten Paradigmawechsel, um die Wirtschaft in den Dienst der Menschen zu stellen und ihren räuberischen und zerstörerischen Charakter zu nehmen».


Radikale Massnahmen

So wie sich manche wundern, dass viele die Willkür und die Gesetzesverstösse des US-Präsidenten einfach hinnehmen und Politiker und Wirtschaftsführer sogar den Bückling vor Trump machen, so wundert sich Marc Chesney noch viel mehr darüber, dass so viele es einfach hinnehmen, dass einige Menschen ein Milliardenvermögen anhäufen und eine riesige Macht und Kontrolle auf gewählte Regierungen und Parlamente ausüben können. Dabei sollten Regierungen und Parlamente eigentlich die Interessen der Bevölkerung vertreten.

Damit die Finanzwelt und die Wirtschaft künftig nicht mehr den Oligarchen zudiene, sondern den normalen Menschen, skizziert Marc Chesney folgende Lösungsansätze:

  1. Keine Rückzahlung der Schulden an grosse Banken und Hedgefonds, die sich auf Kosten der Ärmsten bereichern. Nur ein solcher Schuldenerlass könne die wachsende Unsicherheit und die Prekarität verringern.
  2. Finanzwetten und toxische Finanzprodukte verbieten, um Macht und Einfluss des Finanzcasinos zu beschneiden. Nur so werde das Finanzcasino entmachtet, das uns alle in Geiselhaft halte.
  3. Einführung einer Mikrosteuer auf das exorbitante Volumen elektronischer Transaktionen. Mit den Einnahmen könne man die Mehrwertsteuer auf Güter der Grundversorgung abschaffen.
  4. Die Monopol- und Kartellmacht der fünf grössten und einflussreichsten US-Techkonzerne Alphabet (Google), Apple, Meta (Facebook), Amazon und Microsoft brechen.

*Marc Chesneys Buch

Buch-Cover Chesney

«STOPP – gegen Kasino Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur»
Westend-Verlag, 2025, 
20 Euro24.80 CHF

Aus dem Verlagstext: «Für alle lebenswichtigen Bereiche blinken die Warnleuchten rot: Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Umweltverschmutzung im grossen Stil, unerträgliche soziale Ungerechtigkeiten, ständige Kriege und die stetig steigende Gefahr eines Weltkriegs. Die Liste ist erschreckend und der Kapitalismus in seiner libertären Spielart verdammt uns dazu, von einer Katastrophe in die nächste zu schlittern. Die Wirtschaftswissenschaft braucht dringend neue Paradigmen und Konzepte gegen die zynische Finanzkasinowirtschafts-Oligarchie, um das Gemeinwohl wirklich zu fördern, sagt Marc Chesney. Noch ist Zeit zu reagieren, um die uns überrollende Dampfwalze zu stoppen. Sein Buch zeigt dafür die Lösungsansätze auf.»

«STOP – Alarme contre la finance casino et la marchandisation du vivant»
Editions d’en bas, 2025, 
16 Euro16 CHF

«Stop: Alarma contra la mercantilizacion y destrucción de lo vivo»
Carena Editores, 14 Euro

Gespräche mit Marc Chesney und Diskussion
3. September 2025, 12.30-13.30, Paulus Akademie Zürich, Pfingstweidstrasse 28
9 septembre 2025, 18.30-20.30, Pôle Sud, Lausanne, Avenue Jean-Jacques Mercier 3
23 septembre 2025, 19.00-19.00, Genève, 34 rue de Carouge.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120107um17_56_48

Die Demokratien im Stress

Die Finanz- und Politkrisen setzen den Demokratien im Westen arg zu. Auch mit der Gewaltenteilung haperts.

Konzerne_UggBoyUggGirl

Die Macht von Konzernen und Milliardären

Wenn Milliarden-Unternehmen und Milliardäre Nationalstaaten aushebeln und demokratische Rechte zur Makulatur machen.

Bildschirmfoto20180909um13_36_58

Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...