KunstPolitik

East Side Gallery, Berlin © Jm

Kunst & Politik = Sich das ganz andere vorstellen

Jürgmeier /  PolitikerInnen wählen und es kommen KünstlerInnen oder KünstlerInnen wählen und es kommen PolitikerInnen. Eine Fiktion.

Ich stelle mir vor, am 18. Oktober 2015 würden zwei, drei, vielleicht sogar ein paar KünstlerInnen ins nationale Parlament gewählt. EineR sass, so www.parlament.ch, schon drin. Am meisten aber wurden von den bisherigen Stände- und NationalrätInnen folgende Berufe als ausgeübte angegeben: Politische Tätigkeit (54), Beratung (25), Industrie und Gewerbe (23), Verbände und Gewerkschaften (20), Land- und Forstwirtschaft/Tierzucht (18), Unterricht und Bildung (18) beziehungsweise Rechtswesen (17).

Ich stelle mir vor, das Amt verwandelte die wenigen gewählten KünstlerInnen nicht, sie übernähmen nicht den gemessenen Schritt, nicht die bedeutungsvolle Gebärde, nicht die digitale Sprache derer, die es vom politischen Niemand zum Jemand gebracht haben, und sie blieben, was sie, vor ihrer Wahl, waren – KünstlerInnen.

Der Choral der Verängstigten oder der Rap von Utopia

Ich stelle mir vor, dass eine oder einer von ihnen in der Debatte über die Regelung der Prostitution Gedichte vom Ende und vom Anfang der Liebe zu rezitieren beginnt. Bei der Differenzbereinigung irgendeines Waffenausfuhrgesetzes spritzendes Blut und aus Kopfwunden quellende Hirne an die Wände des Nationalratssaals sprayt. Anlässlich der Anpassung der Laufzeiten von Atomkraftwerken den Choral der Verängstigten aus der Oper «Der Schrei» anstimmt. Im Rahmen der Diskussion über die 24. Asylgesetzverschärfung in einem Dramolett Angst & Hoffnung der Flüchtenden sowie Furcht & Zuversicht der in der Gemütlichkeit Lebenden aufeinanderprallen lässt. Als es wieder einmal um die Pränataldiagnostik geht, aus dem Roman vorliest, in dem ein Kind die zweifelhafte Hinterlassenschaft erwachsener Welten und das zwiespältige Geschenk dieses Lebens ausschlägt. Kurz vor der Abstimmung über den AHV-Kompromiss das Pamphlet des Zweiflers verliest. Und alle immer wieder leise den Rap von Utopia summen.

Ich stelle mir vor, wie die anderen ParlamentarierInnen einer nach der anderen ihre Tablets & Notebooks zuklappen sowie ihre Smartphones weglegen, um zuzuschauen & zuzuhören. (Was, so SP-Nationalrat Andreas Gross in seiner womöglich letzten Arena am 9. Oktober, im Nationalratssaal kaum mehr passiere; kein Geschäft, bei dem das Abstimmungsresultat nicht schon vor Beginn der parlamentarischen Diskussion klar sei.) Und irgendwann, so stelle ich mir vor, beginnen auch sie über ihre Ängste zu reden, ihre Zweifel auszusprechen und in den anschwellenden Gesang von der Welt, die allen Menschen zur Heimat wird, einzustimmen.

Politik ist…

Politik beziehungsweise das, was sich als Politik gebärdet und dafür gehalten wird, gleicht dem Pfeifen im dunklen Wald – keine Angst, keine Panik, wir haben alles im Griff und für alles eine Lösung, eine einfache & abgewogene, natürlich immer in den Verhältnissen, wie sie nun mal sind. Politik kennt weder Angst noch Zweifel. Ist zu Zuversicht & Hoffnung verdammt. Wie auch immer die Erde sich dreht & wendet. Verwässert klare Ansagen. Verkocht Komplexitäten & Widersprüchlichkeiten zu digitaler Kost. Schafft Eindeutigkeiten. Weiss, was zu tun ist. Und entscheidet. So oder so. Ja oder Nein. Handelt. So und nicht anders. Taten statt Worte.

Kunst gibt der Angst, dem Zweifel und der Utopie eine Stimme. Sie macht alles komplizierter & komplexer. So, wie es ist. Sie richtet den Blick auf Welten & Wirklichkeiten, beharrlich & gnadenlos. Verweigert sich den Verdrängungsprozessen unserer Spasskultur, die den gesamten Alltag, alle Bereiche unserer Gesellschaft imprägnieren. «Wir amüsieren uns zu Tode» (Neil Postman). Wobei selbst die so genannte Populärkultur, Kitsch inklusive, an das erinnert, was auch möglich gewesen wäre. Daran, dass (kindliche) Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen keine Illusionen sind, sondern Darstellungen dessen, was auch vorstellbar wäre, wenn wir die Macht des Faktischen und die Herrschaft des Ökonomischen nicht bis in den letzten Winkel der Welt und in alle Ritzen individueller Psychen vordringen liessen. Lustig ist das nicht. Die Erinnerung an die Utopie ist schmerzlich. Sie reisst den Graben zwischen Wunsch & Wirklichkeit auf. Und über diesen Graben führt nur die Trauer.

… Kunst ist …

Kunst ist nicht eindeutig, nützlich, lösungsorientiert. Kunst entscheidet & handelt nicht. Nicht nach Vorgabe. Nicht in gegebenen Realitäten. Kunst – das ist der ins Wasser geworfene Stein, der unberechenbare Wellen wirft. Kunst ist der Ort, wo andere Leben gelebt sowie andere Welten skizziert werden. Kunst ver-rückt Blickwinkel. Malt Möglichkeiten, ver-rückte, an die Wand. Wirbelt Perspektiven durcheinander, verlässt das Gewohnte und begibt sich auf unbekannte Wege, womöglich ohne festes Ziel und klaren Zweck. Könnte alles ganz anders sein, als es scheint? Könnten wir es auch ganz anders machen, als wir es immer gemacht haben? Das sind die kreativen Grundfragen. Ist die Welt so dualistisch wie unser Denken? Gibt es das eine nicht ohne das andere – Oben & Unten, Mann & Frau, Krieg & Frieden, Licht & Schatten, Leben & Tod? Ist eine Welt, in der gestorben wird, was das Zeug hält, tatsächlich die beste aller denkbaren Welten? Kunst spiegelt Realitäten und denkt sie weiter, ohne zu fragen, wo das endet. Wer sich die Welt anders, als friedliche, gerechte und zweieckige, sich ein Leben ohne Leiden, Verfall und Laubbläser vorstellen kann, ändert die Welt ein klein wenig.

Worte statt Taten oder Taten statt Worte – Ein gewaltiges Dilemma

Kann Kunst, kann Kreativität die Welt aus den Angeln heben? Wie sähe die Kopernikanische Wende für die soziale beziehungsweise die ökologische Frage, Krieg, Terror und Flucht aus, der visionäre Wurf, der kreativ aus dem verzweifelt-ptolemäischen Aktivismus herausführte, der versucht, alles innerhalb vorgegebener Verhältnisse und vertrauter Denkschemata mit immer gleich neuen Massnahmen beziehungsweise Verordnungen zu lösen?

Das Durchschlagen des als unlösbar geltenden Gordischen Knotens ist es nicht. Die Faszination des scheinbar einfachen «Taten statt Worte» unterschlägt, dass das Problem mit diesem Schwertschlag alles andere als gelöst ist; der Riemen, mit dem ein Joch an der Deichsel befestigt war, ist hinterher nicht mehr brauchbar. Stellen Sie sich BergsteigerInnen vor, die sich bei gefrorenem Knoten im Sicherungsseil, zum Beispiel im so genannten Göttergang in der Eigernordwand, der Alexandertechnik bedienen. Der Zwang zu handeln, verführte Alexander den Grossen zu einer Lösung, mit der er das, was er eigentlich entwirren wollte, zerstörte – ein Lösungsmuster, das patriarchale Kultur prägt. Die Nationalsozialisten bezeichneten selbst den Massenmord noch als «Endlösung der Judenfrage». Gewalt erscheint, insbesondere, aber nicht nur, Männern in Konflikten als einfache Lösung, als aktives Handeln, im Gegensatz zur feigen Passivität, als Zauberstab, der die Welt in meine, in eine bessere Welt verwandelt. Der Zwang zur Tat ist, auch, ein Zwang zur (vertrauten) Gewalt. Das Gesetz des Handelns schickt Soldaten (und manchmal auch Soldatinnen) in den Krieg. Um ihn zu beenden. Aber Gewalt schreibt das Gesetz der Gewalt fort. Alle schlagen immer nur zurück.

Allerdings: Gewalt ist – in dieser Welt, und da führt auch das «Worte statt Taten», «Verhandeln statt Bomben» nicht einfach ins Gelobte Land. «Nie wieder Auschwitz» oder «Nie wieder Krieg». Wie finden wir aus diesem gewaltigen Dilemma? «Die kreative Vernunft ist die Gegenkraft zu Angst und Gewalt, die immer komplementär sind», schreibt die Philosophin und Psychoanalytikerin Maja Wicki-Vogt in ihrem gleichnamigen Buch, «die kreative Vernunft, die den einzelnen Menschen, der sich gegen den grossen Strom, gegen Enttäuschungen und Erschöpfung zu halten versucht, trägt und manchmal gar beflügelt.»

Sind die Bedingungen, unter denen politische Entscheidungen gefällt werden müssen, der Vernunft und der Kreativität zuträglich? Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung? Der Alltag von ParlamentarierInnen und MinisterInnen – die von Finanzkrisen über Klimawandel, Rüstungsgeschäfte und Rentenverordnungen zum nächsten weltpolitischen Brennpunkt oder an eine Wieder-Wahl-Kampf-Veranstaltung jetten, um dann unter irgendeinem Rettungsschirm das nächste Entwicklungskonzept oder eine neue Verordnung für Gurken zu unterzeichnen. Und würden kreative Lösungen eine schweizerische Volksabstimmung überstehen?

Denken & Handeln – Kunst & Politik

Ganz digital: Politik ist Handeln. Kunst ist Denken. Das erinnert mich an ein Gespräch mit einem Zürcher Bankier, vor vielen Jahren, an irgendeinem Wirtshaustisch. Er hatte sich, alt geworden, auf den Sitz des Verwaltungsratspräsidenten seiner Privatbank zurückgezogen, um sich nur noch der Förderung von Kultur & Kunst zu widmen. Beobachtete «mit grossem Unbehagen» die «knallharte Geschäftspolitik» seiner Söhne. «Wissen Sie», sagte er zu mir. «Denken ist das Privileg des Alters.» Jetzt habe er wieder Zeit dazu. Jetzt, da er nicht mehr für den Cash-Flow seiner Bank verantwortlich war, konnte er sich wieder Gedanken (und «Moral») leisten. Was er natürlich so nicht aussprach.

Würde die Wahl von KünstlerInnen, sogar von ein paar wenigen, einen Dialog zwischen Denken und Handeln initiieren? Zu ergebnisoffenen Diskursen im Hier & Jetzt des Parlaments in Bern führen? Dazu, dass die Beteiligten den Gedanken, dass es auch ganz anders sein könnte, nicht nur denken, ihn auch spüren und das ganz andere zum Ziel ihres Handelns machen könnten? Würden so PolitikerInnen auch zu ver-rückten KünstlerInnen und KünstlerInnen auch zu ernsthaften PolitikerInnen? Wer wissen will, welche Wellen die Wahl von KünstlerInnen für ein politisches Amt provozieren würde, muss den Stein werfen und einige von ihnen auf den Wahlzettel schreiben. Im Kanton Zürich, zum Beispiel, haben sie sogar eine eigene Liste, die KünstlerInnen – Kunst + Politik.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Jürgmeier kandidiert (gefahrlos) auf Platz 27 der Liste «Kunst + Politik» im Kanton Zürich

Zum Infosperber-Dossier:

Nationalratssaal_Bundeshaus

Parteien und Politiker

Parteien und Politiker drängen in die Öffentlichkeit. Aber sie tun nicht immer, was sie sagen und versprechen.

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3 Meinungen

  • am 13.10.2015 um 14:53 Uhr
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    Kultur und Politik

    Zum Glück haben Kulturschaffende in den letzten Jahrzehnten an Einfluss auf die Politik verloren. Das Schüren von Emotionen, falsche Bilder, undifferenzierte Darstellungen von politischen Konflikten und das einseitige Partei ergreifen tragen leider nichts dazu bei, politische Probleme zu lösen. Dazu braucht es Nüchternheit, sachliches Abwägen der Positionen und eine unaufgeregte Diskussion. Alles langweiliges Zeug, also nichts für Kulturschaffende.

  • am 14.10.2015 um 15:10 Uhr
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    Es geht auch den Kulturschaffenden nicht anders als den Vertretern von Bauern, Pharma, Bau und Banken im Parlament darum, ihren Interessen zum Durchbruch zu verhelfen, die da sind: Subventionen für Kunst und Kultur. Dabei wird kaum für eine wirtschaftlich ineffiziente Folge von Förderung so viel Geld verlocht wie in der sog. Kunst. Die Kulturlobby ist im Parlament schon sehr gut vertreten, was die diversen Entscheide zugunsten weiterer Kulturförderungen in der nun ablaufenden Legislatur beweisen. Die Schweiz braucht Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die das Steuersubstrat mit Augenmass und Zurückhaltung ausgeben und sich angesichts der finanziellen Situation im Staat den Nice-to-have-Kulturexperimenten versagen.

  • am 18.10.2015 um 16:35 Uhr
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    Es gibt nichts Widerwärtigeres als Politiker, die sich dafür einsetzen, dass ihre Firmen und Betriebe von Steuergeldern schmarotzen dürfen. Wirtschaftshilfe ist keine Staatssache, denn die Wirtschaft soll sich um ihren «freien Markt» kümmern. Umso perfider ist, wenn man den Künstlern verbietet, sich ebenso für ihre Eigeninteressen einzusetzen. Nur ist Kultur eben viel mehr, deren Resultate sich nicht durch ein Preissystem berechnen lassen. Wer Kultur durch den Filter der Ökonomie betrachtet, hat im Grunde auch nichts von Ökonomie verstanden. Es gibt auch Werte, die keine Preise sind, und daher vom Staat gepflegt werden sollen.

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