Chongqing: Vibrierendes Leben in der grössten Stadt der Welt
Red. «In Chongqing sind Mut, Aufbruchstimmung und Optimismus mit Händen zu greifen, keine Spur von Frust und Unzufriedenheit.» Das schreibt NZZ-Chinakorrespondent Matthias Kamp am 31. Mai 2025 aus der Stadt am Yangtse-Fluss. Sie liegt im Landesinneren etwa 1700 Kilometer von Shanghai entfernt.
Kamp berichtet von einer Buchhandlung, die Bücher über Feminismus oder über die Geschichte der Sexualität des Philosophen Michel Foucault verkauft. Die Buchhandlung organisiere auch kontradiktorische Debatten über den Ukraine-Krieg, den Feminismus, die Todesstrafe, die Sterbehilfe oder über die Leihmutterschaft. Die meist jungen Teilnehmenden könnten sich entscheiden, ob sie sich dem Pro- oder dem Contra-Lager anschliessen möchten. Wer wolle, könne auch Mitglied der Jury werden, die am Schluss bekanntgibt, welches Lager die besseren Argumente gehabt habe. «Es sind hochpolitische Diskussionen, wie sie sonst in China wohl kaum stattfinden», meint Kamp.
Infosperber hatte die 32-Millionen-Stadt am 27. Januar 2024 vorgestellt. Hier nochmals der Bericht.
Chongqings Hügel formen sie zur 3D-Stadt

32 Millionen Menschen wohnen in Chongqing, der Megacity im Südwesten Chinas. Es ist flächenmässig die grösste Metropole der Welt. Mit 82’403 Quadratkilometern hat das Stadtgebiet die Ausdehnung ganz Österreichs. Es entstand am 14. März 1997 durch Abtrennung vom östlichen Teil der Provinz Sichuan und Eingemeindung der umliegenden Grossregion. Seither explodierte die Bevölkerungszahl förmlich.
Obwohl im Westen noch kaum bekannt, ist Chongqing für Chinesinnen und Chinesen längst ein Touristenmagnet. Das liegt – neben dem ausschweifenden Nachtleben – nicht zuletzt an der imposanten Lage des Cityzentrums am Zusammenfluss von Jangtsekiang und Jialing Jiang.

Besonders aber die hügelige Struktur sorgt für viele spektakuläre Aussichten und Fotosujets. Die Stadt bietet nicht nur Breite, sondern auch Höhe und Tiefe. Die urbane Architektur spielt meisterhaft mit der Vertikale und verleiht Chongqing nicht umsonst den Beinamen «Bergstadt». Über unzählige Treppen und Lifte verkehren die Menschen im Gewirr der dicht bebauten Innenstadt. Dies dokumentiert anschaulich die ZDF-Videoreportage «Megacitys – Wenn es Nacht wird in Chongqing».

Spektakulär ist ein grosser Platz, der auf drei Seiten von diversen Hochbauten gesäumt ist. Auf der vierten Seite jedoch geht der Blick 22 Stockwerke hinunter in Strassenschluchten – denn der Platz ist gleichzeitig das Dach eines gigantischen, an den Hang gebauten Komplexes. Einmalig ist auch ein mehrstöckiges Gebäude, das zwei Tankstellen beherbergt – eine im Erdgeschoss und eine andere auf dem Dach. Kein Wunder wird Chongqing auch gestapelte oder 3D-Stadt genannt.
Nachts funkelt die City wie ein gigantischer Rummelplatz
In den letzten knapp 10 Jahren seien unzählige neue Hochhäuser aus dem Boden geschossen, berichtet ein Stadtführer. Die Skyline wird dominiert von einem Komplex aus acht Wolkenkratzern auf der Landzunge zwischen den beiden Flüssen, erbaut von der Raffles-Gruppe aus Singapur. Auf 250 Metern Höhe liegt – wie eine gigantische Brücke – ein Gebäudeteil quer über drei dieser Wolkenkratzer, «Sky Walk» genannt.

Die meisten Bauwerke, Hochhäuser wie Brücken, sind nachts bunt beleuchtet. Viele spielen auf ihren Fassaden grossflächig animierte Lichtspiele ab. Zusammen mit den fliessenden Lichterschlangen des Verkehrs lässt das die Stadt aus Panoramasicht wie einen pulsierenden Organismus aus einem Science-Fiction-Film erscheinen.

Hauptattraktion für Touristen ist die weitverwinkelte «Altstadt» mit ihren engen Gässchen und unzähligen Garküchen, Souvenirshops, Bars und Clubs. Doch nichts daran ist alt. Das ganze Quartier über dem Flussufer wurde neu aus dem Boden gestampft.

Eine Hochbahn, die durch den 8. Stock eines Gebäudes fährt, gibt es nur in dieser Stadt zu sehen. Um dem Massenandrang der Handyfilmer auf der Strasse zu begegnen, hat die Stadt extra eine Fototerrasse gebaut. Drei- bis viertausend Menschen pro Tag pilgern an diesen Ort, schätzt ein Stadtführer.
Der «Feuertopf» sorgt für Antrieb und Energie
Kulinarisch dominiert in Chongqing der Hot Pot – der Feuertopf. Er thront jeweils in der Mitte des Esstischs und fasst eine brodelnde Brühe mit Innereien, Tofu, Gemüse und massenweise rotem Chili. Alle am Tisch fischen mit Essstäbchen aus der Suppe, wonach sie gelüstet – Hauptsache scharf. Drei Tage ohne Hot Pot bringe Unglück, diktiert ein Einheimischer dem ZDF-Team in die Kamera.

Der Tempel des Hot-Pot-Kults ist ein Restaurant mit über 6’000 Plätzen, verteilt über mehrere Terrassen an attraktiver Hanglage über dem Fluss. Es soll das grösste Restaurant der Welt sein. Stolz verweisen die Einheimischen auf die Auszeichnung «Guinness World Records» auf einer mannshohen Leuchtanzeige beim Haupteingang. Ein Selfie ist hier Pflicht.

Chongqing lockt Junge mit Freiheitsdrang an
Die Stadt ist besonders für jüngere Generationen attraktiv, die sich eine von der Familie unabhängige Existenz aufbauen wollen. Die Lebenshaltungskosten sind deutlich tiefer als in Beijing, Schanghai oder Shenzhen. Mit den vielen Beschäftigungsmöglichkeiten im florierenden Kultursektor verspricht sie Selbstverwirklichung. Der Dienstleistungssektor lockt mit einem hohen Mass an Selbstbestimmung, wie zum Beispiel bei Kurier- und Taxidiensten. Eine Besonderheit stellen die «Promille-Fahrer» dar. Über eine Handy-App bestellt, fahren sie auf kleinen, faltbaren E-Bikes los, um Autofahrenden nachts aus der Patsche zu helfen. Wegen des Null-Promille-Gebots riskieren diese empfindliche Strafen, wenn sie mit Alkohol am Steuer erwischt werden. Abhilfe schafft der Promille-Fahrer. Er chauffiert die Angeheiterten in deren eigenem Wagen nachhause und packt dabei sein Klapprad in den Kofferraum, sodass er nach der Fahrt gleich wieder abrufbar ist. Viele junge Menschen bieten diese Dienste an, und bei nicht wenigen ist dies nur ihr Zweit-Job neben dem Haupterwerb, dem sie tagsüber nachgehen.

Vergnügungswütige kommen voll auf ihre Kosten, denn Chongqing schläft nie. Die Stadt bietet nicht nur kulinarische Genüsse rund um die Uhr, sondern auch Kino, Konzerte und Partys ohne Ende. Überraschend angesichts der eher rigiden chinesischen Moralvorstellungen hat sich auch eine LGBT-Szene etabliert. Doch das geplante ZDF-Interview mit einer Drag-Queen verhindern die Behörden. Im westlichen Fernsehen soll davon nichts zu sehen sein. Wie überall in China durchdringt die soziale und politische Kontrolle auch das ansonsten liberale und freigiebige Geschehen im öffentlichen Leben Chongqings. Die Überwachungskameras sind omnipräsent.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bei, ««Es sind hochpolitische Diskussionen, wie sie sonst in China wohl kaum stattfinden», meint Kamp», kann beruhigt in «Es sind hochpolitische Diskussionen, wie sie überall in China stattfinden» geändert werden. Wer auch nur eine Chinesin oder einen Chinesen kennt, weiss Bescheid. Die lassen sich nicht so einfach den Mund verbieten. Dieses Klischee in hunderten von Sitcoms breitgeschlagen, kommt nicht von ungefähr. Vor Tausend Jahren wurde bereits nachweislich, über Demokratie und Frauenstimmrecht in China offen diskutiert. Der Kaiser der dies zuliess, wurde leider von den Mandschuren als schwach angesehen und von ihnen gestürzt. Wir sind den Chinesen kulturell nicht überlegen. Zum Beweis: Kein Lehrer in der Schweiz weiss das die grösste Stadt der Welt Chongqing heisst.
Fragen sie meinen «Göttibueb», der hat es getestet. *zwinkersmiley*
Danke für diesen Bericht.
Als total in der Pampa lebendem Landei hat mir ihr Text eine neue Welt ins Haus gebracht.
Es war schön, dies zu erleben.