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Kurze Distanzen zu Fuss, lange mit dem öffentlichen Verkehr: Birmingham hat genug vom Autoverkehr. . © CC Public Domain

Die Neuerfindung der Stadt

Felix Schindler /  Die Dominanz des Autos brechen: Einen radikalen Plan dazu präsentiert die britische Millionenstadt Birmingham.

Um Diplomatie schert sich der Stadtrat von Birmingham nicht: «Eine übermässige Abhängigkeit von privaten Autos ist schlecht für unsere Gesundheit und die unserer Familien, schlecht für unsere Gesellschaft und schlecht für das Geschäft.»

So steht es im Entwurf des Transport-Plans, den die britische Stadt diese Woche veröffentlichte. Das Papier kündigt einen radikalen Umbau der städtischen Mobilität an. Die Art, wie sich Menschen fortbewegen, müsse sich fundamental ändern. Velofahren und zu Fuss Gehen werde die erste Wahl für kurze Strecken; in Birmingham sind heute ein Viertel aller Strecken, für die das Auto verwendet wird, kürzer als eine Meile.

Das Rückgrat des Transportsystems für längere Distanzen soll ein Netz aus Metro- und Buslinien werden. Dieses soll für 1,3 Milliarden Pfund, also etwa 1,6 Milliarden Franken, auf das Dreifache seiner heutigen Grösse ausgebaut werden.

Stau, Übergewicht, vorzeitige Todesfälle und CO2

Birmingham ist die zweitgrösste Stadt Grossbritanniens. Prognosen gehen davon aus, dass die Bevölkerung bis 2031 um mehr als zehn Prozent auf 1,25 Millionen anwachsen wird. Vor allem aber ist Birmingham daran, London den Rang als Finanzmetropole abzulaufen. Die Deutsche Bank, HSBC und KPMG haben ihre Landeshauptsitze jüngst dorthin verlegt.

Für diese Zukunft soll die Stadt nun fit gemacht und von seinem Verkehrsproblem befreit werden. Denn heute steht eine in der Stadt wohnhafte Person jedes Jahr durchschnittlich 134 Stunden im Stau. Ein Viertel der Bevölkerung ist übergewichtig und ein Drittel bewegt sich pro Woche weniger als 30 Minuten. Der Verkehr verursacht einen Drittel des CO2-Ausstosses, der das Klima aufheizt. Als Folge der Luftverschmutzung sterben laut offiziellen Angaben jährlich 900 Menschen vorzeitig.

Kein Durchgangsverkehr im Stadtzentrum

Herzstück des Plans ist ein weitreichender Umbau des Stadtzentrums. Darin soll der Autoverkehr drastisch reduziert werden – ohne viele Strassen zu sperren. Die Idee: Das Zentrum wird in Zonen aufgeteilt, in die man mit dem Auto weiterhin hineinfahren kann. Von einer Zone in die nächste gelangt man aber nur zu Fuss, mit dem Velo oder dem öffentlichen Verkehr. Wer mit dem Auto die Zone wechseln will, muss das Stadtzentrum verlassen und über eine Ringstrasse in die nächste Zone fahren.

Zonenmodell des Birmingham Transport-Plan
Zonenmodell des Birmingham Transport-Plan.

Doch der Plan geht noch viel weiter: Ein Teil der Flächen, die heute ausschliesslich dem Auto vorbehalten sind, werden umgenutzt, namentlich für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Parkplätze werden für «produktivere Nutzungen» als die Lagerung von Autos frei, etwa für Wohnungen und Arbeitsstätten. Um Wohnquartiere von den negativen Auswirkungen des Autos zu schützen, will die Stadtregierug auf Ortsstrassen eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 20 Meilen (32 km/h) zum Standard machen. Zum Schutz von Kindern sind Parkverbote ausserhalb von Schulen vorgesehen. Und wo das Parkieren erlaubt bleibt, wird es so viel teurer, dass die Kosten zum Umstieg auf den öffentlichen Verkehr motivieren.

Verlagerungsziel 11 Jahre zu früh erreicht

In Birmingham ist das Zonenmodell erst ein Plan, von dem niemand mit Sicherheit sagen kann, ob er auch tatsächlich umgesetzt wird. In Gent (Belgien) hingegen existiert das Modell schon heute: Unter dem Namen Circulation Plan wurde das Konzept vorgestellt, das heute der Stadt Birmingham als Vorbild dient. Das Ziel in Gent lautete: den Anteil des Veloverkehrs bis 2030 von 22 auf 35 Prozent erhöhen.

Auch Gent war bis vor 20 Jahren eine autodominierte Stadt. Dort wurden etwa Flüsse trockengelegt und zu Parkplätzen umfunktioniert. Massiv war auch die Kritik am Circulation Plan. Der zuständige Stadtrat Filipp Watteeuw wurde mit dem Tod bedroht. Trotzdem wurde dort der Plan 2017 umgesetzt. Zwei Jahre danach war das 35-Prozent-Ziel bereits erreicht. Und die Kritik am Circulation Plan verstummt.

Auch New York will «Autokultur brechen»

Die Umbaupläne von Birmingham und Gent sind umfassend und radikal, aber keineswegs Einzelfälle. Kürzlich verabschiedete der New Yorker Stadtrat ein Gesetz für den Umbau der Stadt: In den nächsten zehn Jahren sollen dort 1,7 Milliarden Dollar investiert werden, um die Sicherheit für Radfahrer und Fussgänger dramatisch zu verbessern. Laut dem Sprecher des Stadtrats ist es das Ziel, «die Autokultur der Stadt zu brechen».

Norwegens Hauptstadt Oslo wandelte 700 Parkplätze in Radwege und Parks um und befreite die Innenstadt weitgehend vom Autoverkehr. Anfang Januar vermeldete die Stadt – eineinhalb mal so gross wie Zürich –, dass der Strassenverkehr noch ein Todesopfer gefordert habe – 1975 waren es noch 41. Kein Kind, kein Fussgänger und kein Velofahrer seien im letzten Jahr bei einem Unfall gestorben.

Lubliana, Hauptstadt von Slowenien, hat viele Plätze und Strassen für Autos gesperrt, der Anteil des Autoverkehrs sank innerhalb von zehn Jahren von 58 auf 42 Prozent.

Palermo will autofrei werden. München richtete autofreie Zonen ein. Die Städte Madrid, Wien, Helsinki, Hamburg, Paris, Eindhoven, Brüssel – ja selbst Kolumbiens Hauptstadt Bogotà – haben Massnahmen ergriffen, um den Verkehr zu beruhigen und die Fortbewegung mit eigener Muskelkraft effizienter und sicherer zu machen. Kopenhagen investiert schon seit Jahren in eine Verkehrsinfrastruktur, in der umweltschonende Verkehrsträger mit hoher Transportkapazität gegenüber dem Auto priorisiert werden. 2018 betrug der Anteil des Veloverkehrs in der dänischen Hauptstadt 49 Prozent.

Zaghafte Entwicklung in Schweizer Städten

In Schweizer Städten liegt der Anteil des Veloverkehrs zwischen 4 Prozent (St. Gallen) und 17 Prozent (Basel). Bestrebungen, den Fuss- und Veloverkehr zu fördern, gibt es auch hierzulande. Der Mikrozensus Mobilität, der alle fünf Jahre erhoben wird, zeigt: Der Anteil des Veloverkehrs steigt auch in Schweizer Städten, in Basel, Bern, Luzern, St. Gallen und Winterthur von 2010 bis 2015 zwischen einem und vier Prozentpunkten, Zürich gar um sechs (Städtevergleich Mobilität). Allerdings ist nur in Basel und Zürich der Autoverkehr zurückgegangen. Das heisst, dass die Umlagerung zum Teil auf Kosten des Fussverkehrs oder des öffentlichen Verkehrs geschieht.

Ein umfassender Plan zur Reduktion des privaten Autoverkehrs wie jener in Birmingham würde hier wohl auf erbitterten Widerstand stossen – die ungehinderte Fahrt des Autos gilt für viele als hohes Gut. So wird am 9. Februar in Zürich etwa über den Rosengarten-Tunnel abgestimmt, der für den Betrag von 1,1 Milliarden Franken die Rosengarten-Strasse unter die Erde verlegen will und so 56’000 Autos täglich eine freie Fahrt in die Stadt und aus ihr hinaus sichern soll.


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4 Meinungen

  • am 18.01.2020 um 11:57 Uhr
    Permalink

    Sicherlich werden eine Menge Leser, diesem Artikel und seiner Intention zustimmen, zumindest solange sie noch einigermassen körperlich fit sind!

    Wer aber schon gehbehindert ist, körperlich gehandicapt oder schon einfach zu gebrechlich, für den geht das Ganze etwas anders aus. Wer deswegen weder Fahrrad fahren kann, noch gewisse Strecken zu Fuss schafft aber als «Noch nicht Rollstuhlfahrer» auch keine Behindertenplakette für sein Auto erhält, was auf Millionen Deutsche und auch viele Schweizer zutrifft, wird so künftig faktisch aus dem inneren Stadtbereich weitgehend ausgesperrt. Der «ideale Citybürger» ist ja Yuppie, Grün, sportlich, Vegan. Radfahrer, Autofeind und so weiter. Behinderte wie etwa der Schreiberling dieser Zeilen (GdB 100) aber kein «aG» haben, können ja auf dem «Land» bleiben…

    Werner Eisenkopf
    Runkel/D

  • am 18.01.2020 um 13:20 Uhr
    Permalink

    Warum nicht eine Gebühr einführen?

    Je grösser das Auto, desto höher die Gebühr.

    Schraubt man die Gebühr immer weiter in die Höhe fahren am Ende Albert Rösti und Christoph Blocher alleine im Hammer durch Zürich.

    Und alle sind zufrieden.

  • am 19.01.2020 um 07:28 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Eisenkopf.
    Sie haben durchaus meine Sympathy gewonnen mit ihrem Einwand, man dürfe Menschen mit Behinderungen und Gebrechen bei solchen Massnahmen nicht vergessen! Ich gehöre zu dem Teil der Menschen, welche in der Lage sind sich aus eigener Kraft und ohne Einschränkungen auch Distanzen von mehreren km zurückzulegen wofür ich auch wirklich dankbar bin. Diese Dankbarkeit zeige ich vor allem damit, dass ich dies auch nutze. Als nichtbetroffener fehlt mir sicherlich öfters mal der Blick aus der Sicht von jemandem, der mit körperlichen Einschränkungen tagtäglich leben muss.
    Ihre generelle Ablehnung zu den möglichen Alternatven in diesem Artikel hat mich jedoch befremdet: mit keinem Wort wird verlangt, dass das Auto generell aus der Stadt verbannt werden muss, vor allem nicht alternativlos! Mag sein, dass die heutige Infrastruktur für Leute wie sie immer noch viele Hindernisse bereit hält, vergessen sie aber nicht, dass jedes einzelne Auto für sich gesehen – auch ihres – ebenfalls ein Hinderniss sein kann. Nicht nur für sie, sondern auch für Lösungen von welchen Sie profitieren könnten. Bedenken sie auch, dass der «Grüne» und «Autofeind» in der Regel nicht derjenige ist welcher die «sinnlos teuren» Umbaumasshnahmen zugunsten verbesserter Zugänglich für körperlich handycapierte bekämpft.
    Ich bin sicher, es lassen sich auch mit den im Artikel vorgeschlagenen Alterniven Lösungen finden, welche Leuten wie ihnen den Zugang in Städte nicht verwehren.

  • am 23.01.2020 um 09:26 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Balsinger,
    wie heisst es so schön bei Goethe: «Die Boschaft hör ich wohl, allein…"

    Schon jetzte sind behinderten Menschen wie mir, an vielen Stellen Zugänge zu Innenstädten verwehrt und das wird zumindest in Deutschland auch eher noch schlimmer. Zu Berlin las man gerade erst dies:

    https://www.focus.de/auto/news/ab-2035-fuer-die-gesamte-stadt-berliner-senatorin-fordert-fahrverbot-fuer-diesel-und-benziner_id_11575618.html

    Da es bekanntermaßen eine typische deutsche (und auch deutschschweizer) Unart ist, alles Mögliche auf Punkt und Komma bis ins Absurde zu regeln und durchzuziehen, wird hier wie dort auch irgendwas in der Art kommen. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin. Doch gebe ich zu, daß ich mir z.B. 1981, als ich selbst als Bergsteiger mit dem Mönch im Berner Oberland, damals meinen zweiten Viertausender erstiegen hatte und damals noch körperlich topfit war, mir leider auch auch keine grossen Gedanken um die Mobilität behinderter Mitbürger gemacht hatte. Da war ich keinen Deut besser darin, als viele fitte und darin gedankenlose Leute das heute sind. Asche auf mein Haupt!
    Werner Eisenkopf, Runkel/Lahn

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