Jean Ziegler

Jean Ziegler: Der ehemalige Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung kämpft auch mit 91 Jahren noch gegen Ungerechtigkeit und Leid © SRF

Jean Zieglers ziemlich verzweifeltes Vermächtnis

Hans Steiger /  Das jüngste, vielleicht letzte Buch des nun 91-Jährigen wurde als «kämpferisches Vermächtnis» angezeigt. Es klingt verzweifelt.

Ziegler Cover
Jean Ziegler: Trotz alledem! Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe.


Zuerst entfernte ich den widerwärtigen Kleber auf dem Umschlag: Für mich ist Jean Ziegler kein «‹Spiegel›-Bestseller-Autor», sondern ein radikal engagierter Genosse, der schreibend abzuwenden versucht, was er kommen sieht. Auf dem Buchumschlag wird er gross, rot, undifferenziert als «unermüdlicher Globalisierungskritiker» präsentiert. Was eigentlich falsch ist. Er fordert weltweite Solidarität. Allerdings will er einen grundlegenden Wandel; «der Kapitalismus ist nicht reformierbar», als System nicht zu zivilisieren. Und seine Überwindung wurde lange mit wenig überzeugenden Erfolgen postuliert.

«Où est l’espoir?» Mit seinem Fragezeichen war der Titel der im vergangenen Herbst erschienenen Originalausgabe treffender als der verzweifelt trotzige Ausruf der Mitte Mai ausgelieferten deutschsprachigen Fassung. Als sich auch zum Katholizismus bekennender Sozialist glaubt Ziegler wohl durchaus im religiösen Sinn, ein Sturz der «kannibalischen Weltordnung» sei möglich, stehe gar absehbar bevor. Ob sein «Trotz alledem!» dazu beiträgt? Vielleicht.

Radikal anklagendes Inventar

Er liefere im Buch «das Inventar der wichtigsten Katastrophen» sowie «der Strategien, die es zu erschaffen gilt», um diese zu überwinden, steht im ersten Absatz. Letzteres bleibt skizzenhaft, die Beschreibung der Lage jedoch ist sprachlich wie faktisch erschütternd. Nach neusten Daten der Vereinten Nationen «vernichten» von Not und Elend ausgelöste Konflikte pro Jahr fast so viele Menschenleben wie der Zweite Weltkrieg insgesamt, und eine neue kriegerische Phase hat begonnen.

Ziegler spricht nicht nur das Drama in der Ukraine an, wo er sich «vollkommen ohnmächtig» fühle, zum Zuschauer des neuen Angriffs des «Massenmörders Putin» degradiert, der zuvor schon Tschetschenien zerstörte. Breiter und mit Blick auf die historischen Wurzeln und die tragisch verpassten Chancen wird das Geschehen in Gaza beleuchtet. Syrien, Afghanistan, der Sudan … Und immer profitiert die Waffenindustrie von Vernichtung und Sterben, die Rüstungsspirale rotiert noch rascher. Auch in der Schweiz verdienen viele mit. Während dem Staat Israel mit gutem Gewissen die tödlichsten der vorhandenen Waffen geliefert werden, wird gebeten, die zivilen Opferzahlen «möglichst niedrig» zu halten.

Dieses aktuelle Geschehen durchzieht die ersten Kapitel, überschriebenen mit «Die kannibalische Weltordnung», «Der Hunger», «Der Untergang der Vereinten Nationen», «Die Beseitigung des Asylrechts». In der zweiten Hälfte des schmalen und trotzdem nicht leicht zu würdigenden Bändchens wird mit vielen Abschweifungen ein teils hochphilosophischer Bogen gezogen: von der tiefen «Entfremdung», die im Kampf gegen uns aufgezwungene Unmenschlichkeit überwunden werden müsste, zur erlösenden «Hoffnung».

Ziegler ruft zu einer «massiven und entschlossenen Mobilisierung unserer Bürger und der öffentlichen Meinung» auf. Besonders im Blick hat er Bauern und Bäuerinnen, aber auch Gelbwesten in Frankreich bezieht er noch irgendwie mit ein. Durch einen Schulterschluss könnte zum Beispiel die Wiederherstellung des Asylrechts und eine künftig allgemeine Anwendung «des temporären Schutzes» erreicht werden, den die EU derzeit Flüchtenden aus der Ukraine gewährt. Das pure Gegenteil der davor beschriebenen brutalen Frontex-Maschinerie.

Menschenrechte als Programm

«Überall auf der Welt kann sich der Staat in einen Aggressor verwandeln», mahnt Ziegler. Aber im Kontrast zum Schwinden menschlicher Gerechtigkeit gebe es eine machtvolle historische Kraft, «ein eschatologisches Bewusstsein» von dem, was gerecht wäre – die Utopie. «Ihr Fortschritt ist unaufhaltsam.» Das habe sich etwa bei der Abschaffung der Sklaverei gezeigt. Und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde diese Utopie zum globalen politischen Programm, das jetzt zu verteidigen und durchzusetzen ist. Wo die Politik versagt, habe die Zivilgesellschaft zu handeln. «Wenn sich die Linke archaisch darauf versteift, die Macht im Staat zu erobern, ist sie auf dem Holzweg.» Sie müsste die «Oligarchie des Finanzkapitals» frontal angreifen, «je nach Erfordernis», mit den «besten Waffen» von Intelligenz und Wissen ausgestattet.

Zu diesem Aufstand seien alle aufgerufen. Er gebe seinem und jedem menschlichen Leben einen Sinn. Emanzipation, Gleichheit, Gerechtigkeit hängen von uns ab. Wenn es nicht gelingt, den herrschenden «Raubkapitalismus» zu besiegen, werden wir dazu verurteilt, in einer Welt zu leben, die dann nicht mehr für eine, sondern für mehrere Milliarden anderer Menschen völlig unerträglich sein wird. Ja, «diese Verantwortung haben wir.»

In der Klimabewegung sei vielen klar geworden, dass tiefe ursächliche Zusammenhänge einen Systemwandel erfordern, ein Überlebenskampf in Gang ist. Zuvor führte Ziegler die zu Beginn der 2000er-Jahre imposante Internationale gegen neoliberale Globalisierung als ein Muster für den Charakter der «planetarischen Zivilgesellschaft» als neuer Kraft an. Wo blieb sie? Vom jüngsten Aufbruch mit mehr ökologischen Akzentsetzungen wurde auch er überrascht. «Aussergewöhnlich», «etwas Geheimnisvolles» …

Ein mutig entschlossenes Mädchen aus Schweden brachte mit medialer Unterstützung die alten Ermatteten weltweit mit aufgerüttelten Neuankömmlingen zusammen, und der Grossvater bekam von seinem Enkel den Slogan mit, der beim Genfer Sitz einer speziell skrupellosen Bank skandiert wurde: «Ertränkt die Bankiers, nicht das Packeis!» Durch die Übersetzung fiel zwar der französische Wortwitz weg, dafür trat die Härte hervor. Wie bei den Passagen, in denen Empörung und berechtigte Wut in stereotyp wiederholte pathetische Phrasen münden, wurde mir unwohl. Ist das ein Fluchtweg vor zu schwierigen Fragen?

Erfahrung, Begegnungen, Auftrag

Wertvoll ist, was der langjährige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung an Positionen des globalen Südens in sein Plädoyer für eine neue Weltordnung einbringt. Marx- und allerlei andere Zitate mögen als Leseempfehlungen dienen. Und wer erstmals etwas von Zieglers Begegnungen mit Prominenten und revolutionären Grössen erfährt, wird auch von seinen immer wieder präsentierten Episoden beeindruckt sein. Sartre und de Beauvoir, die in Paris aus dem biederen Hans den intellektuellen Jean machten. Che Guevara, der ihm einen Guerillakampf nicht zutraute und dafür Genf als Einsatzort im «Gehirn des Monsters» zuwies … Unter die Haut geht die vergleichsweise frische Schilderung einer offiziellen Mission, die ihn 2005 im von einer Mordwelle erschütterten Guatemala in ein Dorf führte, wo Indigene um ihr von Konzernen beanspruchtes Land kämpften, um ihre Lebensbasis. Misstrauen schlug ihm entgegen; diese Menschen hatten Angst. «Etwas gehemmt verteilte ich meine UN-Visitenkarte. Die Frauen pressten sie wie einen Talisman an ihr Herz.» Doch er war sich bewusst, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, «ihnen den Schutz zu bieten, den sie brauchten.» Er beantragte Massnahmen; die Niederlagen in den zuständigen Gremien waren programmiert. Die umfassende Verpflichtung, denen zu helfen, die leiden und kämpfen, blieb. In ihrem Handeln ist Hoffnung!

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Jean Ziegler: «Trotz alledem! Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe». Aus dem Französischen von Hainer Kober. Bertelsmann, München 2025, 205 Seiten, ca. 30 Franken

Dieser Text erscheint auch in der «P.S.»-Sommer-Buchbeilage, dort mit weiteren Hinweisen auf Angebote zur Neuorientierung im verwirrten globalen Umfeld.


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Eine Meinung zu

  • am 1.06.2025 um 17:55 Uhr
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    «Alle Räder stehen still wenn dein starker Arm es will!» Ich zweifele nicht daran, daß alle Kommentatoren hier sich um eine friedliche Welt bemühen wollen.Aber schon allein die Tatsache, daß die Einen es mit Waffen und die Anderen gerade ohne Waffen erreichen wollen, zeigt, daß hier systemische Denkfehler dominieren – es sei denn, man ist bereit, wie in der Physik mit gegensätzlich-unvereinbaren Modellen zu leben. In der Physik sind es gedachte Modelle , die zunächst keine Katastrophe auslösen. In der Politik aber bedeutet diese Dualität Mord und Totschlag wie wir gerade jetzt sehen. Daher brauchen wir eine Zäsur UND Taten.
    Ein Generalstreik ist eine dramatische Zensur – mit möglicherweise vielen Opfern – aber es ist DIE Tat, mindestens wenn sie sich auf die Produktion von Waffen erstreckt. Die Internationale der Gewerkschaften KANN dieser starke Arm sein – aber es fehlt ihr an politischem Bewußtsein.Das ist meine Antwort an Ziegler. Oder : das nukleare Inferno wird die Zäsur.

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