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Jesiden am Grab eines Peschmerga-Kämpfers © MR

Hoffen und Bangen in der Wiege der Kurden

Matthias Ryffel /  Der Krieg im Irak hat auch die Situation der jesidischen Minderheit verändert: In Kurdistan könnte sie ihre Heimat finden.

General Mirza, dieser bullige alte Peschmerga-Kämpfer mit mächtigem Schnurrbart, wirkt wie ein kleiner Junge, als er mit geschlossenen Augen sein Stofftuch wirft. Der Wurf in der Gruft in Lalisch, der heiligen Städte der Jesiden, ist ein alter Brauch: Landet das Tuch auf dem steinernen Altar, hat Mirza einen Wunsch frei. Gut möglich, dass hinter seinen Lidern jene Hoffnung schlummert, die in diesen Tagen sehr viele irakische Kurden hegen: ein eigener Staat für Kurdistan. Mirza trifft daneben und das Tuch rutscht vom schwarzen Stein.
Seit weit über 2000 Jahren hat das Jesidentum in der bergigen Gegend um Lalisch seine Anhänger, wenn man den Aussagen der Jesiden Glauben schenkt. Lange vor der Ankunft des Christentums und des Islams beteten Anhänger dieser Religion demnach in Kurdistan. Heute bilden die nach eigenen Angaben rund 700‘000 Jesiden eine verschwindende Minderheit im etwa 33 Millionen Einwohner zählenden Vielvölkerstaat Irak. Eine Minderheit, die hauptsächlich jene Gebiete bevölkert, die im umstrittenen Grenzgebiet zwischen Irak und der autonomen irakischen Region Kurdistan liegen. Seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 beanspruchen Bagdad und Erbil Teile dieser Grenzgebiete gleichermassen für sich. Ein Zensus über ihren Verbleib wurde wiederholt auf die lange Bank geschoben, die Flagge der kurdischen Regionalregierung (KRG) flatterte in den umstrittenen Gebieten seither Seite an Seite neben der Irakischen. Bis Anfang Juni die Kämpfer des Islamischen Staates IS aus Syrien einfielen und die irakische Armee Hals über Kopf die Flucht ergriff. Die Kurden sahen ihre Stunde gekommen, ihre Armee, die sie Peschmerga nennen, preschte in das Vakuum vor, das die irakische Armee hinterlassen hatte. Das Vorrücken der Kurden ist vielen Jesiden willkommen, in ihrer exponierten Lage war die Minderheit immer wieder Opfer fundamentalistischer Islamisten, welche die Jesiden als Ungläubige betrachten. Die schlimmste Serie von Anschlägen im Nordirak kostete 2007 nach offiziellen Angaben über 400 Jesiden das Leben.

Die abgeschnittene Region

In Scheichan, einem der Hauptsiedlungsgebiete der Jesiden, empfängt uns Baba Scheich, das spirituelle Oberhaupt der Jesiden. Im Schneidersitz und in weissem Gewand thront der alte Mann über einem Dutzend schnauzbärtiger Männer. Die Neuankömmlinge küssen ihm ehrerbietig die Hand. Der Scheich ist ein kleiner Mann, ganz in weiss gehüllt, mit riesigen Ohrläppchen und seidenweissem Bart. Seine Augen sind halb geschlossen, eine majestätische Ruhe geht von ihm aus. Die Jesiden seien immer für den Frieden, sagt Baba Scheich. Doch mit IS sei ein Friede nicht möglich. «Entweder man ist mit ihnen oder gegen sie.» Die Ideologie dieser Menschen, so findet der religiöse Mann, sei alt und überkommen. Er bitte Gott, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Dann verfällt der Scheich wieder in stumme Kontemplation.
Die Anliegen der Anwesenden zeigen, dass sich die Probleme der Jesiden mit dem Vorstoss der Peschmerga nicht in Luft aufgelöst haben. Da ist etwa der Mann aus Schingal, jener Region zwischen Mossul und der syrischen Grenze, wo die grösste Zahl der Jesiden lebt. Schingal ist durch die Peschmerga geschützt, die Zugangsstrasse aber führt durch Gebiete, in denen Isis und die irakische Armee sich bekämpfen – erreichbar ist die Region nur in militärischen Konvois. (Dem Journalisten wird die Reise nach Schingal durch das Militär verweigert.) In Schingal würde man sich wünschen, dass Repräsentanten der Jesiden zu Besuch kämen, um Solidarität zu demonstrieren. Das weltliche Oberhaupt der Jesiden, der Emir Tahsin Sayed Beg, weilt derzeit in Europa. Auch das Schicksal von rund 1000 jesidischen Studenten kommt zur Sprache. Sie mussten ihr Studium in Mossul aufgeben, als Isis die Stadt nahm; nun finden sie in Kurdistan keine Studienplätze mehr. Berichte von Massenexekutionen im Gefängnis von Mossul folgen, neben zahlreichen Schiiten hat Isis angeblich auch fünf jesidische Häftlinge umgebracht. Auch Amnesty International untersucht laut einer Medienmitteilung diese Vorfälle, denen, so die Organisation, extralegale Exekutionen vorangegangen seien, die schiitische Militärs vor ihrem Abzug unter den Sunniten verübt hätten.

Blut für Kurdistan

Immerhin liegen die Dörfer der Jesiden nun allesamt unter kurdischer Kontrolle und Baba Scheich zeigt sich sehr froh darüber: «Das Schicksal der Jesiden liegt jetzt in Kurdistan», so sagt er. Wenn in Kurdistan Friede herrsche, bedeutet das auch Friede für die Jesiden. Und natürlich würde Baba Scheich Kurdistan gerne als ein unabhängiges Land sehen: «Alle Jesiden sind Kurden – und früher waren alle Kurden Jesiden.» Es ist die Stunde der Patrioten in Kurdistan: Massoud Barzani, der Präsident der KRG, hat vor kurzem bekräftigt, dass er ein Referendum über die Unabhängigkeit der autonomen Region plant – der ablehnenden Haltung der Amerikaner zum Trotz. Er sieht in der Unabhängigkeit ein natürliches Recht der Kurden. Der Präsident geniesst mit diesem Kurs grossen Rückhalt unter den irakischen Kurden.

Das gilt auch für die Jesiden und zuvorderst für den Peschmerga Mirza. Sie nennen ihn «General Mirza», aber Abzeichen tragen die Soldaten allesamt keine; im Krieg sei das unklug, erklären die Männer. Mirza will uns nach Ba’adra führen, in die Hauptstadt der Jesiden. Das Städtchen liegt am Fusse der kargen Bergkette, in deren Hügeln sich der junge Peschmerga-Kommandeur mit seinen Partisanen einst vor Saddam Husseins Truppen versteckte. In der Nacht trug er den Krieg damals in die Dörfer und die Menschen fürchteten sich vor ihm. Der alte Kämpfer ist ein besonnener Mann, er spricht wenig, begegnet aber selbst seinen Untergebenen überaus freundlich. Nachdem er im Kampf verletzt wurde, lebte Mirza lange Jahre im Exil in Deutschland, doch Deutsch spricht er nur gebrochen. Kurdistan ist seine Heimat, hier hat er Blut vergossen. Und für die Unabhängigkeit seines Landes würde er es wohl wieder tun. Als Mirza einen Anruf entgegennimmt, werden die Falten auf seiner Stirn tiefer, er hat traurige Nachrichten: Ein jesidischer Peschmerga ist an der Front von einem Scharfschützen des IS getötet worden. Im Pickup herrscht betroffenes Schweigen, während wir durch die Dämmerung in das Dorf des Gefallenen brausen.

Eine «heilige» Aufgabe

Am Dorfeingang warten die Militärs auf den Konvoi, der den toten Soldaten nach Hause bringt. Als der erste Wagen vorfährt, feuern Mirzas Leibwächter krachende Salutsalven aus ihren AK-47. Später strömen die Menschen zu Hunderten zu dem Haus, in das der Gefallene gebracht wird. Im gerammelt vollen Innenhof wandert sein Leichnam, verhüllt von der KRG-Flagge, über die Köpfe der Menschen, die jetzt lautstark zu Klagen beginnen. Nach jesidischer Tradition wird der Tote in einem Raum zur Beerdigung vorbereitet: Fetzen von Stoff, gefertigt an der heiligen Stätte Lalisch, werden ihm in Mund und Ohren gelegt, eine Münze in der Hand soll ihm Glück bringen. Immer wieder drängen Verwandte in das Zimmer und werfen sich über den verlorenen Nächsten; jeder will Abschied nehmen.
Für die Jesiden sei das nichts Neues, sagt am nächsten Tag ein lokaler Politiker am Grab des Mannes bitter, nachdem die letzten Schaufeln Erde den Toten verschluckt haben. «Man wirft Bomben über uns ab, unser Land wird mit Terror überzogen. Aber das Land zu schützen, ist die heilige Aufgabe der Jesiden.» Heute sei ein trauriger Tag und ein guter zugleich: «Ein Mann ist tot, aber dank seiner Arbeit werden viele leben.»

Kein Paradies in Sicht

Gott erschuf die Welt aus einer Perle, die vom Rücken eines Vogels fiel und zerbarst, so glauben die Jesiden. Vielleicht muss der Irak zerbrechen, damit eine neue Welt entstehen kann. Aber ob diese Welt besser sein wird als die alte? Noch leben die Jesiden nicht im Paradies. Hinter vorgehaltener Hand klagen sie über ihre Situation in Kurdistan. Da bis anhin über 80 Prozent der Jesidengemeinde in formell von Bagdad kontrollierten Territorien lebten, sind sie in den Institutionen der KRG schlecht repräsentiert. Die Minderheitenregelung, die 11 Sitze im Parlament reserviert, berücksichtigt nur Turkmenen, assyrische Christen und Armenier. Von den 21 Ministern ist derzeit nicht einer Jeside, unter den 111 Parlamentariern ist es seit kurzem wieder ein einziger. Manche hoffen, dass sich dies ändern würde, wenn die Religionsgemeinde geschlossen zu einem unabhängigen Kurdistan gehörte; dann würden die Jesiden wohl zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung stellen. Von anderen hört man allerdings auch, dass die Jesiden von der sunnitischen Mehrheit bewusst geprellt werden, weil viele das Jesidentum als minderwertige Religion betrachteten.

Zwischen den Fronten

Dennoch muss man suchen, bis man einen Jesiden findet, der sich nicht flammend zur Idee eines unabhängigen Kurdistans bekennt. Im blühenden Garten seines grosszügigen Anwesens treffen wir Kamiran Kheirie Beg, den Neffen und Schwiegersohn des weltlichen Oberhauptes der Jesiden. Auch er trägt das rot-weisse Kopftuch, sein grauer Bart steht ihm dicht unter den Wangen. Kamirans Familie sind die Mir, eine Fürstenfamilie der Jesiden. Sie waren einst mit Saddam Hussein verbündet und bekriegten sich mit General Mirzas Truppen. Nichts von dieser alten Feindschaft ist zu spüren, als sich die beiden Männer heute begrüssen – man demonstriert Einheit, auch wenn die Ideen noch immer auseinandergehen. Kamiran war Parlamentarier in Bagdad und an der Ausarbeitung der aktuellen Verfassung beteiligt. Der Mann hat Herzblut in den Irak gesteckt. «Ginge es nach mir, sollten alle Völker und Religionen Iraks in einem Staat zusammen leben und Bagdad als Zentrum haben», so betont Kamiran und ein trauriges Lächeln umspielt seinen Mund, als er anfügt, dass es heute drei Iraks gebe. Die Einheit, so fürchtet der Mann, wird vielleicht nie mehr möglich sein. Auch er ist deshalb der Meinung, dass die Jesiden zu den Kurden halten sollten. Aber Kamiran blickt nicht gerne in die Zukunft: «Gibt es Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, dann trifft es die Jesiden und die Christen als erste.» Sein Volk lebe zwischen den Fronten, das sei dessen grösstes Problem.
Ob die autonome Region der irakischen Kurden dereinst zum eigenständigen Staat wird oder nicht – gerade am Umgang mit den Minderheiten wird sich bemessen, wie es um die vielgerühmte Demokratie im Lande steht. Wenn ein ranghoher Peschmerga aus dem Umfeld des Barzani-Clans im Vertrauen über den IS sagt, dass man diesen gar nicht zu besiegen brauche, weil seine Existenz der Sache der Kurden zudiene, dann widerspiegelt dies kaum die Position der Jesiden. Männer wie Mirza sind im Widerstand gross geworden – als Bauernopfer taugen sie nicht.

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PS: Die Redaktionsleitung von Infosperber hat beschlossen, künftig auch Reiseberichte, Ausland-Reportagen und Ausland-Hintergrundberichte zu bisher unbeachteten Themen zu publizieren, da die Zeitungen für solche Beiträge ohne aktuellen «Aufhänger» kaum mehr Platz zur Verfügung stellen.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Matthias Ryffel ist freischaffender Journalist und Student der Geschichte (Middle Eastern Studies) an der Universität Bern. Im Rahmen einer mehrmonatigen Studienreise im Nahen Osten bereiste er in den letzten Wochen auch Syrien und den Irak.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der «Krieg gegen den Terror» im Irak forderte 500'000 Todesopfer

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Eine Meinung zu

  • am 22.07.2014 um 11:06 Uhr
    Permalink

    Besten Dank für die wichtige Reportage. Sie erinnert mich an meine (illegalen) Reisen vor 40 Jahren in den Krieg der Kurden unter Mullah Mustapha Barzani gegen Bagdad. Schon damals waren viele Jesiden unter dem Schutz der Kurden. Nur die Bestattungsrituale waren ganz anders: Ihre Leichen durften nicht mit dem Boden in Berührung gelangen – sie wurden auf hohen Säulen «Opfer» der Geier.

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