Kommentar

… womit ich den Maulkorb heute ablege!

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Warum ich mich weigere, nur ein Schweizer zu sein. Die Schweiz ist keine Insel, und ich bin kein Insulaner. Ich bin auch Europäer!

Sie werden lachen: Ich komme nicht von «hinter dem Mond», sondern von «vor dem Wald». Vordemwald ist ein intaktes Dorf, fünf Kilometer westlich von Zofingen. Es umfasst ziemlich genau 10 Quadratkilometer Land und hat 1700 Einwohner, davon etwa 70 Ausländer oder also 4 Prozent. Es gibt in diesem Dorf (gemäss Website) 24 registrierte Vereine. Hier kann man leben. Es ist – fast – alles im Einklang.

Als «Vorewäldler», wie man es hier ausspricht, bin ich auch Aargauer, ob ich es sein will oder nicht. Der Kanton Aargau ist flächenmässig 140 mal grösser als das Dorf Vordemwald, hat 620’000 Einwohner oder also 365 mal mehr als unser Dorf, davon sind 142’000 Ausländer, also 23 Prozent. Trotzdem, auch der Aargau gefällt mir. Er hat ein bisschen von Allem: weite Felder, sanfte Hügel, aber auch steile Felsen. Er hat mit Aare, Reuss und Limmat drei markante Flüsse, mit dem Hallwilersee eine liebliche Seenlandschaft. Er hat malerische Kleinstädte wie Mellingen oder Kaiserstuhl und unförmige Agglo-Städte wie Wettingen oder Spreitenbach. Er hat Gegenden, die mehrheitlich katholisch sind, etwa das Freiamt, und Gegenden, die mehrheitlich reformiert sind, etwa der Oberaargau, aber auch zwei geschichtsträchtige Judendörfer, Lengnau und Endingen. Nur Atomkraftwerke (Beznau I, II und Leibstadt), Autobahnen (A1, A2 und A3) und SVP-Wählende (32 Prozent) hat es, für meinen Geschmack, etwas gar viel. Aber noch kann man hier ganz gut leben.

Als Aargauer bin ich auch Schweizer, ob ich will oder nicht. Die Schweiz ist knapp 30 mal grösser als der Aargau und hat mit 8 Millionen Einwohnern etwa 13 mal mehr als der Kanton Aargau. 23 Prozent davon sind, auch hier, Ausländer. Zu bieten hat die Schweiz aber bereits deutlich mehr als das Dorf Vordemwald und der Kanton Aargau. Die Schweiz beherbergt Menschen verschiedener Sprachen und unterschiedlicher Kulturen, hat eine eigene Geschichte, eine eigene Identität. Ja, hier lässt sich gut leben.

Und dann? Kommt dann die grosse Mauer rund um die Schweiz, die das Land gegen aussen schützt, so, wie die Stadtmauern im Mittelalter die Städte geschützt haben? Oder wie die Chinesische Mauer, die auf 6700km Länge China vor den Mongolen hätte schützen sollen?

Nein! Auch die Schweiz ist nur ein Teil einer grösseren Einheit. Es sind noch keine 200 Jahre her, seit die Schweizer Grenzen mit den europäischen Grossmächten am Wiener Kongress 1815 ausgehandelt worden sind und so, wie sie heute liegen, der Schweiz von den umliegenden Grossmächten zugestanden wurden!

Ich bin – auch – ein Europäer

So bin ich eben als Schweizer auch ein Europäer, ob ich will oder nicht. Die Schweiz hinter Mauern könnte mitnichten unabhängig – als Selbstversorger – funktionieren. Sie exportiert jedes Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von 200 Milliarden Franken. Das sind 25’000 Franken pro Kopf! Und sie importiert jedes Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von 180 Milliarden Franken, 23’000 Franken pro Kopf! Ein Drittel von allem, was wir in der Schweiz produzieren, von der Schokolade bis zur AKW-Turbine, geht ins Ausland, ein Drittel von allem, was wir in der Schweiz kaufen, vom Hühnerei bis zum Militärhelikopter, kommt aus dem Ausland. Und 80 Prozent dieses gigantischen Waren-Austausches findet mit Europa statt.

Aber auch um Europa herum gibt es keine Mauer. Rund 700 Millionen Menschen der auf 7 Milliarden Menschen geschätzten Weltbevölkerung leben in Europa, in jenem Teil des eurasischen Kontinents, den wir – mehr historisch-kulturell als geographisch bedingt – als eigenen Erdteil bezeichnen. Ja, rein wirtschaftlich könnte sich Europa vom Rest der Welt abkoppeln. Aber es würde nicht lange funktionieren, denn

– die Weltmeere sind schon beinahe leergefischt. Davon betroffen ist auch Europa.

– Erdöl, Erdgas, Uran und andere Energie-Rohstoffe sind begrenzt. Davon betroffen ist auch Europa.

– die Erwärmung der Erdatmosphäre ist messbar und bringt gewaltige Veränderungen mit sich. Davon betroffen ist auch Europa.

– Die Radioaktivität, stamme sie nun von Reaktorunfällen oder gar von Atombomben, hält sich an keine Grenzen. Davon betroffen ist – im Ernstfall – auch Europa.

– Krankheitserreger können nicht nur durch Menschen, sondern auch durch Tiere weltweit übertragen werden. Davon ist – vielleicht schon morgen – auch Europa betroffen.

Genug der Beispiele. Als «Voremwäldler» bin ich auch Aargauer. Als Aargauer bin ich auch Schweizer. Als Schweizer bin ich auch Europäer und als Europäer bin ich auch ein Weltbürger.

Nur: Als «Voremwäldler» kann ich im Dorf politisch mitreden und mitentscheiden, zum Beispiel den Gemeinderat wählen. Als Aargauer kann ich politisch mitreden und mitentscheiden, zum Beispiel den Grossen Rat und den Regierungsrat wählen. Als Schweizer kann ich politisch mitreden und mitentscheiden, zum Beispiel die beiden Kammern des Parlamentes wählen. Auch die Regierung kann ich selber wählen, auch wenn ich meine Stimme dazu an die von mir gewählten Parlamentarier delegiert habe; sie kennen geeignete Kandidaten besser als ich.

Und in Europa?

Die Schweiz bringt es fertig, vor Europa einfach und konsequent die Augen zu schliessen. Nachdem es der einen Partei – nicht zuletzt dank dem grossen Geld und den rhetorischen Qualitäten ihres Partei-Strategen Christoph Blocher – gelungen ist, die Europäische Union in Grund und Boden zu verdammen und die Ausländer als Ursache allen Übels zu deklarieren, ist das Thema Europa auch bei den anderen Parteien und auf allen Stufen der politischen Entscheidungsfindung schlicht und einfach tabu. Wir machen zwar bei ganz vielen europäischen Regelungen mit – freiwillig oder auch erzwungen. Aber selber mitdiskutieren zu dürfen, eigene Erfahrungen und Ideen einzubringen, in Europa auch Mitverantwortung zu übernehmen, darauf verzichten wir, ohne jeden plausiblen Grund. Aber willentlich.

In der Schweiz heute von Europa zu reden, ist, wie es die auf Stimmenfang ausgerichteten Politiker nennen, «nicht opportun». Für Viele ist es fast schon ein Landesverrat. Der einen Partei ist es gelungen, uns richtiggehend einen Maulkorb zu verpassen: den Parteien, den Parlamentariern, der Regierung. Und tatsächlich: auch die Schweizer Regierung, der Schweizer Bundesrat, dem wir über unsere Wahlzettel einen Führungsauftrag erteilt haben, hat sich so sehr einschüchtern lassen, dass selbst eine Diskussion zum Thema Europa weit weit weg geschoben wird.

Die Erfahrung sagt Alles

Wie war es doch mit der Sommerzeit? Sie wurde im Jahr 1978 bei einer Volksabstimmung klar verworfen. Schon im Jahr 1980 aber wurde sie vom Parlament fast notfallmässig wieder eingeführt, da es sich die Schweiz schlicht nicht leisten konnte, mitten in Europa eine Zeitinsel zu sein.

Und wie war es mit der 28-Tonnen-Gewichtslimite auf Schweizer Strassen? Plötzlich, im Jahr 2001, war sie weg, zugunsten der 40-Tonnen-Limite – auf Druck der umliegenden Länder.

Und wie ist es mit dem Bankgeheimnis? Gegenüber den USA ist es weg. Freiwillig? Gegenüber den europäischen Ländern führt die Schweiz noch Rückzugs-(Schein)-Gefechte – ohne jede Aussicht auf Erfolg. Gegenüber den afrikanischen Ländern, ja, da geben wir uns selbstbewusst und halten am Bankgeheimnis fest…

So kann es nicht weitergehen

Es ist ziemlich unerträglich geworden. Lasst uns endlich wieder frei reden – auch über Europa. Warum sollen wir Schweizer, die wir doch so stolz sind auf unsere Freiheit, weiterhin einen Maulkorb tragen wie ein Mops im Zürcher Tram? Umgehängt von Politikern, die gerne auf die Mythen von vor 700 Jahren zurückgreifen, die Geschichte der Schweiz der letzten 200 Jahre aber total ignorieren?

Das Thema Europa gehört auf den Tisch. Nicht nur auf den Stammtisch im Restaurant Wilhelm Tell irgendwo im Berner Oberland, sondern auch auf den Sitzungstisch, wo ernsthaft über unsere Zukunft diskutiert wird. Zum Beispiel auch in Bern, im Bundesrat. Und an den Sitzungen der Partei-Strategen. Denn auch in Europa wollen und müssen wir mitreden können!

Und das Thema Welt?

Immerhin: Die Schweiz ist seit dem Jahr 2002 Mitglied der UNO. Und so ganz zaghaft versucht die Schweiz auch, dort ein Wort mitzureden. Einen kleinen Vorstoss zur Reform der Arbeitsmethoden im UNO Sicherheitsrat zum Beispiel hat die Schweiz, zusammen mit vier anderen kleinen Staaten, an der Generalversammlung im Mai 2012 eingebracht. Aufgrund des Widerstandes der USA wurde der Antrag aber noch vor der Abstimmung zurückgezogen.

Auch hier gilt es also, dranzubleiben und aktiv mitzuarbeiten. Die UNO, die zu oft vom Sicherheitsrat mit seinem anachronistischen Veto-Recht der fünf WKII-Siegermächte blockiert wird, muss zwingend demokratischer werden. Solche Reformen aber werden nur auf Druck hin angepackt werden – auf Druck von möglichst vielen Ländern. Auch da sind wir Schweizer also gefordert!

(PS: Vordemwald ist zwar mein Heimatort und ich habe dort auch schon mal eine 1.-August-Rede gehalten. Aber aufgewachsen bin ich in einer anderen Ecke des Kantons. Und heute lebe ich manchmal in der Schweiz, manchmal in Italien und manchmal in Ostmitteleuropa. Als Europäer halt.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Präsident der Weltföderalisten Schweiz.

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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7 Meinungen

  • am 11.02.2013 um 18:04 Uhr
    Permalink

    Aber holla! Das ist ja ein trotziges Selbstbekenntnis. Auch wenn ich nicht aus Vordemwald komme: Ich bin dabei. Auch ich habe genug von dieser ewigen Herumdruckserei. Es wird Zeit, dass sich jene Kräfte sammeln und deutlich bemerkbar machen – und es sind nicht wenige -, die mit der Schweiz noch etwas anderes vorhaben, als die SVP-Vollnarkose. Dafür ist mir das Land zu schade.

  • PortraitM_Bertchinger
    am 11.02.2013 um 23:49 Uhr
    Permalink

    Die NEBS (Neue Europäische Bewegung Schweiz) sucht Mitglieder!

  • am 12.02.2013 um 09:50 Uhr
    Permalink

    Lieber Christian
    Ich kann Dir nur zu 100% bipflichten. Es ist schon etwas frustrierend, wenn man seit Jahrzehnten sieht, wohin unser Schiffchen faehrt – und alle bilden sich nach wie vor ein, als waeren wir auf dem richtigen Kurs und seien die Auserwaehlten. Wie heisst es so schoen bei uns im Bernbiet: aes chunnt wies mues.

  • am 15.02.2013 um 15:31 Uhr
    Permalink

    Christian Müller spricht mir aus dem Herzen! Es ist wirklich auffallend, wie negativ besetzt das Wort Europa bei uns ist. Man kann sehen, hören und lesen, was man will. – Abschätzige Bemerkungen, Argwohn, Ueberheblichkeit. – Warum eigentlich? – Sind wir wirklich so viel besser als die andern? Sind nicht auch wir noch unterwegs? Hoffen nicht auch wir, dass es gut herauskommt? –
    Nicht abhängig sein wollen von anderen ist ja gut und recht, aber man kann es auch übertreiben.

  • am 18.02.2013 um 12:34 Uhr
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    Die EU ist offensichtlich ein sterbender Elefant.

    Sehenden Auges kann man unmöglich Teil dieser Geldverteilungsmaschinerie werden. Ausser man hat persönliche Interessen.

    Christian Müller beweist mit seinem Artikel, dass Europa sehr wohl auf die Schweiz angewiesen ist. Sein Import/Export Vergleich spricht Bände.

    Wir sind nicht EUropa. Zum Glück nicht! Und die überwältigende Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes hat dies seit 1991 sechsmal kundgetan. Wann begreifen die europhilen Romantiker endlich, dass Europa nicht anderes als ein hartes Business ist. Und die Schweiz ist für die EU ein absolut ebenbürtiger Partner. Ich nutze die Gelegenheit, mit vielen Geschäftsleuten aus der EU und der Restwelt zu plaudern. Allesamt bewundern sie unsere Stärke, Brüssel paroli zu bieten. Das ist unsere Stärke: Diplomatie und exakte, korrekte und pünktliche Geschäftstätigkeit. Das ist der Grund, warum wir ein stabiles Land mit einem funktionierenden Gesundheitswesen haben (ja, zu teuer), und uns eine AHV leisten können (ja, es braucht auch Ausländer dazu). Und wir müssen sehr gut aufpassen, welche Ausländer wir uns leisten wollen.

    Herr Müller irrt: Das Thema EU gehört nicht mehr auf den Tisch. Dream on, Christian Müller. Und übrigens lebe ich auch manchmal an anderen Orten. Deshalb weiss ich, dass die Schweiz auf dem richtigen Weg ist.

    Gruss aus Rom (EU)
    Renato Stiefenhofer

  • am 18.02.2013 um 18:19 Uhr
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    @) Renato Stiefenhofer: Sie leben in einer Traumwelt. Die Schweiz ist mit ihren 120 hochkomplexen Einzelverträgen stärker in die EU eingebunden als mancher EU-Staat, ist in Brüssel ein permanenter Bittsteller, passt über 80% ihrer Gesetzgebung automatisch der EU-Gesetzgebung an ("autonomer Nachvollzug"), selbstverständlich «als ebenbürtiger Partner» usw.usw., Sie wird aber in die Entscheidungsprozesse nicht einbezogen. Sie führt einfach aus und tut so, als wär nix. Da ist so, wie Kinder Fangis spielen, dabei die Augen verdecken und laut rufen: Aetsch, gsiesch mi nöd! Das ist doch keine Zukunfstperspektive für ein erwachsenes Land. Das ist Märliland.

  • am 18.02.2013 um 19:31 Uhr
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    Lieber Herr Fred David. Es wird Ihnen nicht gelingen, die EU schönzureden. Da hilft auch das Nachplappern gängiger Euroturbo-Drohungen nichts. Das hat der Souverän erkannt und folgerichtig abgestimmt. Sie werden doch den Schweizer Stimmbürger nicht als unmündig und dumm betrachten, oder? Die Schweiz ist ein Erfolgsmodell! Live with it ! Ich habe mir die Mühe genommen und habe unzählige Berichte, Bücher, Statistiken etc über die EU gelesen. Pro und Contra. Auch über den Missbrauch der EU Gelder durch gewiefte Oststaaten Abgeordnete in Brüssel. Ich bin alle zwei Monate mal in Brüssel und höre als Gast in Expat Lokalen, wohin die Gelder fliessen. Das ist keine Traumwelt, sondern Realität 2013.

    Die Welt hört nicht an der EU Grenze auf. Die Welt ist riesig und die Schweiz tut gut daran, mit allen Ländern dieser grossen Welt Geschäfte zu tätigen. Da würde eine EU Mitgliedschaft künftig durchaus eine Hypothek sein. Europa geht das Geld aus, hat eine Rekord Arbeitslosenquote und hängt am Tropf Deutschlands.

    Und ja, Herr David, mein Leben ist durchaus ein Traum. Ich habe sogar ein Buch darüber geschrieben. Ich lade Sie ein, es zu kaufen und zu lesen. Dann müssten Sie allerdings gleich zweimal über ihren Schatten springen. Ich möchte es Ihnen zutrauen. Viel Spass dabei.

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