Pestizide

Via Landwirtschaft gelangen die Pestizide ins Grundwasser. © SRF Kassensturz

Rund eine Million Schweizer trinken verseuchtes Wasser

Red. /  Die EU reguliert Pestizide immer strenger. Doch die Schweiz reagiert zögerlich. Und wälzt Risiken und Kosten auf die Haushalte ab.

Seit vergangenem Dezember ist der Pestizid-Wirkstoff S-Metolachlor in der EU verboten. Er wurde zuvor als «vermutlich krebserregend» eingestuft. Die Abbaustoffe von S-Metolachlor im Trinkwasser gelten jetzt als «relevant». Deshalb gilt seither in der EU ein hundertfach strengerer Grenzwert.

In der Schweiz sind von der Trinkwasserverschmutzung durch S-Metolachlor bis zu 100’000 Haushalte im Mittelland betroffen. Doch das zuständige Bundesamt hat bisher nichts unternommen. Dies zeigt eine Recherche der SRF-Journalistin Karin Bauer für die Sendung Kassensturz.

Kantonschemiker Kurt Seiler ist besorgt, weil er bis heute keine Information vom Bund zur Regelung von S-Metolachlor im Trinkwasser erhalten hat: «Es wäre wichtig, diese Angaben zeitnah zu haben.» Schliesslich sei es die Aufgabe der Kantonschemiker, das Trinkwasser sauber zu halten.

Sobald das Verbot auch in der Schweiz gilt, muss das Trinkwasser von bis zu 100’000 Haushalten verdünnt werden, sodass der neue Grenzwert von 0.1 Mikrogramm pro Liter eingehalten werden kann.

Bund reagiert mit sechsmonatiger Verspätung 

Zuständig ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Zwar kommt es den Entscheiden der EU nach, aber mit Verzögerung: Die Pflanzenschutzmittelverordnung werde zweimal im Jahr angepasst, schreibt das Amt. Konkret heisst das: Am 1. Juli wird der Bund den Pestizidherstellern eröffnen, dass der Wirkstoff und alle Produkte mit S-Metolachlor verboten werden.

Erheben diese innert 30 Tagen keine Beschwerde, wird den Kantonen im August mitgeteilt, dass S-Metolachlor im Trinkwasser neu nur noch zu 0.1 Mikrogramm pro Liter statt wie bisher zu 10 Mikrogramm vorkommen darf.

Millionenkosten für Aufbereitung des Trinkwassers 

Wasserversorger schätzen, dass die Aufbereitung des Trinkwassers mehrere Hundert Millionen kosten wird, zum Beispiel durch Anlagen mit Aktivkohle. Sie denken vor allem an den Fall des Pestizid-Wirkstoffs Chlorothalonil. Obwohl vor vier Jahren alle Spritzmittel mit Chlorothalonil verboten wurden, hat sich die Qualität des Trinkwassers seither nicht wesentlich verbessert. Neun von 16 betroffene Kantone konnten seither keine nennenswerte Veränderung feststellen.

Die Winterthurer Tageszeitung Landbote machte vor wenigen Tagen publik (Paywall), dass in Zürcher Gemeinden wie Trüllikon, Stadel oder Neerach der Chlorotalonil-Grenzwert ums bis zu Zehnfache überschritten wird.

So trinken auch heute noch rund eine Million Haushalte belastetes Trinkwasser. Kommt dazu: Der Fall Chlorothalonil ist umstritten, weil der Agrochemie-Konzern Syngenta gegen das Verbot klagte und das Bundesverwaltungsgericht auch nach vier Jahren noch kein Urteil gefällt hat. 

«Gebührenzahlende büssen für Fehler der Zulassungsstelle» 

Für die laxe Regulierung der Pestizide durch die Bundesverwaltung bezahlen die Haushalte mit höheren Gebühren für intensivere Grundwasserfiltrierung. Roman Wiget, Wasserversorger im Berner Seeland, ist daran, eine Aktivkohle-Anlage für zwei Millionen zu installieren. Wiget zu «Kassensturz»: «Wir prüfen eine Haftungsklage gegen das Bundesamt für Landwirtschaft.» Das Bundesamt für Landwirtschaft war nämlich bis 2022 die Zulassungsstelle für Pestizide.

Die frühere Zulassungsstelle für Pestizide habe Chlorothalonil zu wenig streng reguliert. Der Bund weist den Vorwurf zurück: Pflanzenschutzmittel seien aufgrund der damaligen Rechtslage und der damaligen wissenschaftlichen Kenntnisse beurteilt worden.  

Vorsorgeprinzip nicht durchgesetzt

Für Kantonschemiker Kurt Seiler ist der Fall klar: «Das Vorsorgeprinzip hat versagt!» Wirkstoffe wie Chlorothalonil, die in der Umwelt kaum abgebaut werden, hätten nie zugelassen werden dürfen. Heute erweist sich Kurt Seiler als früher Rufer in der Wüste: Schon 2011 hatten er und der Verband der Kantonschemiker den Bund aufgefordert, nicht mehr zwischen relevanten und nicht relevanten Pestizidrückständen zu unterscheiden.

Seiler: «Alle Stoffe sind relevant». Kein Pestizidrückstand sollte zu mehr als 0.1 Mikrogramm pro Liter im Trinkwasser vorkommen. Doch der Vorschlag der Kantonschemiker wurde nicht ins Gesetz übernommen.

Die Versäumnisse haben Konsequenzen. Und diese könnten zunehmend gravierender erscheinen. Schweizer Grundwasser ist auch deutlich mit Trifluoracetat (TFA) belastet, das von der EU bald ebenfalls als schädlicher eingestuft werden könnte. Und TFA ist nicht so einfach aus dem Wasser zu entfernen. «Die Suppe ist angerichtet, TFA ist überall im Wasserkreislauf», sagt Kantonschemiker Seiler.

Warum reagiert der Bund nicht?

Zuständig für den Nachvollzug des EU-Verbots ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) in Elisabeth Baume-Schneiders Innendepartement. Warum bleibt es untätig? Auf Kassensturz-Anfrage schreibt das Bundesamt, es würde halbjährlich die Pflanzenschutzmittelverordnung anpassen. Danach gibt es eine Beschwerdefrist von 30 Tagen. Ab August sollte S-Metolachlor auch in der Schweiz neu eingestuft sein.

Doch Kasstensturz-Recherchen zeigen weiter: Die Liste über alle toxikologisch relevanten Stoffe in Pflanzenschutzmitteln, nach welcher die Kantonschemiker das Grundwasser aufbereiten, ist zwei Jahre alt und unvollständig. Vom BLV heissts: Man werde die Liste mit den Bewertungen der EU ergänzen, wenn das Verbot von S-Metolachlor geregelt sei.

Weshalb das Bundesamt für Landwirtschaft Pestizide bis 2022 so zurückhaltend regulierte, wollte es nicht sagen.


Der ganze Kassensturz-Beitrag

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

Kuh

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3 Meinungen

  • am 20.06.2024 um 20:37 Uhr
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    Die Interessen der Chemie-Industrie kommen vor der Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner, das scheint die Regel zu sein beim BLV. Traurig und eine unglaubliche Zumutung!

    • am 21.06.2024 um 14:02 Uhr
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      Hier stehen wir nun, über zwei Jahrzehnte nach der Einführung des Pestizidverbots in der unmittelbaren Umgebung von Trinkwasserfassungen und das für den Schutz der wichtigsten Trinkwasserressource Grundwasser zuständige Bundesamt für Umwelt BAFU hüllt sich in vornehmes Schweigen. Uebrigens musste das BAFU auf Druck der Chemie und der Landwirtschaft und auf Geheiss des Bundesrates dieses Verbot Ende 2000 wieder zurückziehen. Bis heute darf deshalb die Landwirtschaft auch in unmittelbarer Nähe von Trinkwasserfassungen mit wenigen Ausnahmen sämtliche Pestizide einsetzen.

  • am 26.06.2024 um 11:51 Uhr
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    Die Bauernlobby ist heute ein Staat im Staat. Die können offenbar alles durchsetzen oder rückgängig machen. Höchste Zeit dies bei den nächsten Bundeswahlen zu ändern.

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