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Zeitunglesen als Protest: Demonstrative Apple Daily-Lektüre am Londoner Piccadilly Circus im Juni 2021 © cc-by-nc Gerry Popplestone

Hongkong: Mit Gesetzen aus der Kolonialzeit gegen Journalismus

Yan-ho Lai und Yuen Chan /  Zwei Forschende zeigen auf, wie die Hongkonger Behörden die Meinungsäusserungsfreiheit auf legalem Weg beschneiden.

Dies ist ein Gastbeitrag der beiden Forschenden Yan-ho Lai (University of London) und Yuen Chan (City University of London). Er erschien zuerst im Online-Magazin «The Conversation».

Hongkong war noch nie eine Demokratie, aber es gab dort eine lebendige Medienszene und einen freien Informationsfluss. Damit ist jetzt Schluss. Das Nationale Sicherheitsgesetz (NSL), das 2020 einseitig von Peking verhängt wurde, geht hart gegen Proteste vor und verbietet effektiv abweichende Meinungen.

Dieses Gesetz unterdrückte die freie Meinungsäusserung und erzwang die Schließung der einzigen pro-demokratischen Zeitung der Stadt, Apple Daily, im Juni 2021. Drei Tage vor Ende des Jahres 2021 wurde dann auch das grösste unabhängige Online-Medienunternehmen der Stadt, Stand News, plötzlich geschlossen.

Die örtliche Sicherheitspolizei verhaftete sieben ehemalige DirektorInnen, KolumnistInnen und RedakteurInnen des Blattes, das aus seinen prodemokratischen Ansichten nie einen Hehl gemacht hatte, wegen angeblicher «Verschwörung zur Veröffentlichung aufrührerischer Publikationen». Das Material des Unternehmens wurde beschlagnahmt und seine finanziellen Mittel eingefroren. Der derzeitige und der frühere Chefredakteur wurden strafrechtlich angeklagt, und das Blatt schaltete seine Website und seine Konten in den sozialen Medien ab und löschte seine gesamten Online-Inhalte.

Inmitten der zunehmenden Selbstzensur boten unabhängige digitale Medien wie Stand News Raum für kritischere Berichterstattung und Meinungen. Stand News berichtete regelmässig und ausführlich über Themen und Personen, die in den Mainstream-Medien zu kurz kamen oder ignoriert wurden. Die Plattform wurde hauptsächlich durch monatliche Spenden und Crowdfunding finanziert.

Kurz nach der Schliessung von Apple Daily hatte Stand News vorbeugende Massnahmen ergriffen, um auf das zu reagieren, was es als «Ankunft der literarischen Inquisition» in Hongkong bezeichnete. Das Blatt kündigte den Rücktritt aller bis auf zwei seiner DirektorInnen an, löschte Meinungsartikel von seiner Website und setzte neue Spenden aus. Dies hielt jedoch hochrangige Vertreter der Polizei nicht davon ab, das Blatt weiterhin zu beschuldigen, die Öffentlichkeit gegen die Polizei aufzuhetzen.

Die nationale Sicherheitspolizei hat seit der Einführung des NSL mehr als 160 politische DissidentInnen und AktivistInnen verhaftet. Der Gründer von Apple Daily, Jimmy Lai, seine ehemaligen MitarbeiterInnen und die mit ihm verbundenen Unternehmen wurden im Rahmen des NSL wegen Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften angeklagt. Die Verhaftungen von Prominenten sind jedoch nur ein Teil des Bildes; der Druck auf Nachrichtenorganisationen und Journalisten nimmt verschiedene Formen an. In den Medien wurden die Hongkonger Journalistenvereinigung und der Club der Auslandskorrespondenten von Peking-freundlichen Stimmen angegriffen. Die Regierung hat sich geweigert, Arbeitsvisa für ausländische KorrespondentInnen zu verlängern, und ausländische Nachrichtenorganisationen wie das Wall Street Journal haben Drohbriefe von Hongkonger Regierungsbeamten erhalten.

Die Rückkehr der Aufwiegelungsgesetze

Die Regierung setzt nun auch koloniale Gesetze ein, um gegen die freie Meinungsäußerung und die freie Presse vorzugehen. Die Aufwiegelungsgesetze Hongkongs wurden Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt und können zu weit gefasst und subjektiv sein. So kann beispielsweise jeder strafrechtlich verfolgt werden, der Inhalte veröffentlicht oder verbreitet, die «Hass oder Unzufriedenheit gegen» die Regierung oder die Justizverwaltung hervorrufen oder die Feindschaft zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Hongkong fördern.

Diese aus der Kolonialzeit stammenden Gesetze wurden seit den 1970er Jahren nicht mehr angewandt, kehrten aber im Herbst 2020 zurück, als das Hongkonger Justizministerium sie nutzte, um Aktivisten anzuklagen, die öffentliche Reden gegen die Regierung hielten, und Gewerkschafter, die Bilderbücher für Kinder über die Pro-Demokratie-Proteste 2019 veröffentlichten.

Jetzt werden sie verwendet, um Journalisten von Apple Daily und Stand News anzuklagen. Und die Polizei teilte den Reportern kürzlich mit, dass nicht nur Meinungsartikel als aufrührerisch angesehen werden können. Zeitungsredakteure und Reporter laufen nun Gefahr, verhaftet zu werden, wenn sie regierungskritische Artikel veröffentlicht haben und die politischen Behörden diese als aufrührerisch einstufen. Da die Gesetze zur Aufwiegelung aus der Zeit vor dem NSL stammen, können auch Artikel betroffen sein, die vor Juli 2020 veröffentlicht wurden. Sobald sie angeklagt werden, wird JournalistInnen wahrscheinlich eine Kaution verweigert und sie müssen mit einer langen Untersuchungshaft rechnen.

Vor dem NSL konnte jeder, der wegen Volksverhetzung angeklagt war, damit rechnen, auf Kaution freigelassen zu werden, es sei denn, das Gericht hielt es für sehr wahrscheinlich, dass der Angeklagte erneut straffällig werden oder sich aus dem Staub machen würde. Nach dem NSL gilt dieser Grundsatz jedoch nicht mehr. In der jüngsten Entscheidung des Obersten Richters am Obersten Gericht Hongkongs heisst es, dass Aufwiegelungshandlungen als Straftaten gelten, die die nationale Sicherheit gefährden, und dass Angeklagte nur dann auf Kaution freigelassen werden, wenn sie die strengen Anforderungen des NSL erfüllen.

Abschreckende Wirkung

Die Auswirkungen auf die Medien in Hongkong waren unmittelbar spürbar. Mindestens sechs weitere unabhängige digitale Medien haben sich nach der Schliessung von Stand News entschieden, ihre Tätigkeit einzustellen, darunter auch Hong Kong Citizen News. Deren Chefredakteur, ein angesehener Veteran der Nachrichtenbranche, erklärte, man habe sich zu diesem Schritt entschlossen, um die Mitarbeiter in einem Umfeld zu schützen, in dem niemand sicher sein kann, wo die Grenzen zwischen Volksverhetzung und Nationalismus verlaufen. Die Tageszeitung Ming Pao Daily hat damit begonnen, alle Meinungsartikel mit einem Haftungsausschluss zu versehen, der besagt, dass die Zeitung nicht die Absicht hat, Hass, Verachtung oder Unzufriedenheit gegen die Regierung oder eine Gemeinschaft zu schüren.

Hongkong war einst für seine unabhängige Justiz und Rechtsstaatlichkeit bekannt. Jetzt werden die Gesetze und Gerichte von der Regierung als Waffe eingesetzt, um die Pressefreiheit und den unabhängigen Journalismus zu unterdrücken. Die Regierung hat in diesem Jahr auch die Möglichkeit eines Gesetzes über Fake News ins Spiel gebracht. Wenn die Gerichte ihre Integrität als Hüter der Meinungsfreiheit nicht aufrechterhalten können, wird das internationale Ansehen der Stadt weiter sinken.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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Chinas Aussenpolitik

Sicherung von Rohstoffen und Energie auf der halben Erde; Territoriale Konflikte im südchinesischen Meer; Taiwan

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4 Meinungen

  • am 17.01.2022 um 18:42 Uhr
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    Wikileaks hatte schon zum Missfallen von US-Präsident Barack Obama enthüllt, dass Lai und die CIA zusammenarbeiten. Lai sagte einmal, dass ihn die Niederschlagung des Tiananmen-Aufstands von 1989 politisch geprägt habe. Beeindruckt habe ihn der «Geist des Märtyrertums» der damaligen Protestierenden. «Wir gehen bis zum Letzten, ob es nun Himmel oder Hölle ist.»
    Westliche Unternehmen produzieren und nutzen Niedriglöhnerei, Armut und Unrechtsverhältnisse in Hongkong seit fast zwei Jahrhunderten in extremer Form. Die westliche Meinungsmache lobt und fördert die Menschenrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit der Bevölkerung, solange sie sich gegen China richtet, aber nicht deren Menschenrechte auf auskömmliches Arbeitseinkommen und sicheres Wohnen. Gerade im Kampf gegen den «chinesischen Feind» ist demagogisch jedes Mittel recht.

    • am 18.01.2022 um 12:08 Uhr
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      Ich habe noch etwas weiter recherchiert (ganz banal via Wikipedia), das Board des Wilson Centers besteht ausschliesslich aus US Regierungsbeamten und vom US Präsidenten ausgewählten Zivilpersonen. Unter den Beamten ist kein anderer als der US Aussenminister: Anthony Blinken!

      Wie in einem separaten Kommentar beschrieben, hat Lai die Organisation HKEOP (Election Observation Project) gegründet, welche versucht Einfluss auf das politische System Hong Kongs zu nehmen und dabei eng mit ausländischen «Advisors» zusammenarbeitet (hkeop.hk/en/about-us/). Der erste der erwähnten Advisor arbeitete im Wilson Center mit dem Ziel Einfluss zu nehmen auf das politische System in Asiatischen Ländern. Wenn der Autor also eng mit dieser Person und Organisation zusammenarbeitet, welche aus den USA heraus versucht die politischen Systeme asiatischer Länder zu verändern, kann man doch keineswegs von «keine Interessebindungen» reden, oder?

  • am 18.01.2022 um 04:00 Uhr
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    Bezüglich Interessebindungen sollte man schon erwähnen, dass Yan-Ho Lai der Gründer des HKEOP ist, welches der «demokratischen» Opposition nahesteht, und eng mit «ausländischen Advisors» zusammenarbeitet, inklusive z.B. Prof. Michael C. Davis des Wilson Center, welches von der US Regierung finanziert und geleitet wird. Prof. Davis leitete dabei das Projekt mit dem Titel «Reversing the Liberal Retreat and Establishing Constitutionalism in Emerging Democracies in Asia.» Das ist ausländische Einmischung wie sie im Buche steht. Man stelle sich einen russischen Think Tank vor, der mit unzufriedenen Amerikanern ein NGO aufbaut, um den US Wahlvorgang zu kommentieren und kritisieren…
    Es handelt sich bei diesem Autor also keineswegs ein neutraler Wissenschaftler, sondern um jemand der versucht mit Hilfe der US Regierung Einfluss auf die Entwicklung Hong Kongs zu nehmen.

    Zum Text selber: Das Nationale Sicherheitsgesetz wurde zwischen England und China verhandelt und steht im Hongkonger Basic Law. Hong Kong hat es 20 Jahre lang versäumt, diese Klausel des Basic Law in konkretes Gesetz umzumünzen. Als dann 2019 Gruppen mit ausländischer Finanzierung für extreme Gewalt in Hong Kong sorgten, da setzte der Volkskongress Chinas als übergeordnete Instanz ein Gesetz ein, und setzte somit das Basic Law um.

    2020 hat Taiwan einen pro-Beijing Kanal geschlossen, und letztes Jahr wurde dem Kanal Russia Today Deutsch in Belgien eine Lizenz verweigert. Hong Kong steht also keineswegs alleine da.

  • am 20.01.2022 um 03:10 Uhr
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    Eine Frage stellt sich spontan: Welche Geschichtsbücher studieren junge Menschen, die die Amis und Großbritannien bitten, «Hongkong zu retten»?
    Da muss schon ein ausserordentlich schwerer Grad von Ignoranz oder eben die Zusammenarbeit mit den Diensten dieser Kolonialmächten vorliegen.

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