Kommentar
Gesundheitskosten: Der deutsche Kanzler entlarvt sich selbst
Jüngst fielen im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen harte Worte. «Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten», sagte der CDU-Chef und Kanzler Friedrich Merz auf dem nordrhein-westfälischen Landesparteitag der Christdemokraten in Bonn.
Da fragt man sich sogleich, warum wir uns «dieses System» jahrzehntelang leisten konnten, und jetzt plötzlich nicht mehr. Was ist passiert?
«Das wird schmerzhafte Einschnitte bedeuten», erklärte Merz. Zwar seien Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung «die grossen Errungenschaften unseres Sozialstaates», aber damit diese nicht verloren gingen, leistungsfähig blieben und nicht überfordert seien, müsse auch die Eigenverantwortung stärker werden, denn der deutsche Sozialstaat sei «nicht mehr finanzierbar».
Kein Tag vergeht inzwischen, an dem nicht aufgeregt die Unfinanzierbarkeit des deutschen Sozialsystems behauptet wird.
Ist die Diskussion erst so weit eskaliert, so wird an dieser Stelle seit Jahren regelmässig und immer wieder die gleiche Karte gezogen und als Trumpf eingesetzt, von den immer gleichen Akteuren. Zuallererst ist da die CDU zu nennen, gleich darauf tönen die «Wirtschaftsweisen» in das gleiche Horn, und die vielen Arbeitgeberorganisationen vervollständigen das Orchester: Eigenbeteiligung!
Der Krankenversicherung werden Kosten aufgebürdet, die mit Steuern beglichen werden müssten
Erste Frage: Warum sind die Ausgaben plötzlich so hoch, nicht mehr bezahlbar?
Das hat viele Gründe. Ein Hauptgrund sind die versicherungsfremden Leistungen. Dieser nirgends exakt definierte Begriff umschreibt Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen, die nachträglich zu ihrem eigentlichen Auftrag hinzugefügt wurden, wie zum Beispiel Leistungen der Prävention und Krankheitsverhütung.
Auch Gesundheitskampagnen, Aufklärungsmassnahmen und infrastrukturelle Massnahmen zur Modernisierung von Gesundheitseinrichtungen sind ohne Zweifel wichtig, aber keine originären Leistungen einer gesetzlichen Krankenkasse, denn sie sind keine Absicherung eines gesundheitlichen Schadensfalles. Sie gehören zu den Aufgaben staatlicher Daseinsvorsorge.
Die lange Liste der versicherungsfremden Leistungen
Was hat denn eine Krankenkasse mit dem Aufbau der Telematik-Infrastruktur zu tun? Wieso müssen die Gesetzlichen Krankenkassen mehr als 90 Prozent der Kosten tragen, die durch die Lauterbach’sche «Krankenhausrevolution» entstehen? Warum müssen Krankenkassen für die Refinanzierung der Krankenhauskosten bezahlen, wo dies doch allein Ländersache ist? Warum müssen Krankenkassen einen Zuschuss zum Bürgergeld leisten? Gleiches gilt für die Digitalisierung des Gesundheitswesens oder die Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften.
Die Liste liesse sich immer weiter fortsetzen, aber diese Art von Kosten haben alle eines gemeinsam: Es handelt sich um Kernaufgaben des Staates im sozialen Bereich, die aus dem Steueraufkommen finanziert werden müssten. In einem Gutachten werden versicherungsfremde Leistungen in Höhe von 59,8 Milliarden Euro identifiziert. Diese Summe entspricht bei Versicherten mit durchschnittlichem Einkommen einer versicherungsfremden Belastung von circa 750 Euro im Jahr.
Dutzende von Krankenkassen sind Verschwendung
Zum anderen muss man fragen, wofür wir eigentlich 94 gesetzliche Krankenkassen brauchen? 1970 waren es noch knapp zweitausend!
Krankenkassen sind keine Wirtschaftsbetriebe, sie haben keinen Gewinn zu erwirtschaften und sie haben in ihrem gesetzlichen Auftrag keinerlei Konkurrenz zueinander. Eine Krankenkasse wäre genug, 94 Krankenkassen sind reine Verschwendung.
Vorschlag: ein «Sondervermögen Sozialstaat»
Wenn der deutsche Bundeskanzler öffentlich behauptet, dass ein grosser Teil der hohen Kosten im Gesundheitswesen dadurch entstünde, dass die Deutschen mit im Schnitt zehn Arztbesuchen pro Kopf und Jahr einen «einsamen europäischen Rekord» aufstellten, dann macht er damit deutlich, dass er vom Gesundheitswesens nichts versteht. Die Anzahl der Arztbesuche kann nicht europäisch verglichen werden, denn die verschiedenen Gesundheitssysteme in Europa haben völlig verschiedene Versorgungswege.
Beispiele: In den Niederlanden braucht es für eine Krankmeldung oder ein Wiederholungsrezept keinen Arztbesuch, denn das wird in Sozialzentren geregelt. In Schweden regeln qualifizierte Pflegepersonen die Versorgung, auch den Zugang zu ärztlicher Versorgung.
Nichts spricht gegen eine Überprüfung der Ausgaben der Sozialversicherungen. Wem da aber nur die «Eigenbeteiligung» einfällt, der will das System auf Kosten der Beitragszahlen gesundstossen. Stattdessen könnte man doch über ein «Sondervermögen Sozialstaat» nachdenken.
Der Sozialstaat war bezahlbar, ist bezahlbar und wird bezahlbar bleiben. Man muss es aber auch wollen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Arztes und Autors Bernd Hontschik erschien zuerst in der «Frankfurter Rundschau». Infosperber veröffentlicht eine leicht redigierte Version.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wann endlich wird ein Volk so klug, statt langgedienter Parteiarbeiter oder Berufspolitiker Fachleute mit praktischer beruflicher und Lebenserfahrung in verantwortliche Ämter – bis hoch zur Regierung – zu wählen? Wobei das deutsche Wahlsystem und die Staatsform der «repräsentativen Demokratie» genau das verhindern. Also muss das System geändert werden. Die Krankenkassen sind nur ein Beispiel dafür, mit welcher Ignoranz der Sozialstaat von denen zerstört wird, die relativ unabhängig von ihm sind. Während sich für Millionen Menschen die Lebensbedingungen verschlechtern, aufgrund steigender Preise, Rüstungsausgaben, Mieten usw., beruhend auf unsinnigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, einer umweltzerstörerischen Wachstumsideologie und Profitjägerei, labern wir seit Jahrzehnten über die immer selben Probleme und müssen die wählen, die dem Erhalt des Systems dienen. Fangen wir doch einfach mal bei der überflüssigen Vielzahl der Krankenkassen an.