Kantonale Abstimmung dringliche Gesetzgebung

Keine Argumente gegen die Vorlage – 0 Nein-Stimmen: Die Stimmberechtigten müssen nur noch abnicken. © Esther Diener-Morscher

Mehr Macht fürs Parlament: Wo bleiben die Gegenargumente?

Esther Diener-Morscher /  Der Kanton Bern will eine dringliche Gesetzgebung einführen. Dem Volk empfiehlt er ein Ja – Einwände verschweigt er.

In gut einer Woche stimmt die Berner Bevölkerung über eine Änderung der Kantonsverfassung ab: Der Kanton will eine dringliche Gesetzgebung schaffen. In Notsituationen soll das Parlament neue Gesetze sofort einführen können, ohne die sonst übliche Referendumsfrist abzuwarten. Erst sechs Monate nach dem Blitzentscheid muss eine Volksabstimmung stattfinden.

Über diese Ausweitung seiner eigenen Macht hat das Berner Parlament – wen wundert’s – nicht lange diskutiert. Das zeigt sich auch in den Abstimmungsunterlagen: Unter dem Titel «Argumente im Grossen Rat» sind fünf Begründungen dafür aufgeführt, warum es das neue Gesetz braucht. Gegen die Vorlage wird den Stimmberechtigten kein einziges Argument geliefert. Denn das Abstimmungsresultat im Grossen Rat lautete: 148 Ja zu 0 Nein.

Dass ein Parlament unbestrittene Vorlagen ohne Gegenstimme dem Stimmvolk vorlegt, kommt vor. Und es ist auch üblich, dass in den Abstimmungsunterlagen nur die Argumente des Parlaments vermeldet werden. Unschön ist, dass sich im vorliegenden Fall sämtliche Berner Parlamentarier und Parlamentarierinnen ohne eine Gegenstimme selber ein Recht zugestehen, das ihnen massiv mehr Macht einräumt. Und dass die Stimmberechtigten deshalb nicht erfahren, dass es durchaus Gegenargumente gäbe. In diesem Fall hätten zumindest die Medien dieses neue Recht kritisch unter die Lupe nehmen müssen. Doch das taten sie nicht.

Widerspruch aus der falschen Ecke

Die Vorlage war kein Thema oder nur ein nebensächliches. Anders als bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente setzen sich keine wichtigen Wirtschaftsleute und Alt-Bundesräte für ein Nein ein. Sondern nur zwei kleine Rechts-Parteien – die Junge SVP und die Schweizer Demokraten – sowie zwei Organisationen, die gegen die Corona-Massnahmen opponiert hatten: die Verfassungsfreunde und Mass-Voll.

Die Zeitung Bund liess diese Gegner mit dem Argument zu Wort kommen, dass sie «einen Klima- oder Energielockdown» befürchteten. Dabei gäbe es durchaus vernünftige Gründe, die neue Vollmacht fürs Parlament zu kritisieren.

Hilfloses Parlament während der Pandemie

Während der Pandemie nützte die Berner Regierung ihre weitreichenden Kompetenzen für Notrecht aus, und dem Parlament blieb nichts anderes übrig, als die beschlossenen Massnahmen abzunicken. Der Staatsschreiber des Kantons Bern, Christoph Auer, zeigte nach der Pandemie in einem juristischen Beitrag die Schwierigkeiten und Unklarheiten dieses Notrechts.

Das Parlament will nun dieses Problem lösen, indem es dieses einfach verschiebt: Neu könnte zwar das Parlament über dringliche Gesetze entscheiden. Doch nun ist es das Volk, das sechs Monate später die notrechtlich beschlossenen Massnahmen abnicken soll. Das eigentliche Problem – nämlich die unklare Notrechtskompetenz des Regierungsrats – ist damit nicht gelöst. Und dort gibt es laut Auer tatsächlich Mängel, die sich während der Pandemie gezeigt haben: etwa den «ungenügenden Einbezug» der von einer Massnahme hauptsächlich Betroffenen und den «nicht optimalen Einbezug der Gemeinden und Städte».

Jedes dringende Gesetz ist heikel

Generell ist jede dringliche Gesetzgebung problematisch. Das zeigte sich auf nationaler Ebene an den Beispielen der Credit-Suisse oder der Axpo: Beide Firmen mussten überhastet mit viel Geld gerettet werden, weil die Politik zu wenig weitsichtig war. Und es zeigte sich auch: Die bereits vollzogenen Massnahmen liessen sich nicht mehr rückgängig machen – sondern nur noch abnicken. Trotzdem will der Kanton Bern nun ausgerechnet diese Notrechtskompetenz des Bundesrats zum Vorbild nehmen. In den Abstimmungsunterlagen steht – quasi als «Gütesiegel»: «Der Bund und zahlreiche Kantone kennen diese Möglichkeit bereits.»

Dass es vielleicht besser wäre, diese Möglichkeit zu beschränken, statt sie auszubauen, zieht das Parlament nicht in Betracht – sollte es aber. Denn eine Übersicht über die Dringlichen Bundesgesetze zeigt, dass der Bundesrat dieses Recht zunehmend ausnützt:

  • In 20 Jahren von 2000 bis 2019 setzte der Bundesrat 28 solcher Gesetze in Kraft.
  • In nur 4 Jahren seit 2020 waren es bereits 19 dringliche Bundesgesetze, darunter nicht nur die Covid-19-Gesetze, sondern auch die Axpo-Rettung, die Sicherung der Winter-Stromversorgung und die erleichterte Zulassung für ausländische Ärztinnen und Ärzte.

Ausserdem wollte der Bundesrat letztes Jahr eine Lex Ukraine dringlich einführen. Doch der Nationalrat lehnte das ab. Mit der Kriegsmaterial-Sonderregel für die Ukraine wäre die Ukraine vermutlich schneller aufgerüstet worden, als die Bevölkerung darüber hätte abstimmen können. Damit wäre die Abstimmung überflüssig geworden – und hätte vielen Stimmberechtigten einmal mehr das Gefühl vermittelt, übergangen worden zu sein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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6 Meinungen

  • am 21.02.2024 um 13:07 Uhr
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    Der Begriff «Abnicken» für die hohe Hürde des obligatorischen Referendums scheint mir unnötig polemisch.

  • am 22.02.2024 um 01:00 Uhr
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    Gut, dass endlich ein kritisches Auge über diese Berner Abstimmung schreibt. Es ist tatsächlich so, dass die Demokratie schleichend und diskret untergraben wird. Wenn die direkte Demokratie abgeschafft ist, dann wird es zu spät sein! Auch Demos werden nichts mehr nützen, denn diese werden einfach verboten werden, um Krawalle zu verhindern. In Bern dürfen Pro-Palästina Demonstrationen schon jetzt nicht mehr stattfinden, obwohl sich die Schweizer Bevölkerung gegen dieses ungeheuerliche Massaker und Aushungern eines ganzen Volkes mobilisieren sollte und dem Bundesrat befehlen, Gelder für humanitäre Hilfe locker zu machen. Aber in Bern schweigt man…

  • am 22.02.2024 um 08:13 Uhr
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    An sich guter Artikel, danke. Aber aus der Formulierung «aus der falschen Ecke» trieft leider moralische Selbsterhöhung, das wäre nicht nötig Frau Diener.

  • am 22.02.2024 um 14:36 Uhr
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    Hier zeigt sich welche Gruppen und Parteien sich noch für die Freiheit engagieren. Genau MASS-VOLL und der FdV setzen sich nach wie vor für die verfassungsmässigen Rechte der Bürger ein. Und das auch nach der Zwangsmassnahmenzeit.
    Aus meiner Sicht hat die EDU und die SVP bei dieser Vorlage ziemlich versagt. Ich kann nicht nachvollziehen, dass deren Vertreter im Grossen Rat geschlossen dafür gestimmt haben. Die EDU macht sogar Werbung in den Lokalzeitungen mit ihrem Nationalrat im Kanton Bern für ein Ja zu dieser demokratiefeindlichen Vorlage.
    Wird dieses Gesetz vom Souverän durchgewunken, dann steht die Tür offen für weitere Einschränkungen der Volksrechte, wie es unsere Politiker z.B. mit der WHO und der EU am Aufgleisen sind. Welche Parteien lassen uns dort im Regen stehen?

  • am 22.02.2024 um 15:05 Uhr
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    An unserer Medienkonferenz haben wir viele Gegenargumente erwähnt, die leider in den Medien wenig Echo fanden.

  • am 23.02.2024 um 21:59 Uhr
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    Kein Notrecht für den Kanton Bern
    Was macht die direkte Demokratie aus, zu der wir Sorge tragen müssen?
    Wie in keinem anderen Land wird vor jeder Abstimmung eine Pro- und Contra-Diskussion geführt. Danach können sich die Stimmbürger eine eigene Meinung bilden.
    Doch bei der kantonalen Gesetzesvorlage – über die wir am 3.3.2024 abstimmen – bei welcher die Einführung einer dringlichen Gesetzgebung (Notrecht) verlangt wird, werden im Abstimmungsbüchlein nur befürwortende Argumente aufgeführt. Dies ist einer direkten Demokratie unwürdig. Denn wir brauchen im Kanton Bern kein Notrecht: Bei Naturkatastrophen sind die gut funktionierenden, geschulten Institutionen, wie Polizei, Sanität, Feuerwehr, Zivilschutz sofort vor Ort. Bei einer Bedrohung der äusseren Sicherheit und einer Pandemie ist der Bund zuständig. Was allerdings verbessert werden muss, ist die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und dem Bund bevor ein Notrecht ausgerufen wird. Darum: «Nein» zur Änderung der Kantonsverfassung!

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