SAEZ

Da war die Welt noch in Ordnung: Im September 2022 erschien das «gelbe Heft», wie die Ärzteschaft ihr Verbandsorgan nannte, in neuer Aufmachung – mit der FMH-Präsidentin Yvonne Gilli auf dem Titelblatt. © FMH

So trieb der Ärzteverband FMH seinen Verlag in den Konkurs

Alan Niederer /  Nach 27 Jahren kam für den Schweizerischen Ärzteverlag das Aus. Voraus ging ein jahrelanger Streit. Bericht eines Geschassten.

Red. – Der Autor dieses Beitrags war über zwei Jahrzehnte Medizinredaktor bei der «NZZ». Dann wechselte er zum Schweizerischen Ärzteverlag – und verlor acht Wochen später die Stelle, weil sein neuer Arbeitgeber pleite ging. 

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So hätte ich mir den Einstieg beim Schweizerischen Ärzteverlag in Basel nicht vorgestellt. Er dauerte gerade mal sechs Wochen. Dann platzte die erste Bombe. Eine Woche später die zweite. Und nach einer weiteren Woche war Schluss. Der Verlag meldete Konkurs an. 35 Personen verloren ihre Stelle. 

Ich bin einer davon. Und der Einzige, der noch in der Probezeit war. «Dumm gelaufen», könnte ich sagen und mir einen neuen Job suchen. Das werde ich auch. 

Zuvor möchte ich aber diese Geschichte erzählen. Es ist meine Geschichte und die von 34 Kolleginnen und Kollegen, die alle Anfang September auf die Strasse gestellt wurden. Es ist auch die Geschichte des Schweizerischen Ärzteverlags, der nach 27 Jahren ein brutales Ende fand. Und es ist die Geschichte des Schweizerischen Ärzteverbands FMH, der den eigenen Verlag und dessen Hauptpublikation, die «Schweizerische Ärztezeitung» (SÄZ), in den Abgrund stiess.

Natürlich haben nicht die über 45’000 im Verband organisierten Ärztinnen und Ärzte den Verlag auf dem Gewissen. Sondern der FMH-Zentralvorstand. Vergleichbar mit dem Bundesrat ist das sechsköpfige Gremium die Exekutive und damit die Regierung in der Schweizer Ärzte-Welt. Präsidiert wird der Zentralvorstand seit vier Jahren von der Hausärztin und ehemaligen Grünen-Nationalrätin Yvonne Gilli.

Nebulöse Wortwahl: «Verschiedene Vorkommnisse»

Was diese Geschichte besonders brisant macht: Zu den Gründen, weshalb der Verlag sterben musste, hat der FMH-Zentralvorstand selbst gegenüber seinen Verbandsmitgliedern nur nebulös kommuniziert. So schrieb die FMH-Präsidentin in ihrer Informationsmail vielsagend: «Verschiedene Vorkommnisse» hätten dazu geführt, dass man die Verträge mit dem Ärzteverlag per sofort gekündigt habe. Genaueres gab es nicht. Offenbar wollte man den Ball flach halten.

Um etwas Licht in die «verschiedenen Vorkommnisse» zu bringen, will ich den düsteren Ärzte-Thriller hier aus meiner Sicht erzählen. Denn als langjähriger Journalist glaube ich an den Wert einer offenen, unabhängigen und transparenten Berichterstattung. Diese Leidenschaft wird von der FMH-Spitze nicht geteilt, wie ich noch aufzeigen werde.

Eigens geschaffene Stelle

Trotz aller Wut, Trauer und Ohnmacht, die ich seit meiner Kündigung empfinde, bereue ich den Wechsel zum Ärzteverlag nicht. Nach mehr als 22 Jahren bei der «NZZ» wollte ich im Alter von 57 nochmals etwas Neues wagen. Der Ärzteverlag schien mir der ideale Ort zu sein, um meine Erfahrungen als ausgebildeter Arzt und Medizinjournalist einzubringen.

Die Stelle stand in keinem Inserat. Sandra Ziegler, die langjährige Geschäftsführerin des Verlags, hat sie für mich geschaffen: Leiter journalistische Inhalte. Zuvor hatte ich Sandra in einer ersten Kontaktaufnahme ein paar Projektideen für die Ärztezeitung geschickt. Danach trafen wir uns zu einem ersten persönlichen Gespräch. 

Was mir an der promovierten Zellbiologin gefiel, war ihre nüchtern-analytische Art in Kombination mit Grosszügigkeit und Humor. Mit ihr habe ich eine tolle Sparringpartnerin, dachte ich. «Nach fünfzehn Minuten wusste ich, das ist meine neue Chefin», sagte ich später zu meiner Frau, die als HR-Leiterin selbst viele Bewerbungsgespräche führt. Nach zwei weiteren Treffen mit Sandra unterschrieb ich den Arbeitsvertrag. Arbeitsbeginn war der 1. Juli 2024.

Eine Vorahnung: Die Zusammenarbeit mit der FMH könnte harzig werden

Bereits in dieser Anfangsphase hatte ich allerdings einen einzigen, kleinen Vorbehalt: die Zusammenarbeit mit der FMH. Sie könnte harzig werden, dachte ich. Dieser Eindruck verfestigte sich an einer Strategie-Retraite Mitte Mai. Obwohl ich noch nicht für den Verlag arbeitete, war ich dazu eingeladen worden. So lernte ich neben der Führungscrew auch den gesamten Verwaltungsrat des Ärzteverlags kennen. 

Über meine Bedenken in Bezug auf die FMH sprach ich mit Freunden und Bekannten. Meine Frau versuchte mich zu beschwichtigen: «Du brauchst etwas Reibung, sonst ist die Aufgabe zu einfach», sagte sie. Wir sprachen darüber, dass ich als Mediziner mit viel Verständnis für die Ärzteschaft eine Vermittlerrolle zwischen FMH und Ärzteverlag einnehmen könnte. «Die freuen sich bestimmt alle auf dich», meinte meine Frau. Andere sagten das Gleiche.

Als ich im Juli in Basel anfing, war ich voller Elan und legte sofort los. Doch weit kam ich nicht. Ich konnte mich nicht einmal in der Ärztezeitung der Leserschaft vorstellen. Die Hiobsbotschaft vom Konkurs kam vorher. 

«Der Verlag ist klinisch tot»

Der Schweizerische Ärzteverlag starb am 4. September, an einem schönen, warmen Spätsommertag. Die Belegschaft war auf zwölf Uhr in die erst drei Monate zuvor neu bezogenen Verlagsräume gerufen worden. Wir sassen und standen um den grossen Holztisch, wo wir gewöhnlich das Mittagessen einnahmen. 

«Ich habe leider gar keine guten Nachrichten», sagte Ludwig Heuss, der Interim-Verwaltungsratspräsident des Schweizerischen Ärzteverlags, gleich zu Beginn seiner Informationen. Damit war klar, dass der «worst case» eingetreten war. Keine Rettung für niemanden. Der letzte Funken Hoffnung war weg. Eine Kollegin begann zu weinen, einige kämpften mit den Tränen.

«Der Verlag ist klinisch tot», sagte der Mediziner Heuss sichtlich bewegt. Auch er kämpfte mit den Emotionen. Kein Wunder. Der Chefarzt am Spital Zollikerberg in Zürich hatte den Verlag mit anderen zusammen gründet. Initiator war der damalige FMH-Präsident Hans Heinrich Brunner. 

«Was jetzt geschieht, ist die Leichenschau», fuhr Heuss fort. Ein Konkursverwalter wird versuchen, die wertvollen Teile aus der Konkursmasse zu verkaufen, um damit die noch ausstehenden finanziellen Forderungen zu begleichen.

Als Mehrheitsaktionärin hatte die FMH das Sagen

Warum aber ist es so weit gekommen? Die Frage hing an diesem Mittwoch wie zäher Nebel in der Luft. Hätte es für den Ärzteverlag kein besseres Ende gegeben? Oder war das gar nicht das Ziel? Auch wenn niemand in die Köpfe der beteiligten Personen hineinschauen kann und das Beweisen jeder «Wahrheit» schwierig bis unmöglich ist, sprechen die Fakten und Umstände in meinen Augen dafür, dass der FMH-Zentralvorstand den Ärzteverlag sehenden Auges und mit Absicht sterben liess. (Dass die FMH-Spitze das anders sieht, liegt auf der Hand – ihre Sichtweise ist im Kasten am Schluss des Artikels zu lesen.)

Wichtigster Fakt: Der Schweizerische Ärzteverlag gehörte zu 55 Prozent und damit mehrheitlich der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Die restlichen 45 Prozent der Aktien gehörten der Petri Holding von Ludwig Heuss. Unter diesem Dach befinden sich auch die Verlage Schwabe, NZZ Libro und Zytglogge.

Als Mehrheitsaktionärin konnte die FMH letztlich über den Ärzteverlag bestimmen. Das war so gewollt. Denn der Verlag war ein ärztliches Projekt. So hatte die FMH das Recht, im sechsköpfigen Verwaltungsrat zwei Mitglieder plus den Präsidenten zu stellen. Zudem mussten alle relevanten Entscheidungen mit einem qualifizierten Mehr beschlossen werden: mit mindestens 5 von 6 Stimmen im Verwaltungsrat und einstimmig im Aktionariat. Damit war es unmöglich, die FMH-Vertreter zu überstimmen und etwas gegen ihren Willen durchzusetzen.

Stopp-Befehl aus Bern

Die FMH war also – als Haupteigentümerin und zentrale Stimme im Verwaltungsrat – die Chefin im Ärzteverlag. Zudem besass sie die Rechte am wichtigsten Verlagsprodukt: der «Schweizerischen Ärztezeitung» (SÄZ). Die FMH konnte deshalb dem Verlag als Lizenznehmer verbieten, «ihre» SÄZ herauszugeben. Genau das tat der FMH-Zentralvorstand Ende August mit seiner ausserordentlichen Kündigung der Verträge. 

Das fast hundert Seiten starke Heft war bereits fertig produziert, als der Stopp-Befehl aus Bern kam. Damit lag der Verlag von einem Tag auf den andern im Sterben. Denn ohne die Werbeeinnahmen aus den SÄZ-Ausgaben gab es kein Überleben. Nur die rasche Rücknahme der einseitigen Vertragskündigung hätte das Blatt noch wenden können. Doch die Tage der gesetzten Frist verstrichen. Der FMH-Zentralvorstand blieb hart – bis zum bitteren Ende. Bei einem Patienten würde man von Exitus letalis wegen unterlassener Hilfeleistung sprechen. 

«Ich habe nicht einmal eine Antwort bekommen»

Er habe Yvonne Gilli eingeladen, an der Mitarbeiterinformation teilzunehmen oder einen Vertreter zu schicken, um der Belegschaft zu erklären, warum es für den Ärzteverlag kein Überleben gegeben habe, sagte Ludwig Heuss an dem schwarzen Mittwoch, als er uns über den Firmenkonkurs informierte. «Ich habe nicht einmal eine Antwort bekommen.» Das Verhalten des Zentralvorstands zeuge von Arroganz und Borniertheit, sagte Heuss. Wie fast alle Ärzte ist auch er FMH-Mitglied.

Heuss schloss seine Ausführungen mit dem bitterbösen Vergleich: «In der Biologie nennt man Tiere ohne Rückgrat Mollusken.» Für mich hat das Fernbleiben des Zentralvorstands einen einfachen Grund: Die FMH-Spitze hatte keine guten Argumente für ihr zerstörerisches Werk. Wie hätte sie der Belegschaft erklären können, dass es keine andere, mildere Variante als die totale Zerschlagung des Verlags gab? «Warum so chirurgisch-radikal?», hätten wir Frau Gilli gefragt. «Als Befürworterin der Homöopathie setzen Sie doch sonst auf sanfte Medizin.» Wir hätten auch über Verantwortung gesprochen. Kompromissfähigkeit. Besonnenheit. Weitsicht. Aber so weit kam es nicht.

Vier von sechs Verwaltungsräten treten zurück 

Laut Friedrich Dürrenmatt ist eine Geschichte dann erzählt, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Nach dieser Definition ist die Geschichte des Schweizerischen Ärzteverlags hiermit fertig. Was aber liess die Krise zwischen der FMH-Spitze und dem Ärzteverlag derart eskalieren, dass es kein Zurück mehr gab? Was sind die wahren Ursachen für den Tod des Verlags?

Nach meiner Einschätzung gab es zwei Hauptgründe: einen finanziellen und einen standespolitisch-weltanschaulichen. Zuerst zum Finanziellen – und damit zum Geld. Seit Jahren schon wurde über die Finanzierung des Ärzteverlags gestritten. Dieser Streit eskalierte Ende Juli. Damals traten vier der sechs Verwaltungsräte zurück. Unter ihnen die FMH-Vertreter. Auf dem sinkenden Schiff blieben Ludwig Heuss und ein weiterer Verwaltungsrat zurück.

Zu hundert Prozent von Werbeeinnahmen abhängig

Zum Finanzierungsstreit muss man wissen, dass der Ärzteverlag seit 2021 jährlich Verluste von rund 200’000 Franken einfuhr. Dies, weil der Verlag und die Schweizerische Ärztezeitung zu hundert Prozent von Werbeeinnahmen abhängig waren – und diese Einnahmen wie bei allen Qualitätsmedien seit Jahren stark zurückgingen.

Um die Finanzierung auf eine solide Basis zu stellen, versuchte der Ärzteverlag seit Jahren, die FMH-Spitze davon zu überzeugen, einen kleinen Teil des FMH-Mitgliederbeitrags dem Verlag für die Produktion der SÄZ zu überlassen. Vergeblich. Laut Heuss hätten 50 bis 60 Franken pro FMH-Mitglied gereicht, um das Unternehmen langfristig zu sichern. Die FMH-Mitgliedschaft kostet für Hausärzte und leitende Spitalärzte jährlich 800 Franken; für Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung ist es weniger.

Ärzteverlag wollte sich über Abonnemente finanzieren

Tatsächlich gab es früher einen solchen FMH-Beitrag an den Ärzteverlag. Dieser wurde aber vor rund zehn Jahren abgeschafft – in einer Zeit, als die Erlöse aus den Printanzeigen noch sprudelten. Die Streichung dieser Unterstützung hat der FMH-Zentralvorstand seinen Mitgliedern nie offiziell kommuniziert. Wahrscheinlich wollte man keine lästigen Fragen zur Höhe und der Verwendung der Mitgliederbeiträge provozieren.

Ohne FMH-Hilfe entschied sich der Ärzteverlag 2020, seine Finanzierung neu über Abonnemente sicherzustellen. Dafür wurde die Plattform Swiss Health Web lanciert. Sie sollte das Verlagsgeschäft ins digitale Zeitalter führen. Auf der neuen Plattform wollte man neben medizinischen Fachinformationen auch nützliche Arbeitsinstrumente für die Ärzteschaft bereitstellen. 

Verwaltungsrat genehmigte die Weiterentwicklung

Die Arbeiten am Swiss Health Web hat der Verwaltungsrat des Ärzteverlags regelmässig überprüft und genehmigt. Im Oktober 2023 konnte die Plattform im Internet aufgeschaltet werden, im Juli startete der Abonnementsverkauf. Dieser entwickelte sich allerdings nur schleppend, weshalb ein akuter Liquiditätsengpass drohte. Dies auch deshalb, weil die Investitionen für die digitale Plattform von rund 700’000 Franken und die laufenden Defizite die Reserven des Verlags aufgefressen hatten.

Das sich abzeichnende Zahlungsproblem hatten die Verantwortlichen laut Heuss im Februar 2024 erkannt. Der Verwaltungsrat wandte sich deshalb erneut an den FMH-Zentralvorstand. Neben der langfristigen Finanzierung ging es jetzt auch um eine kurzfristige Finanzspritze. Völlig unerwartet liess die FMH-Führung ihren Hausverlag abblitzen. Yvonne Gilli und der FMH-Finanzchef schrieben dem Ärzteverlag Ende Juli in einem Brief, dass die FMH «zur Bewältigung der finanziellen Notlage (…) definitiv kein finanzielles Engagement an den Tag legen» wird. Der Ärzteverlag müsse das benötigte Geld «von Dritten ausserhalb der FMH» beschaffen.

Öffentlicher Aufruf an die Ärzteschaft

So an die Wand gedrängt, entschied sich Ludwig Heuss als Mitgründer, Miteigentümer und Verwaltungsrat des Ärzteverlags zu einem ungewöhnlichen Schritt: In einem dringenden Aufruf wandte er sich Mitte August in der Ärztezeitung und in einem Video auf YouTube direkt an die Ärzteschaft. In drastischen Worten schilderte er die desolate finanzielle Situation des Verlags. Dabei räumte er auch mit dem Mythos auf, dass die Ärzteschaft mit ihrem FMH-Mitgliederbeitrag die SÄZ finanziere.

Heuss rief seine Kolleginnen und Kollegen auf, «noch heute» für 220 Franken ein Jahresabonnement für das Swiss Health Web zu lösen. Nur so könne das Überleben des Verlags und der Ärztezeitung sichergestellt werden.

Mit seinem Aufruf wollte Heuss den Liquiditätsengpass überwinden und die Ärzteschaft wachrütteln. Damit sollte der Druck auf den FMH-Zentralvorstand steigen, so dass dieser sein Nein zur finanziellen Beteiligung am Ärzteverlag nochmals überdenke. 

Wie die meisten im Verlag war auch ich von Heuss’ dringendem Aufruf an die Ärzteschaft völlig überrascht worden. Die erste Bombe war explodiert. Wir hatten ja keine Ahnung, dass es finanziell so schlecht stand. Und wir alle waren schockiert und fassungslos über die Kaltschnäuzigkeit der FMH-Spitze. 

Social-Media-Kampagne zur Rettung des Verlags

Im Verlag herrschte jetzt Untergangsstimmung. Wir arbeiteten im Krisenmodus und fragten uns, was wir selbst in der Situation tun konnten. In der Schockstarre verharren? Davonlaufen? Oder kämpfen? Wir entschieden uns als Kollektiv für den Kampf und starteten zur Rettung des Verlags eine Social-Media-Kampagne. Auch ich machte mit und richtete mir ein Linkedin-Profil ein. So wurde ich nach sechs Wochen beim Ärzteverlag zum Aktivisten in eigener Sache.

Doch kann eine solche Kampagne erfolgreich sein? 35 Verlagsleute gegen den riesigen FMH-Verband mit einem Jahresbudget von knapp 36 Millionen Franken. «Es ist wie David gegen Goliath», sagte eine Kollegin in einer Mischung aus Trotz und Wut. Ich erwiderte: «Ja, aber anders als in der Bibel gewinnt im realen Leben meist Goliath.»

Die Rettungsaktion unter dem Hashtag «#rettetSÄZundSMF» (SMF stand für das Weiterbildungsmagazin «Swiss Medical Forum») spülte so viel Geld in die Kasse, dass der Verlag bis zum Jahresende hätte weiterarbeiten können. In dieser Zeit wäre eine offene Diskussion innerhalb der Ärzteschaft und in der Ärztekammer zur weiteren Finanzierung des Ärzteverlags möglich gewesen. Die Ärztekammer ist das Parlament in der Schweizer Ärzte-Welt.

Zwei Wochen später war der Verlag tot

Diese Diskussion hat die FMH-Regierung verhindert. Denn eine Woche nach der ersten Bombe platzte die zweite: Der Zentralvorstand brach die Verhandlungen mit dem Ärzteverlag ab und kündigte alle Verträge. Zwei Wochen später war der Verlag tot. Mit ihrem Coup opferte die FMH-Spitze neben den 35 Mitarbeitenden auch fünf medizinische Fachzeitschriften und das Swiss Health Web. Und sie missachtete die vertraglich vereinbarten Regeln, wie bei Differenzen ein Konsens gesucht werden muss.

Das bringt mich zum zweiten Hauptgrund, weshalb der Ärzteverlag in meinen Augen sterben musste: der Frage nach der Unabhängigkeit der Redaktion. Dieser Konflikt ist vielleicht noch gewichtiger als der Finanzierungsstreit. Und er ist für mich persönlich die bitterste Pille in der ganzen Geschichte.

So gab es in der Vergangenheit immer wieder Artikel, die der FMH-Führung nicht passten. Etwa ein Bericht über das Gesundheitssystem in einem nordischen Land. Dieser war für einige zu positiv ausgefallen. Dass die Verbandsspitze den Artikel kommentieren und so zu einer lebhaften und vielschichtigen Diskussion in der Ärzteschaft beitragen konnte, reichte dem Zentralvorstand nicht. Er wolle mehr Kontrolle über den Inhalt.

Redaktionelle Unabhängigkeit – nur auf dem Papier

Ganz anders die Ideale und Ziele bei der Gründung des Ärzteverlags. Man wollte «den Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz unabhängige, neutrale und zuverlässige Informationen aus allen Bereichen ihres beruflichen Umfelds zur Verfügung stellen», heisst es im sogenannten Aktionärbindungs- und Kooperationsvertrag. Zudem einigte man sich auf ein Redaktionsstatut, das – im Rahmen der gemeinsamen Ziele von FMH und Ärzteverlag – die redaktionelle Unabhängigkeit und journalistische Freiheit garantierte.

Damit wollte man sicherstellen, dass die Publikationen des Ärzteverlags die Vielfältigkeit der Ärzteschaft widerspiegeln. Sie sollten auch für abweichende Meinungen und Widerspruch offenstehen. Und nicht, wie Heinrich Brunner, der Initiator des Ärzteverlags, es einst ausdrückte, «als eine Art Osservatore Romano nur unkritisch die Verlautbarungen des Heiligen Stuhls wiedergeben».

«Über nichts anderes ist in den letzten zwei bis drei Jahren mit der FMH-Spitze so viel gestritten worden wie über dieses bewährte Redaktionsstatut», sagt Heuss. Noch in der letzten gemeinsamen Verwaltungsratssitzung Ende Juli habe einer der FMH-Vertreter mit lauter Stimme gefordert: «Wenn wir schon für die Ärztezeitung zahlen sollen, dann sagen wir auch, was drinsteht.»

Heuss kann über ein solches Verständnis von Medien und ihrer Funktion in einer Demokratie nur den Kopf schütteln. «Publizistische Freiheit und redaktionelle Unabhängigkeit sind ein hohes und verletzliches Gut», sagt der Arzt, der als Enkel des ersten deutschen Bundespräsidenten den liberalen Kompass in der Familien-DNA trägt. Manche Mitglieder des FMH-Zentralvorstands hielten dieses Gut leider nicht mehr für zeitgemäss. «Sie sehen deshalb auch nicht, was fehlt ohne den Ärzteverlag.»

Oberster Entscheidungsträger wie Hund und Katz›

Die unheilvolle Eskalation des Streits dürfte somit auch mit der personellen Besetzung des Zentralvorstands zu tun gehabt haben. Wie auch mit der Schnittstelle zwischen FMH und Ärzteverlag. Die höchsten Vertreter dieser Schnittstelle waren zum Schluss Yvonne Gilli und Ludwig Heuss. Die zwei seien von ihrer Persönlichkeit her so unterschiedlich, dass ein Beobachter von Hund und Katze spricht. Kann so eine Geschäftsbeziehung langfristig gelingen? 

Nach dem abrupten Verlagstod wissen wir eines mit Sicherheit: Die FMH-Spitze interessierte sich beim ganzen Zerwürfnis letztlich nur für die Ärztezeitung als Verbandsmitteilungsblatt. Alles andere war ihr offenbar egal. So steht im FMH-Medienkommentar nach Heuss’ dringendem Appell zur Rettung des Verlags: Der Aufruf habe den Eindruck erweckt, dass die SÄZ aufgrund von finanziellen Problemen in ihrer Existenz gefährdet sei. Das sei nicht so: «Die FMH wird sicherstellen, dass die SÄZ als Verbandszeitschrift weiterbestehen wird.» 

Und weiter: Die Ursachen für die schwierige Situation des Ärzteverlags sei nicht die SÄZ, sondern das IT-Projekt Swiss Health Web, das der Ärzteverlag «auf eigenes Risiko gestartet hat und mit dem er sich verkalkuliert hat.» Der Schwarze Peter wird hier eiskalt dem Ärzteverlag untergejubelt. Kein Wort davon, dass die FMH im Verwaltungsrat sass und das Projekt mitverantwortete. «Mitgegangen, mitgehangen» scheint für die FMH-Spitze nicht zu gelten. Das ist knallharte Machtpolitik: Man macht etwas, weil man es machen will und machen kann. Kollateralschäden nimmt man in Kauf und kehrt sie mit Nebelpetarden-Kommunikation («verschiedene Vorkommnisse») unter den Teppich.

«Welches Thema bearbeitest du denn?»

Den Konflikt um die Unabhängigkeit der Redaktion habe ich selbst hautnah erlebt. Und das schon beim ersten grösseren Artikel über ältere Ärztinnen und Ärzte und der Frage, wann sie mit Praktizieren aufhören sollten. Ich bat die FMH um drei Zahlen aus der Ärztestatistik. Diese bekam ich. Aber mit einer Mail der Kommunikationsexpertin Charlotte Schweizer versehen, die bei mir die Alarmglocken schrillen liess.

Es begann harmlos: «Wir wären (…) froh, wenn wir die Passagen, wo die Zahlen verwendet und eingebettet sind, bzw. wenn die FMH erwähnt wird, im Voraus noch sehen dürften.» Das ist okay. Danach aber folgte: «Es ist wichtig, die Rahmenbedingungen der Erhebung zu kennen, damit die Interpretation korrekt wiedergegeben wird. Einfach damit wir sicher sind, dass es standespolitisch etc. korrekt ist.» So schreibt man vielleicht einem Praktikanten, aber nicht einem Journalisten mit 25 Jahren Berufserfahrung. Ich hatte den Eindruck, dass man dem Neuen im Ärzteverlag gleich mal den Tarif durchgeben wollte. Dazu passt auch der Schluss der Mail: «Welches Thema bearbeitest du denn? Gerne können wir dies auch noch mündlich besprechen, evtl. kann ich dir so auch Inputs geben, die dir weiterhelfen beim Verständnis der Ärzteschaft etc.»

Ich kochte innerlich. Trotzdem versuchte ich, in meiner Antwort-Mail nicht zu überschiessen. Schliesslich hatte ich mit Charlotte bereits zum Kennenlern-Mittagessen abgemacht. So schrieb ich nur: «Deine Sorge, dass ich die Zahlen und die Statistik falsch verstehen und interpretieren könnte und deshalb Hilfe vonseiten der FMH benötige, irritiert mich. Es zeigt mir, dass wir bei unserem Treffen unbedingt über unser Rollenverständnis und die Art der Zusammenarbeit sprechen müssen.»

Sich zusammenraufen …

Das Treffen mit Charlotte verlief dann erstaunlich gut. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns gegenseitig schätzten und Verständnis für die Arbeitsrealität des andern hatten. Ich sprach von einer Ehe, die FMH und Ärzteverlag miteinander führten. Da sei man auch nicht immer ein Herz und eine Seele, aber man verfolge das gleiche Ziel. «Für dieses Ziel lohnt es, sich zusammenzuraufen.»

Nach dem Mittagessen mit Charlotte war ich vorsichtig-optimistisch, dass die Zusammenarbeit mit der FMH gelingen könnte. Wäre noch eine SÄZ-Ausgabe erschienen, hätte ich mich endlich der Leserschaft vorstellen können. In dem vorbereiteten Text schrieb ich von meiner Hoffnung, dass «wir den Eklat in ein paar Monaten als reinigendes Sommergewitter verstehen werden – das in allen Bereichen und auf allen Ebenen positive Veränderungen angestossen und das gegenseitige Vertrauen gestärkt hat.» 

Aus heutiger Sicht klingt das schrecklich naiv. Weiter schrieb ich: «Der offen ausgebrochene Streit zwischen Ärzteverlag und FMH hat mich schockiert und enttäuscht. Schliesslich ist das ‹gelbe Heft› (so wird die SÄZ in der Ärzteschaft genannt) in der jetzigen Form erst vor zwei Jahren neu lanciert worden. Und in meinen Augen ist es ein Wurf. Gerade weil es ein 3-fach-Heft aus Verbandsinformationen, Weiterbildungsartikeln und unabhängigen Stücken ist. Will man diese Zeitschrift tatsächlich sterben lassen? Oder als dürres Verbandsmitteilungsblatt weiterführen?»

… oder auseinandergehen?

Die Frage war rhetorisch gemeint. Inzwischen wissen wir, dass der FMH-Zentralvorstand die SÄZ als reines Verbandsmitteilungsblatt weiterführt. Die Ideen in meinem verhinderten Vorstellungstext wirken da schon fast subversiv. So schrieb ich: «Wir von der journalistischen Redaktion haben das Ziel, für unsere Leserschaft interessante und relevante Inhalte aus dem weiten Feld der Medizin aufzugreifen und in geeigneter Form umzusetzen. Mit unseren Beiträgen wollen wir Sie, liebe Leserin und lieber Leser, informieren und zur Diskussion anregen, unterhalten und gelegentlich herausfordern und hoffentlich immer wieder überraschen. Dabei sind auch neue Projekte angedacht wie (…) interaktive Podiumsdiskussionen, die man im Austausch mit der FMH entwickeln könnte. Denn was wäre die Schweizerische Ärztezeitung ohne die FMH? Nicht die Schweizerische Ärztezeitung.»

Nach dem Erlebten möchte ich noch eine Ergänzung anbringen: «Und was wäre die Schweizerische Ärztezeitung ohne Ärzteverlag? Auch nicht die Schweizerische Ärztezeitung. Jedenfalls nicht die moderne, weltoffene, inspirierende und lustvolle Ärztezeitung, die mir vorgeschwebt hat.»


Stellungnahme der FMH

Um die Sicht der FMH-Spitze auf die Ereignisse rund um das Aus des Schweizerischen Ärzteverlags gebührend abzubilden, bat ich die FMH-Präsidentin Yvonne Gilli, die nachfolgenden Fragen möglichst kurz und präzise zu beantworten. Ihre Antworten sind kursiv gesetzt.

  1. Wie kam es zur Krise zwischen Ärzteverlag und FMH, die Anfang September in der Insolvenz des Verlags endete?

Seit ihrer Gründung stand die EMH [lateinische Abkürzung für Schweizerischer Ärzteverlag, Anm. d. Red.] finanziell nie auf soliden Beinen und musste mehrfach saniert und FMH-seitig mit namhaften jährlichen Beiträgen ausserhalb der vertraglichen Vereinbarungen unterstützt werden. Wie vielen weiteren Verlagen wurde der EMH die Umsetzung im Rahmen der digitalen Transformation zum Verhängnis mit einer Überschuldung, welche die Sanierungsmöglichkeiten der beiden Aktieninhaber Petri Holding und FMH überstiegen.

  1. Was sind die Gründe, weshalb die FMH-Spitze ihrem Hausverlag die angefragte kurz- und langfristige Finanzhilfe verweigerte?

Der Betrieb der EMH hätte nur mit einem Beitrag von mehreren Millionen weitergeführt werden können. Weder die Petri Holding noch die FMH waren dazu kurzfristig in der Lage. Die FMH trägt eine hohe Verantwortung für die ihr anvertrauten Finanzmittel und konnte schon aus statuarischen Gründen die entstandenen Finanzlöcher der EMH nicht mit Mitgliederbeiträgen ausgleichen.

  1. Hätte sich die Krise zwischen FMH und Ärzteverlag überwinden und der Konkurs des Verlags abwenden lassen? Was wäre dazu nötig gewesen? Und wie hätte eine Lösung aus FMH-Sicht ausgesehen?

Nachdem der zweite Grossaktionär, die Petri Holding AG, klar zum Ausdruck gebracht hatte, keine finanziellen Mittel einzuschiessen, war aus Sicht der FMH diese Krise nicht überwindbar.

  1. Die Schweizerische Ärztezeitung (SÄZ) ist erst vor zwei Jahren als 3-fach-Magazin aus FMH-Verbandsinformationen, Weiterbildungsartikeln und redaktionellen Inhalten lanciert worden. Was hat sich seit September 2022 verändert, so dass es für die 3-fache Ärztezeitung keine Zukunft gab?

Die Umsetzung der geplanten Digitalisierung mit dem Swiss Health Web schluckte die vorhandenen Reserven. Wie ebenfalls leider nicht selten, gestaltete sich dieses IT-Projekt technisch schwieriger und teurer als geplant. Dies akzentuierte sich im Rahmen der Entwicklung, welche auch die übrigen Verlage einholte, nämlich dem Rückgang der Einnahmen für Stelleninserate und Werbung.

  1. Es ist bekannt, dass die journalistische Freiheit und Unabhängigkeit der SÄZ-Redaktion bei der FMH-Spitze immer wieder für Verstimmung und Diskussionen sorgten: War das Festhalten des Verlags an der redaktionellen Unabhängigkeit letztlich der zentrale Grund, weshalb es beim Streit zwischen FMH und dem Ärzteverlag keine Einigkeit gab?

Nein – die sich rasch entwickelnde existenzielle finanzielle Bedrohung strahlte auch auf die operative Ebene aus in dem Sinn, dass z.B. aufgrund des Kostendruckes Inserate veröffentlicht wurden, welche den medizinischen Guidelines widersprachen. Zudem konnte, ebenfalls aus finanziellen Gründen, keine seriöse Mitgliederbefragung durchgeführt werden, um die Bedürfnisse der Leserschaft auch in der zukünftigen digitalen SAEZ [alternative Schreibweise zu SÄZ für Schweizerische Ärztezeitung, Anm. d. Red.] abbilden zu können. So wurde das Swiss Health Web zu allen bestehenden Schwierigkeiten schlussendlich durch die Mitglieder nicht nachgefragt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war beim Schweizerischen Ärzteverlag angestellt.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 22.11.2024 um 20:42 Uhr
    Permalink

    Es ist bedauerlich, dass Herr Niederer eine derart traurige Geschichte zu berichten hat. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass es im Schweizer Gesundheitswesen möglicherweise keine unabhängige Berichterstattung gibt. Ich habe die SÄZ als wichtige Informationsquelle geschätzt, die mir neutrale und verlässliche Inhalte geliefert hat. Das ist leider eine absolute Seltenheit! Einschlägige Online-Medien sind keine Lösung, denn sie sind von PR und Werbeeinnahmen von Privatspitälern und Pharmaunternehmen etc. abhängig. Dies kann möglicherweise zu Konflikten um die Unabhängigkeit der Redaktion führen, wenn man das Überleben des Mediums sichern will. Die Alternative besteht darin, entweder einen Rückgang der Einnahmen in Kauf zu nehmen oder aber Zugeständnisse an die Meinungsführer im Gesundheitswesen zu machen. Schliesslich ist man auf die Veröffentlichung von Anzeigen und Stelleninseraten angewiesen.

  • billo
    am 23.11.2024 um 23:06 Uhr
    Permalink

    Beim Lesen ging mir spontan durch den Kopf: Was für eine unmögliche, kontraproduktive Struktur!
    Entweder gehört die Zeitung dem Verband und ist damit in der Regel ein langweiliges Blättchen – oder die Zeitung gehört einem juristisch und personell unabhängigen Träger (an dem der Verband sich beteiligen kann, ohne Entscheide mit Mehrheit zu dominieren), der die Zeitschrift redaktionell und ökonomisch auf eigenes Risiko führt und entwickelt. Da war offensichtlich schon bei der Gründung der Zeitschrift viel zu viel Politik und Angst seitens des Verbands im Spiel; das konnte fast nur schief gehen.

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