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Relotius beschäftigt noch immer: Urs Bühler, Margrit Sprecher und Peter Hossli diskutierten am Journalismustag vor Publikum. © copyright QuaJou/Raphael Hünerfauth

Relotius-Skandal: Journalisten reden weiterhin nicht übers Geld

Pascal Sigg /  Schweizer Medienschaffende haben den Skandal noch nicht verdaut. Dabei bräuchten die Redaktionen dringend mehr Mut zur Reportage.

Es muss ein gewisses Unbehagen dahinterstecken. Letzte Woche fragte der Verein «Qualität im Journalismus» am jährlichen KollegInnentreffen «Journalismustag» immer noch: Was hat die Branche aus dem Fälschungsskandal um Claas Relotius gelernt?

Der deutsche Journalist Claas Relotius arbeitete von 2012 bis 2017 freischaffend auch für Schweizer Publikationen. Zuerst erschienen seine Texte in der «NZZ am Sonntag» und der «Weltwoche». Dann im Magazin «Reportagen». 2017 wurde er vom «Spiegel» festangestellt. Für seine Artikel gewann er prestigeträchtige Branchenpreise. Doch im Dezember 2018 kam aus: Relotius hatte viele Geschichten ganz oder teilweise erfunden. Und zwar bereits Jahre bevor er die Stelle beim «Spiegel» antrat.

DIe Enthüllung aber ist nun vier Jahre her – im Journalismus eine Ewigkeit. Der Workshop stiess trotzdem auf grosses Interesse. Darin tauschten sich die Reporterin Margrit Sprecher und Peter Hossli, Leiter der Ringier-Journalistenschule aus. Unter der Leitung von «NZZ am Sonntag»-Journalist Urs Bühler diskutierten sie Äusserungen von Journalismus-Professor Tanjev Schultz. Bühler hatte Schultz vorgängig per Video interviewt.

Vor allem Margrit Sprechers entwaffnende Ehrlichkeit sorgte für Unterhaltung: Ja, sie habe als Jurymitglied beim Deutschen Reporterpreis die Karriere von Relotius angestossen. Ja, sie habe etwas Mühe mit dem Misstrauen von FactcheckerInnen. Und nein, sie sei auch nicht glücklich mit dem Interview, das sie mit Relotius fürs Magazin Reportagen geführt hat. Sie nähme ihm nämlich nicht ab, dass er einfach krank sei.

Deshalb war folgerichtig, dass Bühler, Sprecher und Hossli sich der Systemkritik widmen wollten. Doch dabei kamen sie nicht viel weiter. Denn Hossli und Sprecher verstanden einander nicht, weil sie von verschiedenen Dingen sprachen. Hossli betonte wiederholt und zu Recht: Journalismus ist ein Handwerk und keine Kunst. Während Sprecher auf der subjektiven Sinneswahrnehmung als zentralem Merkmal der Reportage beharrte.

Die Reportage hat mit «Storytelling» nur wenig zu tun

Dazu drei Anmerkungen:

  • Erzähljournalismus ist eine Reaktion auf geschäftliche Konkurrenz

Erzähljournalismus, dessen Handwerk häufig und auch abschätzig verallgemeinernd «Storytelling» genannt wird, ist nicht dasselbe wie die Reportage. Indem in den Geschichten Charaktere, Szenen und Dialoge als Vehikel für den Faktentransport benutzt werden, sollen relevante Erkenntnisse effizient vermittelt, die Aufmerksamkeit der Leserschaft länger gehalten werden. Dass Journalisten dabei immer wieder vom «Kino im Kopf» sprechen ist nicht Zufall. Mit dem Geschichtenerzählen antwortet der Text-Journalismus auf die Aufmerksamkeitskonkurrenz durch Bildmedien, den Fotojournalismus oder das Fernsehen, Youtube-Clips oder Netflix-Serien. Allerdings tun die Texte dies häufig mit deren Waffen. Sie arbeiten ebenso mit Szenen, Charakteren und Cliffhangern. Zudem geben sie, meist aus der Perspektive einer allwissenden Instanz erzählt, wie Kameras vor, objektiv-distanziert zu sein. Dies kann durchaus noch als seriöser Journalismus funktionieren. Die Grenze zum Hintergrundboulevard ist aber häufig nur ein Klischee entfernt.

  • Mit der Reportage antwortet der Mensch der Technologie

Auch die Reportage will eine Geschichte erzählen. Und doch verhält es sich bei ihr entscheidend anders. Sie adressiert nämlich nicht zuerst ein Problem der Faktenvermittlung, sondern der Faktenproduktion. Ihre zentrale Behauptung: Fakten sind nicht gleich Fakten. Die Sinneserfahrung eines Menschen aus Fleisch und Blut an Ort und Stelle hat eine besondere Qualität. So ist sie über die Jahre auch zur Antwort der ReporterInnen als menschliche Medien auf Technologien wie die Kamera oder den Computer geworden. Die besondere Qualität einer Reportage liegt somit gerade in der Subjektivität der Reporterin oder des Reporters, die mit ihrem ganzen Körper selber Wissen schaffen, das stark vom Zufall getrieben ist und immer auch spezifische Ungewissheiten aufzeigt. Eine gute Reportage weiss auch und besonders, was sie weiss, weil sie weiss, was sie nicht weiss. Damit wäre sie jeder Kamera überlegen und könnte durchaus auch Kunst sein, ohne Tatsachen zu erfinden. So verstanden hat sie immer auch eine ethische Komponente, was Erzählberichte nicht selten unterdrücken.

  • Geschichten und Effekte lassen sich planen, Erfahrungen nicht

Diese Unterscheidung, die Margrit Sprecher mehrmals andeutete, ist zentral. Denn sie offenbart den wirtschaftlichen Aspekt der Relotius-Debatte. Dieser kam bisher kaum zur Sprache. Claas Relotius war als freischaffender Reporter ein Nobody in einem schwierigen Marktumfeld, als er seine ersten Artikel verkaufte. Denn die grossen Redaktionen, welche Erzähljournalismus in den Jahren vor dem Skandal publizierten, wollten häufig Unmögliches: Im entsprechenden Text sollte sich das grosse Ganze im Kleinen zeigen. Dabei sollten die ProtagonistInnen der Geschichten als Stellvertretungen für grössere gesellschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche Entwicklungen stehen – und diese so für die Leserschaft effizienter, unmittelbarer, erfahrbar machen.

Als unbekannter «Freier» musste Relotius zweimal Verkäufer sein. Zuerst musste er einer Redaktion eine Idee für einen Artikel mit Arbeitsthese zum «grossen Ganzen» verkaufen. Und danach die fertige Geschichte selbst. Dabei dürfte er den Grossteil des finanziellen Risikos der Recherche getragen haben. So ist anzunehmen, dass er wiederholt Ideen verkaufte, die sich danach vor Ort nicht umsetzen liessen. Weshalb er jene Teile der bereits verkauften Geschichte erfand, die er eben nicht recherchieren konnte – und so allmählich den zeitgeistigen Story-Code knackte.

Mehr Mut zur Realität, mehr Mut zum Risiko, mehr Reportage

Doch vom Geld war bisher in der Relotius-Debatte und auch am Journalismustag kaum die Rede. Das ist keine Überraschung. Viele JournalistInnen, die ihre Stimme für Selbstkritik nutzen könnten, kennen diese Gefahren des industrialisierten Hintergrundjournalismus kaum, verdrängen oder normalisieren sie. Hossli, 53-jährig, leistete sich im Gewerkschaftsmagazin «Edito» jüngst den Luxus, die Arbeitsbedingungen von JournalistInnen als «lautes Drumherum» zu bezeichnen.

Auch Margrit Sprecher scheint der wirtschaftliche Druck nicht bekannt. In einem aktuellen Interview sagt sie: «Ich habe noch nie ein Exposé geschrieben. Denn danach sucht man bei der Arbeit nur, was man versprochen hat und die These stützt. Redaktionen kaufen bei mir die Katze im Sack.» Sprecher hat sich eine einzigartige Position erarbeitet. Für die allermeisten anderen Freischaffenden gilt nach wie vor: Sie brauchen den Mut zum finanziellen Risiko, den die Redaktionen als Auftraggebende nicht haben (wollen).

Es bräuchte also einen fairen Umgang mit Freischaffenden und mehr Bereitschaft zur Übernahme finanzieller Risiken seitens der Redaktionen. Und im sogenannten Storytelling bräuchte es mehr Mut zur Reportage. Will heissen: Mehr ergebnisoffene Recherche vor Ort, mehr Ungewissheit, mehr Selbstreflexion. Auch wenn sich diese Werte in keine Marketingbotschaft packen lassen. Ohne grundlegende Umorientierung bleiben berufsethische Skandale – nicht immer gleich in Relotius-Grössenordnung – weiterhin wahrscheinliche Ausgeburten eines Systems, in welchem das Geld die menschliche Realitätserfahrung dominiert.

Vor wenigen Tagen musste der «Spiegel» erneut Texte wegen Verdachts auf Fehler von der Website nehmen. Der Autor war so was wie freischaffend.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freischaffender Journalist. Zudem finalisiert er gerade eine Dissertation zur Selbstreflexion in der US-Gegenwartsreportage an der Universität Zürich. Zuletzt publizierte er ein wissenschaftliches Paper zur Geschichte der Reportage.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

4 Meinungen

  • am 29.11.2022 um 12:35 Uhr
    Permalink

    Danke, hervorragend formuliert. Der Satz: Wo das Geld die menschliche Realitätserfahrung dominiert… Das ist eine Kernaussage welche nach meiner Erfahrung zutrifft. Ist es nicht auch auf anderen Gebieten oft so? Z.B. bei medizinischen Studien? Bei Gefälligkeitsgutachten? Wenn Rechtschaffenheit, Objektivität und Wahrheit dazu führen, daß die Journalisten kein Brot auf dem Teller haben, oder gar Benachteiligungen wie Rufmord erfahren müssen, dann sollten in einer Demokratie die Alarmglocken läuten. Den Klang dieser Alarmglocken vermisse ich schon seit Jahren. Wer die Wahrheit sagt, braucht derweil ein schnelles Pferd. Die Macht des Geldes repräsentiert die Angst vor der sozialen Fallhöhe. Somit werden viele käuflich und zu den Instrumenten gewinnorientierter Interessen. Wer zwischen diesen Kräften nicht zerrieben werden möchte, erfindet Geschichten und inszeniert diese noch selber mit, wo es notwendig scheint. Auch dies ist somit Systemimanennt.

  • am 29.11.2022 um 16:56 Uhr
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    Journalismus sollte sich schon noch von Philosophie unterscheiden, mit Kino im Kopf sollte man lieber ein Buch schreiben als einen Artimel zur Sach- und Fachgerechten Aufklärung eines Geschehnisses.
    So betrachte ich Journalismus auch als Handwerk! Eine Berufung basierend auf Können und Objektivität das allemale auch zu einer Meisterschaft gereicht.
    Künstler müssen immer sehen das sie den «Quatsch!» zunächst erst einmal als Kunst anerkannt bekommen und jemanden finden der das bezahlen will. Und da gibt es zwar auch Meister, aber die können dann auch was.
    Phantasten mit Kino im Kopf und künstlerischen Ambitionen haben meines dafürhalten im Journalismus nichts verloren.

    • am 30.11.2022 um 09:37 Uhr
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      Da kann ich mich Ihrer Aussage anschließen. Danke. Wieviele Medien welche sich als Journalismus präsentieren, müssten dann als Unterhaltungsblätter umbenannt werden? Als Influenzer und Propaganda Kopfkino Unterhaltungs-Mixturen? Vielleicht wäre es sinnvoll, auf eine Qualitätskontrolle hin zu arbeiten, welche Medien sich des Wortes Journalismus rühmen dürfen und welche nicht. Zumindest ist es möglich, daß Bewusstsein der Leserschaft darüber zu stärken, was guter Journalismus eigentlich ist. Darum gefällt mir der Infosperber Beitrag hier so sehr.

  • am 30.11.2022 um 09:55 Uhr
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    Ich habe vor vielen Jahren aufgehört, den SPIEGEL zu lesen, weil eben jenes «Storytelling» penetrant in jeden noch so kurzen Artikel tropfte. Vieles wurde mit für die Geschichte unwichtigen Arabesken aufgehübscht und mit einem emotionalen Drall versehen. Insofern hat Relotius seine Sache sehr gut gemacht: nämlich den SPIEGEL überführt. Ich muss dennoch widersprechen; Journalismus kann natürlich, wie jedes andere Handwerk auch, zur Kunst werden – der «rasende Reporter» Egon Erwin Kisch wäre hier ein Beispiel. Seine Reportage zur Festsetzung der Einbrecherbande Wasinski in Prag (natürlich unter Mithilfe des Autors) liest sich wie eine erfundene Kriminalgeschichte mit allen dramaturgischen Schikanen und ist dennoch Reportage.

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