Loriot_Berliner_Kurier

Karikaturist, Autor und Regisseur Loriot alias Vicco von Bülow starb 2011 an Altersschwäche © Berliner Kurier

Im Krieg gegen Krebs und gegen Herzkrankheiten gibt es nur Tote

Urs P. Gasche /  Heute sterben die meisten Menschen an Herzkreislauf-Krankheiten oder an Krebs – eine der wenigen Ausnahmen war Loriot.

Loriot starb im Alter von 87 Jahren nach Angaben seines Verlags an «Altersschwäche». Diese Todesursache war eine Ausnahme. Denn «Altersschwäche» gibt es in der Statistik der Todesursachen nicht. Obwohl die Menschen im Durchschnitt viel älter werden als früher, hat die internationale Statistik die Todesursache «Altersschwäche» aus dem Vokabular entfernt.

Darob freut sich die Gesundheitsindustrie. Deren verschiedene medizinische Disziplinen buhlen um Geld. Deshalb präsentieren sie ihr eigenes Fachgebiet gerne als das Wichtigste: «Fast die Hälfte der 85+ sterben an Herzkreislaufkrankheiten» – «Unter den 25-84-Jährigen ist Krebs die häufigste Todesursache» – «Zum dritten Mal in Folge starben mehr Männer an Krebs als an Herz-Kreislauf-Erkrankungen», verbreitete kürzlich das Bundesamt für Statistik. Die einzelnen Krebsarten stehen ebenfalls im Wettbewerb untereinander: «An Lungentumoren sterben heute mehr Frauen als an Brustkrebs».
Die Medizin hat dazu beigetragen, dass die Menschen trotz all dieser Krankheiten länger leben als früher. Doch statistisch sterben immer noch gleich viele Menschen an diesen Krankheiten wie früher.

Laut Todesstatistik sterben die meisten Frauen und Männern im Pensionsalter immer noch entweder an Herzkreislauf-Krankheiten oder an Krebs. Präsident Richard Nixon hatte zwar im Jahr 1971 den «Krieg gegen den Krebs» ausgerufen. Doch das nützte wenig: Noch immer stirbt einer oder eine von vier Pensionierten in der Schweiz an einer Krebserkrankung. Das sind 25 Prozent.
27 Prozent der Pensionierten, sterben an einer Krankheit des Herzkreislaufsystems. Mitgezählt wurde auch mein Onkel, der im Alter von 100 Jahren zu Hause starb. Auf dem Formular des Bundesamts für Statistik kreuzte der Arzt als Todesursache «Herzinsuffizienz» an. Eine Todesursache «Altersschwäche» gibt es nicht. Es gibt lediglich einen Sterbegrund «Senilität», zu dem laut Bundesamt für Statistik auch die Altersschwäche gezählt wird. Doch unzurechnungsfähig war mein Onkel höchstens ein paar Stunden vor seinem Tod. Mein Hausarzt meinte, er möchte häufig einfach schreiben «Kerze erloschen», doch sei dies in der Statistik der Todesursachen nicht vorgesehen.
Das Todesursachen-Formular sei international standardisiert, erklärt das Bundesamt für Statistik. Immerhin kennt zum Beispiel England die offizielle Todesursache «Old Age».
In der Schweiz kommt noch ein anderer Grund hinzu, weshalb praktisch alle Menschen, sofern sie nicht tödlich verunfallen oder Suizid begehen, an einer Krankheit sterben. Die Krankenkassen dürfen Arztbesuche und Medikamente nur zahlen, wenn der Arzt eine Krankheit diagnostiziert.


Todesursachen bei verschiedenen Altersklassen in der Schweiz im Jahr 2015. Grössere Auflösung der Grafik hier. (Quelle Bundesamt für Statistik 2018)

In der obigen Grafik mit den Zahlen des Bundesamts für Statistik kommt aus den genannten Gründen die Todesursache «Altersschwäche» oder «Old Age» selbst bei den oberen Altersklassen nicht vor. Offensichtlich zögern Ärztinnen und Ärzte, bei Altersschwäche einfach «Senilität» anzukreuzen. Es überrascht deshalb nicht, dass sogar unter den über 84-Jährigen statistisch nur ein Mensch von 61 an «Senilität» stirbt (einschliesslich Altersschwäche).
Mit andern Worten: 60 von 61 der Hochbetagten sterben offiziell an Herzkreislauf-Krankheiten, Krebs, Demenz oder andern Krankheiten.

  • Nimmt dank medizinischem Fortschritt der Anteil einer dieser Krankheiten als Todesursache ab, sterben einfach mehr Leute an den andern Krankheiten.

Für deren Bekämpfung können wir beliebig viele Milliarden ausgeben: Herzkreislauf-Krankheiten, Krebs und Demenz sind als Todesursachen statistisch nicht auszurotten.

Das freut zuweilen Geriater, die an den Betagten verdienen. «Die Menschen sterben an Krankheiten, nicht an ihrem Alter» war die Devise des früheren Präsidenten der Deutschen Ärztegesellschaft für Geriatrie, Professor Ingo Füsgen. Er nannte den Begriff «Altersschwäche» eine «Verlegenheitsausrede, die zeigt, dass wir noch zu wenig über Krankheiten alter Menschen wissen».

Hunderttausende von Prämienfranken für ein individuelles Lebensjahr?

Wenn es darum geht, das Leben eines individuellen Kranken zu verlängern, ist der mögliche finanzielle Aufwand nach oben fast unbegrenzt. Ärzte, Ethiker und Politikerinnen diskutieren darüber, ob die Behandlung eines Patienten oder einer Patientin pro zusätzlich gewonnenes Lebensjahr bei akzeptabler Lebensqualität den Prämien- und Steuerzahlenden 100’000 Franken, eine halbe Million oder eine Million kosten darf.
Sollte es allerdings darum gehen, die Gesamtzahl der Lebensjahre aller Schweizerinnen und Schweizer zu erhöhen – also deren durchschnittliche Lebenserwartung –, dann stünde eine andere Frage im Vordergrund. Ärztinnen, Ethikerinnen und Politiker müssten darüber befinden, ob zusätzliche Milliarden für die Gesundheitsindustrie auszugeben sind oder doch sinnvoller ausserhalb der medizinischen Versorgung.

Den grössten Einfluss haben Armut, Sozial- und Umweltfaktoren

Sie müssten die Tatsache berücksichtigen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in einem Industriestaat nur gering von der Höhe der Gesundheitsausgaben abhängt. In der Schweiz mit den zweithöchsten Gesundheitsausgaben beträgt das durchschnittliche Todesalter 82,9 Jahre. In den USA mit den klar höchsten Gesundheitsausgabe jedoch nur 78,5 Jahre (siehe «USA: Die Lebenserwartung sinkt trotz Wachstum und Reichtum»).
In Japan mit deutlich tieferen Gesundheitsausgaben ist das durchschnittliche Todesalter mit 85,0 Jahren um zwei Jahre höher als in der Schweiz.
Den grössten Einfluss auf die durchschnittliche Lebenserwartung in Industriestaaten haben die wirtschaftlich Schwächsten. Sie wohnen an den Orten, die am stärksten umweltbelastet sind, arbeiten an risikoreicheren Orten und Arbeitsplätzen, sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, rauchen häufiger, bewegen sich weniger und ernähren sich weniger gesund.
Sogar in der Schweiz leben die zehn Prozent wirtschaftlich Schwächsten rund zehn Jahre weniger lang als die zehn Prozent wirtschaftlich Stärksten. Ein Beispiel: Bau- und Fabrikarbeiter in der Schweiz haben ein 300 Prozent grösseres Risiko, invalid zu werden als die Durchschnittsschweizer. Vor ihrer Pensionierung erkranken sie fünfmal häufiger an Krebs und leiden sechsmal häufiger an Skelettkrankheiten als Lehrer oder Direktoren. Das geht aus Zahlen des Bundesamts für Statistik hervor. Berufliche Expositionen mit Asbest, Rauch, Pestiziden oder Lärm treffen vor allem sozial und wirtschaftlich Schwächere.
[Wegen ihrer viel kürzeren Lebenserwartung sollten die Angestellten mit den niedrigsten Löhnen in einem Unternehmen bei der Pensionskasse von einem höheren Umwandlungssatz profitieren als die Angestellten mit den höchsten Löhnen – und damit eine höhere Rente erhalten.]

In den USA sind diese schichtspezifischen Unterschiede noch extremer, wie Ökonomen der gemeinnützigen Brookings Institution in Washington feststellten. Und die Unterschiede nahmen im Laufe der Jahrzehnte nicht etwa ab, sondern zu:

  • Bei Männern, die 1920 geboren wurden, lebten die 10 Prozent Spitzenverdiener unter ihnen im Durchschnitt 6 Jahre länger als die 10 Prozent mit den tiefsten Einkommen.
  • Bei Männern, die 1950 geboren wurden, hat sich der Unterschied bei der Lebenserwartung auf 14 Jahre mehr als verdoppelt.
  • Zwischen den reichsten und ärmsten Frauen erhöhte sich dieser Unterschied in der Lebenserwartung von 4,7 Jahren auf 13 Jahre.

«Der Lebenszeit-Graben hat sich enorm vergrössert», stellte Co-Autor Gary Burtless fest.

Laut WHO sind in den Industriestaaten rund 30 Prozent aller Erkrankungen «umweltbedingt». Weltweit seien «an fast einem Viertel aller Krankheiten und vorzeitigen Todesfällen Umweltbedingungen schuld, die veränderbar sind».

Drei Einsichten
Aus den dargestellten Fakten lassen sich drei Folgerungen ziehen:

  1. Die durchschnittliche Lebenserwartung in einem entwickelten Staat hat wenig zu tun mit der Höhe der Gesundheitsausgaben und dem Angebot an Gesundheitseinrichtungen. Trotzdem wird die relativ hohe Lebenserwartung immer wieder als Beleg zitiert, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz Spitze und das viele Geld wert sei.
    Um den Erfolg verschiedener Gesundheitssysteme zu vergleichen, müsste man die Lebenserwartung (und den Gesundheitszustand) ähnlicher Bevölkerungsschichten in andern Ländern vergleichen, die in ähnlichen Umweltverhältnissen leben. Sonst vergleicht man Äpfel mit Birnen.
  2. Die durchschnittliche Lebenserwartung lässt sich mit Milliarden zugunsten der wirtschaftlich und sozial Schwächsten deutlich kostengünstiger und effektiver steigern als mit zusätzlichen Milliarden für die Gesundheitsindustrie.
  3. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist tiefer, wenn Viele bereits in jungen Jahren sterben und dadurch sehr viele Lebensjahre verlieren. Eine zusätzliche Milliarde zur Unfall- und Suizidprävention erhöht die durchschnittliche Lebenserwartung wohl stärker als eine zusätzliche Milliarde für das Gesundheitssystem.

Diese Einsichten bewirken wenig, wenn sie nicht vertieft diskutiert und dann auch umgesetzt werden. Doch im Kampf um die begrenzten finanziellen Mittel werden sich – unabhängig von Argumenten und Einsichten – erfahrungsgemäss diejenigen durchsetzen, welche im Parlament die stärkste Lobby haben. Die Lobbys von Ärzteschaft, Spitälern, Apotheken, Medizinalprodukte- und Pharmaindustrie werden sich gegenüber den Interessen der sozial Schwächsten weiterhin durchsetzen. Bei allen Differenzen über nötige Reformen des Gesundheitswesens einigen sich diese starken Lobbys fast immer auf solche Massnahmen, die der Branche insgesamt noch mehr Milliarden verschaffen.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120125um10_27_01

Gesundheitskosten

Jeden achten Franken geben wir für Gesundheit aus – mit Steuern und Prämien. Der Nutzen ist häufig zweifelhaft.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • am 10.01.2019 um 12:19 Uhr
    Permalink

    Hierzu allein schon die Sprachlichen Formulierungen: Man dankt ab. Man entschläft. Man geht von uns. Man..
    – aber MAN STIRBT heute (verbal) nicht mehr!
    Eigentlich verrückt!
    W. Eisenkopf, Runkel/D.

  • am 12.01.2019 um 15:46 Uhr
    Permalink

    Gesundheitsindustrie? Nein, hier geht es bloss um die Krankheitsbewirtschaftung. Gesundheit erkaufe ich mir mit sauberem Wasser, gutem Essen und viel Bewegung.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...