Atomkraftwerk Abendhimmel

In der Studie wurden Beschäftigte von Nuklearanlagen untersucht. Die meisten arbeiteten in Bereichen, wo sie nur geringen Mengen an radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. © Smileus / Depositphotos

Mehr Krebstote als erwartet schon bei niedriger Strahlendosis

Martina Frei /  Das zeigt eine Studie an Nukleararbeitern. Sie betrifft auch Patienten und Medizinpersonal.

«Statistische Auswertungen bei grösseren Bevölkerungsgruppen zeigen, dass bei Strahlendosen unterhalb von 100 mSv keine Gesundheitseffekte nachweisbar sind.» So steht es in einem Faktenblatt des Bundesamts für Energie aus dem Jahr 2018, das die Behörde immer noch verbreitet. 

«Diese Aussage widerspricht neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen», erklärte letztes Jahr die Vereinigung «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW) in einem Artikel in der «Schweizerischen Ärztezeitung». Die Autoren beriefen sich auf «Resultate von mehr als 20 epidemiologischen Studien der vergangenen 15 Jahre». 

Nun kommt eine weitere, gewichtige Studie hinzu, die diese Aussage untermauert. Sie zeigt einen Zusammenhang zwischen einer geringen radioaktiven Bestrahlung und mehr Krebstodesfällen und soll Strahlenschutzkommissionen als Information dienen – auch im Hinblick auf die Nutzen-Risiko-Abwägung bei medizinischen Untersuchungen.

Mehrere Hunderttausend Mitarbeiter in der Nuklearindustrie nachverfolgt

Derzeit gehen Strahlenschutzbehörden davon aus, dass das relative Risiko, an einem strahlungsbedingten Krebs zu sterben, pro Gray nach 40-jähriger Beobachtungszeit für Männer um 35 Prozent und für Frauen um 58 Prozent steigt.

Gemäss der im «British Medical Journal» veröffentlichten Studie, die nicht nach Geschlechtern differenzierte, war dieses Risiko aber deutlich höher: Es erhöhte sich pro Gray radioaktive Strahlung um circa 53 Prozent, und dies schon nach zehn Jahren. Ein Gray ist allerdings eine im normalen Leben unrealistisch hohe Strahlendosis. Für die Bevölkerung interessanter ist, wie sich niedrigere Dosen auswirken. Genau hier liefert die Studie neue Schätzungen. 

Sie bestätigt: Je höher die Strahlendosis, die ein Mensch gesamthaft erhält, desto höher ist das Risiko, dass er an Krebs sterben wird. Bemerkenswert ist, dass dieser lineare Zusammenhang im Niedrigdosisbereich steiler zu verlaufen scheint: Eine als niedrig eingestufte Dosis von 10 mGy pro Jahr erhöhte demnach nach zehn Jahren das Krebstodesrisiko von Erwachsenen relativ um etwa zehn Prozent, verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung. Die Dosis von 10 mGy liegt im Bereich dessen, was zum Beispiel bei medizinischen Untersuchungen erreicht wird (siehe Box unten).

Was dies in absoluten Zahlen bedeutet, zeigt ein Beispiel für die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen in der Schweiz: 2021 starben in diesem Alter 476 Personen an Krebs, das entsprach etwa 0,074 Prozent dieser Altersgruppe. Bei einem um relativ zehn Prozent höheren Risiko wären es rund 0,081 Prozent oder in absoluten Zahlen rund 523 Krebstote in dieser Altersgruppe statt 476.

Strahlendosis und Todesursachen erfasst

Als Grundlage für die Schätzung dienten fast 310’000 Personen aus Frankreich, Grossbritannien und den USA. Alle hatten zu Lebzeiten mindestens ein Jahr in einem Atomkraftwerk, einer Nuklearwaffenfabrik oder einer anderen nuklearen Einrichtung gearbeitet (im Durchschnitt waren es 15 Beschäftigungsjahre). Dabei trugen sie Dosimeter auf sich, welche die empfangene Strahlung registrierten.

Diese summierte sich im Lauf der Arbeitszeit auf durchschnittlich 17,7 Milligray (mGy) pro Person. Das Gros der Beschäftigten, die oft administrative Aufgaben erledigten, erhielt gesamthaft höchstens 5 Millisievert (=Milligray). In der Studie wurden die späteren Todesursachen aller Personen erfasst.

Grafik kumulative Strahlendosis Krebsrisiko
Mit zunehmender Strahlendosis steigt die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben. Im Niedrigdosisbereich bis etwa 150 mGy erscheint der Anstieg sogar steiler. Die linke Skala gibt an, wie dieses Risiko relativ zunimmt. Die waagrechte Skala nennt die Gesamtstrahlendosis. Die Länge der Striche bei jeder Schätzung (violette Punkte) zeigt, in welcher Bandbreite sich der wahre Wert mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit befindet.

Unter 100 Millisievert müsse sich niemand sorgen, hiess es nach Fukushima

Die stärkste relative Zunahme an Krebstodesfällen fanden die Studienautoren bei einer Gesamtdosis von «nur» 50 mGy. In diesem Niedrigdosisbereich war dieses Risiko mehr als doppelt so hoch (über 130 Prozent), verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung. Bei den Beschäftigten, welche insgesamt maximal 100 mGy abbekommen hatten, verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit eines Krebstodes in etwa.

Diese Befunde stehen im Widerspruch zu dem, was beispielsweise der japanischen Bevölkerung nach dem Super-GAU in Fukushima gesagt wurde. Bei einer Strahlendosis von unter 100 Millisievert (= 100 Milligray) müsse sich niemand Sorgen machen, beruhigte Shunichi Yamashita, der damalige verantwortliche Strahlenschützer, die japanische Bevölkerung. Das berichtete die «WoZ» 2014. Später habe die japanische Regierung beschlossen, ein Gebiet nur dann zu evakuieren, wenn es mit mehr als zwanzig Millisievert pro Jahr belastet sei. Die Studie zeigt nun, dass bei dieser Niedrigbelastung mit mehr Krebstodesfällen zu rechnen ist als angenommen. 

Auch die Internationale Kommission für Strahlenschutz ICRP – die massgebende internationale Strahlenschutzkommission* – kommt bei der Folgenabschätzung für den Niedrigdosisbereich unter 100 mGy bisher zu anderen Schlüssen als die aktuelle Studie. Ihre Einschätzung stammt vor allem aus Erkenntnissen bei japanischen Atombombenüberlebenden, wo jedoch nur wenig verlässliche Studienresultate für den unteren Dosisbereich vorliegen.

Die Empfehlungen der ICRP gelten in der Schweiz als Referenz. Bisher gingen Strahlenschützer davon aus, dass pro 1000 Menschen, die eine Gesamt-Strahlendosis von je 50 Milligray erhielten, zwei bis drei Personen an strahlenbedingtem Krebs sterben werden. Gemäss der neuen Studie müsse nun aber von über zehn zusätzlichen Krebstodesfällen ausgegangen werden – mehr als viermal so viele wie bisher angenommen, errechnete der Arzt Claudio Knüsli von der Vereinigung «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW).

Ergebnisse in die Risikoabschätzungen einfliessen lassen

«Wir gehen davon aus, dass Strahlenschutzorganisationen unsere Ergebnisse in ihre Risikoabschätzungen zur Niedrig-Dosis-Strahlung einfliessen lassen werden», schreibt David Richardson auf Anfrage. Er ist der Erstautor der Studie und Professor für Public Health an der Universität von Kalifornien in Irvine.

Ihre Studie sei vermutlich auch relevant für den Strahlenschutz in vielen medizinischen und nicht-medizinischen Einrichtungen, schreiben Richardson und seine Co-Autorinnen und -autoren. Sie weisen zudem darauf hin, dass Angestellte in nuklearen Anlagen wohl eher gesünder seien als die Durchschnittsbevölkerung. In diesem Fall würde die Studie das tatsächliche Krebsrisiko für die Allgemeinbevölkerung eher noch unterschätzen, vermuten die Wissenschaftler.

«Es gibt keine Schwellendosis, unterhalb derer eine Exposition als unbedenklich gilt»

Der Grenzwert für beruflich Strahlenexponierte (medizinisches Personal oder AKW-Angestellte) beträgt hierzulande 20 Millisievert (mSv) pro Jahr. Für die Bevölkerung liegt er bei einem mSV pro Jahr (das entspricht einem Milligray). Laut der Studie im «British Medical Journal» erhöht eine Dosis von einem Milligray pro Jahr das relative Krebssterberisiko von Erwachsenen nach zehn Jahren um circa ein Prozent. 

Die Einhaltung der in der Schweiz geltenden Dosisgrenzwerte stelle sicher, dass das Risiko für die Bevölkerung tolerierbar sei, antwortete der Bundesrat im Mai 2023 auf eine Interpellation der Grünen-Nationalrätin Isabelle Pasquier-Eichenberger. Jede Exposition durch ionisierende Strahlung, selbst bei niedrigen Dosen und somit auch unterhalb von 100 mSv, erhöhe das Risiko für Krebs oder Erbkrankheiten linear, «und es gibt keine Schwellendosis, unterhalb derer eine Exposition als unbedenklich gilt». Es gelte der Grundsatz, dass die Strahlendosen «so tief wie vernünftigerweise möglich» zu halten seien.

Strahlendosis bei Herzuntersuchung entspricht derjenigen der Nukleararbeiter

Die durchschnittliche Dosis der Schweizer Bevölkerung aus allen radioaktiven Expositionsquellen beläuft sich laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf etwa 6 Millisievert pro Jahr. Dieser Durchschnittswert sagt aber nur wenig aus, da die Schwankungsbreite sehr hoch ist. Insbesondere Radon in Wohnhäusern sowie medizinische Untersuchungen können die Strahlendosis stark erhöhen auf über 20 Millisievert pro Jahr – also in den Dosisbereich, dem auch die Arbeitnehmenden in der Studie im Lauf ihrer Anstellungszeit ausgesetzt waren.

Grafik Variabilität der Strahlenexposition der Schweizer Bevölkerung
Die Strahlendosis pro Jahr kann erheblich variieren, wie diese sieben Szenarien zeigen. Auf weniger als fünf mSV/Jahr (oberstes Szenario) kommt ein Mensch, der weder raucht (hellbraun), noch im Flugzeug reist (hellblau), der in einer Wohnung mit schwacher Radonkonzentration und niedriger terrestrischer und kosmischer Strahlung lebt (fliederfarben) und der wenig Lebensmittel konsumiert, die reich sind an natürlichen Radionukliden (rosa). Das dritte Szenario von oben entspricht laut dem BAG der durchschnittlichen Dosis der Schweizer Bevölkerung (ohne medizinische Untersuchungen). Das unterste Szenario zeigt die Strahlenbelastung einer Person mit hoher Radon-, terrestrischer und kosmischer Strahlung in der Wohnung, mit Rauchen von täglich 1 Päckli Zigaretten, Verzehr sehr vieler Lebensmittel mit vielen natürlichen Radionukliden, häufigen Flugreisen und einem Bauch- und Becken-Computertomogramm (grün).

Bei einer szintigrafischen Untersuchung der Schilddrüse beispielsweise erhalten Patienten gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Strahlendosis von etwa 1 mSv, bei der Untersuchung der Herzarterien 7 bis 14 mSv und bei einem Eingriff an verengten Herzarterien 15 bis 20 mSv.

Bei der Computertomografie (CT) des Bauchs sind es laut BAG etwa 12 mSv und beim CT des Schädels rund 2 mSv. Allein im Jahr 2021 wurden in der Schweiz über 1’021’000 Computertomografien durchgeführt.

Patientin im Computertomograf
Bei der Untersuchung im Computertomografen erhalten Patientinnen und Patienten eine kleine Strahlendosis.

Von 10’000 Personen, deren Kopf vor ihrem 22. Lebensjahr im Computertomografen (CT) geröntget wurde, erkrankte in den folgenden fünf bis 15 Jahren durchschnittlich eine an einem strahlenbedingten Hirntumor, ergab eine grosse europäische Studie im Dezember 2022. Vor wenigen Tagen veröffentlichten dasselbe Forschungskonsortium eine weitere Schätzung: Von 10’000 Personen, die vor ihrem 22. Geburtstag eine CT-Untersuchung mit einer Dosis von nur 8 mGy hatten, bekamen demnach eine bis zwei in den folgenden zwölf Jahren strahlenbedingten Blut- oder Lymphdrüsenkrebs.

«Die Strahlenempfindlichkeit von Kindern und von ungeborenem Leben ist deutlich höher als die von Erwachsenen», sagt Claudio Knüsli von der Vereinigung «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW). «Das ist ein zusätzliches Argument, die bisherigen Strahlenschutzrichtlinien dringend zu verschärfen.»

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*In einer früheren Version stand hier fälschlicherweise «die massgebende internationale Strahlenschutzbehörde». Die Autorin entschuldigt sich für diesen Fehler.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

Atomfass

Atomenergie nach Fukushima

Die Katastrophe in Japan verändert die Energiepolitik weltweit. Auch in der Schweiz ist der Atomausstieg jetzt ein Thema.

1103_Fukushima

Fukushima: Verharmlost und vergessen

Die Atomkatastrophe von Fukushima und deren Folgen für Hunderttausende.

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4 Meinungen

  • am 1.12.2023 um 14:31 Uhr
    Permalink

    Die als «internationalen StrahlenschutzBEHÖRDE» titulierte Organisation heisst korrekt: «Internationale Strahlenschutzkommission».
    Sie ist KEINE Behörde, sie ist KEIN staatliches Organ und hat keinerlei Weisungsbefugnis (ähmlich wie die IAEA KEINE Behörde ist …).
    Die ICRP war 1928 entstanden, gewann nach dem 2.Weltkrieg an Bedeutung. Sie bestand sehr lange Zeit aus Personen, die keineswegs unabhängig waren.
    Neue Mitglieder konnten nur auf Vorschlag und mit Zustimmung der bisherigen Mitglieder aufgenommen werden, wodurch sichergestellt wurde, dass kritische Stimmen, die auf wissenschaftlicher Basis niedrigere Grenzwerte anstrebten, ausgeschaltet blieben.
    Die ICRP gibt auch keine verbindlichen Anweisungen (dazu ist sie nicht berechtigt).
    Die Staaten folgen mangels eigener Recherche meist ihren «Empfehlungen».
    Die ICRP-Grenzwerte mussten kontinuierlich heruntergesetzt werden, sie basierten auf Daten aus Hiroshima und erwiesen sich als zu hoch.

    • Portrait Martina Frei 2023
      am 2.12.2023 um 12:39 Uhr
      Permalink

      Danke für den Hinweis, Herr Wippel, ich habe den Fehler korrigiert.

  • am 1.12.2023 um 14:53 Uhr
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    Zu den Gefahren von niedrigdosierter radioaktiver Strahlung, hat die finnische Tageszeitung Helsingin Sanomat am 22. Februar 2010 einen Beitrag der deutschen Wissenschaftlerin Prof. Inge Schmitz-Feuerhake veröffentlicht, mit der Überschrift: «Krebsrisiko in der Nähe von Atomkraftwerken»
    Die Forschungsergebnisse von Schmitz-Feuerhake wurden von der Atomlobby nicht goutiert. Auch Thomas Mäder schrieb auf Info Sperber: «Kein einziger seriöser Wissenschaftler glaubt an das Leukämie-Märchen.“
    Auch bei Uranmunition wird eine schädliche Wirkung auf Menschen bestritten. Mit abgereichertem Uran gehärtete Munition, Granaten und Bomben kamen auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak und in Libyen zum Einsatz. Viele Soldaten und Zivilisten wurden krank. Missgeburten häuften sich zum Beispiel im Irak, was von einem Experten des eidgenössischen Labors Spiez des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, an einer Veranstaltung an der ETH über Uranmunition, jedoch auf die weit verbreitete Inzucht im zurück.

  • am 3.12.2023 um 11:08 Uhr
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    Nun, wäre dem so, müssten 523 gestorben sein. Es sind aber 476.
    Und im Maggiatal müssten sie sterben wie die Fliegen, weil dort strahlt der Granit ganz natürlich. Und was ist mit denen, die zuhause auf Radon hocken?

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