Labiler Trump könnte KI-Start-Up-Gründer nach Europa vertreiben
Red. Als Vizekanzlerin im Bundeshaus von 1991 bis 2005 leitete die Autorin verschiedene Digitalisierungsprojekte. Nach der Pensionierung engagierte sie sich ehrenamtlich für die Digitalisierung im Bildungsbereich. Heute analysiert Hanna Muralt Müller Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz in ihren Newslettern.
Die Digitalisierungspolitik der EU beruht auf drei unterschiedlichen, aber aufeinander abgestimmten Gesetzen. Die beiden ersten Erlasse, der Digital Markets Act (DMA) und der Digital Services Act (DSA), regeln bekannte, überschaubare Probleme.
- Mit dem DMA bekämpft die EU in Erweiterung des bestehenden Wettbewerbsrechts marktbeherrschendes Verhalten und die Bildung von Monopolen.
- Der DSA verpflichtet die Betreiber von Plattformen zu Korrekturmassnahmen bei illegalen Inhalten, Falschinformationen und demokratiegefährdenden Online-Aktivitäten. Trotz Drohungen der USA büsste die EU im April 2025 Apple mit 500 Millionen Euro und Meta mit 200 Millionen Euro wegen Verstössen gegen den DMA. Weil Vorgaben des DSA nicht eingehalten werden, läuft zurzeit ein Verfahren der EU gegen Musks Plattform X (siehe Infosperber vom 25.5.2025).
- Mit dem dritten Gesetz, dem AI-Act, legte die EU das weltweit erste staatenübergreifende KI-Gesetzeswerk vor. Es bewegt sich auf rechtlichem und politischem Neuland und ist mit den besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, einen dynamischen, sich ständig weiterentwickelnden Forschungs- und Anwendungsbereich regulieren zu wollen.
Der AI-Act – das Gesetz zur Künstlichen Intelligenz
Obwohl sich die EU bewusst war, dass Vorgaben in einem schwer überschaubaren Bereich innovationshemmend wirken können, entstand mit dem AI-Act ein Gesetzeswerk, das rasch als zu einengend kritisiert wurde. Mit Blick auf die grosse Komplexität gab die EU für die Umsetzung des AI-Act einen grosszügigen Zeitplan vor – einen weitmaschigeren als bei den beiden ersten Gesetzen. Der AI-Act wird stufenweise ab 2025 bis zum Sommer 2027 rechtswirksam und soll im Jahr 2028 auf seine Wirkungen überprüft werden.
EU reagiert auf die Kritik am AI-Act
Die EU will Europa zu einem KI-Kontinent, einem weltweit führenden Vorreiter im KI-Bereich, weiterentwickeln. Dabei stellte sich die EU der vielfach geäusserten Kritik, der AI-Act sei zu bürokratisch und innovationshemmend. Der am 9. April 2025 veröffentlichte AI Continent Action Plan führt fünf strategische Punkte auf. Einer betrifft Vereinfachungen und Hilfestellungen bei der Umsetzung des AI-Act, womit dieser dasselbe Gewicht erhält wie der geplante Aufbau einer europaweiten KI-Computing-Infrastruktur mit den AI-Factories oder die für Herbst 2025 angekündigte EU-Strategie für die Datenunion. Der AI Continent Action Plan konkretisiert die am AI-Summit in Paris im Februar 2025 angekündigte Initiative, mit der die EU 200 Milliarden Euro für KI-Investitionen mobilisieren will (siehe Infosperber vom 19.3.2025).
Konsultationen zu Richtlinien für die Umsetzung
Anbietern von KI-Modellen mit breiter Anwendung soll mit Richtlinien (General-Purpose AI Code of Practice GPAI) das Einhalten des AI-Act erleichtert werden. Die Erarbeitung erfolgte in einem mehrmonatigen Prozess (unter «Timeline»), in dem rund 1000 Interessenvertreter, darunter Tech-Firmen, Abordnungen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft sowie unabhängige Expertinnen und Experten mitwirkten. Im März 2025 wurde ein dritter Entwurf präsentiert. Der definitive GPAI soll im August 2025 vorliegen, wenn die entsprechenden Vorgaben für KI-Allzweckmodelle rechtswirksam werden.
Auch zur Erarbeitung der Apply AI Strategie, mit der die Nutzung von KI in Unternehmen, Verwaltungen und in der Forschung gefördert werden soll, werden zurzeit breite Konsultationen durchgeführt.
Pionierarbeit der ETHZ zur Umsetzung des AI-Act der EU
Nicht nur für die Erarbeitung, auch für die Umsetzung des AI-Act war Forschung nötig. Es galt, die rechtlichen Vorgaben im AI-Act in technische, mess- und überprüfbare Massnahmen umzusetzen. Diese Forschungsarbeit erledigte die ETHZ. In Zusammenarbeit mit dem bulgarischen KI-Institut INSAIT, bei dessen Gründung 2022 ETHZ und EPFL mitwirkten, entwickelte das ETH-Spin-off LatticeFlow AI mit COMPL-AI das weltweit erste Tool zur Evaluierung regulatorischer Vorgaben.
Die für COMPL-AI entwickelte Methodik sei auch auf andere vergleichbare Gesetzgebungen anpassbar und steht zur Weiterentwicklung als Open-Source-Angebot auf GitHub zur Verfügung. Die EU-Kommission begrüsste COMPL–AI als Beitrag zur Umsetzung des AI-Act.
Hinter der Pionierarbeit steht ein ganzes Forschungsteam mit Martin Vechev, heute Professor an der ETHZ und ursprünglich aus Bulgarien. Er ist Mitbegründer und wissenschaftlicher Direktor von INSAIT, zudem Mitbegründer von LatticeFlow AI, zusammen mit Petar Tsankov, dem CEO des ETH-Spin-off, sowie zwei weiteren Partnern.
Mit COMPL-AI wurden zwölf prominente grosse Sprachmodelle getestet – darunter ChatGPT von OpenAI, Llama von Meta und Claude von Anthropic. Gemäss ETH News vom 21. Oktober 2024 wiesen alle Mängel in Schlüsselbereichen auf (Transparenz, Datenschutz, Sicherheit, Fairness und anderen Anforderungen). Die Studie wurde auf der Plattform arXiv der Cornell University veröffentlicht. COMPL-AI ermöglicht es allen Anbietern, ihre KI-Modellen selbst zu überprüfen und allfällige Mängel rechtzeitig zu beheben.
Regulierungsbedarf ändert sich mit Fortschritten in der KI-Forschung
Die Entwicklungen im Bereich der KI sind dynamisch und forschungsintensiv. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf das Gebiet der KI-Agenten und deren Potenzial für künftige Anwendungen verwiesen. Im Unterschied zu Sprachmodellen erledigen diese eine definierte Aufgabe mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln autonom.
Mit den nötigen automatisierten Handlungsabläufen stellen sich verschärft Sicherheitsprobleme. Yoshua Bengio und Max Tegmark warnten in einem Beitrag von CNBC (Consumer News and Business Channel, eine internationale Nachrichtenagentur) insbesondere vor diesen «Agenten», da sie ausser Kontrolle geraten könnten (siehe Infosperber vom 19.1.2025 und vom 25.5.2025). Es entsteht somit neuer Regulierungsbedarf. Von grosser Bedeutung ist die Sicherheitsforschung bei allen KI-Systemen, die selbständig laufend dazulernen und sich exponentiell entwickeln.
KI-Sicherheitsforschung an ETHZ und EPFL
ETHZ und EPFL sind Pioniere auf dem Gebiet der KI-Sicherheitsforschung. Sie wollen mit disziplinübergreifender Zusammenarbeit zu einer verlässlicheren und vertrauenswürdigeren KI beitragen. Es geht dabei nicht nur darum, technisches Know-how mit ethischen Prinzipien in Einklang zu bringen. Wichtig sind auch Messgrössen und Testmöglichkeiten, insbesondere bei selbstlernenden KI-Systemen, denn vielfach funktionieren die Anwendungen unter realen Bedingungen nicht wie vorgesehen. Deshalb müssen sie technisch überprüfbar sein. Im Folgenden werden ein paar Beispiele aus der Pionierarbeit von ETHZ und EPFL skizziert.
Gemäss einer ETH News vom 28. März 2025 entwickelte der Mathematiker Juan Gamella Mini-Labors als Testumgebung, um Algorithmen und KI-Modelle zu überprüfen. Wie Flugzeugbauer, die ein Miniaturmodell eines am Computer entworfenen Flugzeugs zuerst im Windkanal testen, können Entwickler ihre KI-Anwendungen in den Mini-Labors über Tests sicherer machen. Mit diesen Mini-Labors könnten auch Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen, also Kausalzusammenhänge, erforscht werden. Das Interesse an diesen Mini-Labs sei weltweit gross.
In einer ETH News vom 24. April 2025 wird über eine Methode berichtet, die Antworten von Sprachmodellen zuverlässiger und sicherer macht. Der an der ETHZ entwickelte Algorithmus wertet die Daten zielgerichtet auf die konkreten Fragen aus. Die Daten können mit Blick auf das Themenfeld zusätzlich angereichert werden. Dies führt zu besserer Antwortqualität und reduziert zudem den Rechenaufwand.
Um vierzigmal kleinere Modelle erzielten die Output-Leistungen der besten grossen Sprachmodelle. Diese neue Methode, entwickelt von Jonas Hübotter, ist auf arXiv verfügbar. Er konnte sein Modell an der diesjährigen International Conference on Learning Representations in Singapur vorstellen und erhielt im Dezember 2024 den Preis für den besten wissenschaftlichen Artikel an der NeurIPS in Vancouver, der Konferenz zu neuronalen informationsverarbeitenden Systemen. Die Arbeit war somit an den beiden wichtigsten internationalen Konferenzen im Bereich maschinelles Lernen und KI ein Thema.
Forschende der EPFL – so ihre News vom 10. April 2025 – haben ein bahnbrechendes Tool entwickelt, dank dem die Aussagen einer KI zuverlässiger werden, auch wenn sich beim Training falsche Daten nicht ausschliessen lassen. Es handelt sich hierbei um das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit, aufbereitet in einer von Professor Rachid Guerraoui mit andern herausgegebenen Publikation. Rachid Guerraoui zeigt sich überzeugt, dass die Schweiz mit dieser Innovation für eine sicherere KI eine Vorreiterrolle spielen könne.
Forschende am NeuroAI-Labor der EPFL haben unter der Leitung von Assistenzprofessor Martin Schrimpf ein neues KI-Sprachmodell entwickelt, das die räumliche Organisation von Sprache im menschlichen Gehirn widerspiegelt. Gemäss einer EPFL News vom 24. April 2025 wurde auch dieses Modell an der diesjährigen International Conference on Learning Representations in Singapur, und zwar in einem mündlichen Vortrag, präsentiert. Hierfür ausgewählt werden weniger als zwei Prozent der eingereichten wissenschaftlichen Arbeiten.
Top Forschung – trotzdem kein Big Business
Die Schweiz war schon immer stark in der Forschung, aber nicht besonders gut in der wirtschaftlichen Nutzung, also der Umsetzung in Marktprodukte. Vermutlich hat sie in früheren Jahrzehnten eine enorme Chance verpasst. Professor Niklaus Wirth, der Informatik als Fach an der ETHZ einführte und hier von 1968 bis 1999 wirkte, entwickelte mehrere Programmiersprachen und baute 1980 mit Lilith die weltweit erste Computer-Workstation, den Vorläufer des ersten Personal Computer (PC).
Aber die Schweizer Wirtschaft war zur grossen Enttäuschung von Niklaus Wirth nicht interessiert. Und so erfolgte die industrielle Entwicklung des PC in den USA. Im Jahr 1984 führte Apple den Macintosh PC ein und IBM stellte seinen PC vor. Die Schweiz, so der Visionär Wirth in einem Interview im Jahr 2021, hatte die weltweit einmalige Chance «verschlafen». Heute ist die Schweiz, ist Europa, von den US-Techunternehmen gefährlich abhängig (siehe Infosperber vom 25.5.2025).
US-Marktmacht mit Mitteln zu weiteren Investitionen
Es gibt allerdings verschiedenen Faktoren, die in den USA besonders günstige Rahmenbedingungen für eine rasche industrielle Nutzung von Spitzenforschung schaffen. Zweifellos zeichnen sich die USA durch ein risikofreudiges, fast draufgängerisches Unternehmertum aus, und sie verfügen über einen riesigen Binnenmarkt. Dank ihrer inzwischen erworbenen weltweiten Marktmacht können sie grosszügig investieren und haben die nötigen Finanzmittel, um die innovativsten Start-ups aufzukaufen oder die Kapitalkontrolle mit ihren Investitionen zu übernehmen. Das ist nicht nur negativ, es eröffnet diesen Start-ups Wachstumschancen, die sie in Europa nicht vorfinden. Aber Europa verliert mit diesem Brain-Drain künftige, besonders innovative Unternehmen.
Europa hätte alles … und hinkt doch nach
Die Probleme, die Europas Innovation hemmen, sind längst bekannt. Und es ist nicht einfach nur die viel bescholtene Brüsseler-Bürokratie. Gegenüber dem US-Markt ist der europäische wegen der zahlreichen nationalen Regelungen fragmentiert. Es sind vor allem politische und wirtschaftliche Führungspersönlichkeiten, die den fragmentierten Markt aufrecht erhalten wollen. Sicherheitspolitische Gründe sprechen für eine nationale Kontrolle bei sehr wichtigen Fragen, zum Beispiel im Bankenwesen oder im Energiesektor. Es gibt deshalb keinen effizienten Kapitalmarkt und keine Kapitalmarktunion. Es fehlt somit auch generell an Risiko- und Investitionskapital.
Für Branchen mit vielen kleineren und mittleren Betrieben sind nationale Regulierungen ein Schutzschild gegen überregionale oder gar internationale Konkurrenz. Dies spielt auch in der Schweiz, beispielsweise im Bauwesen.
Wenigstens Handelshemmnisse abbauen
Die EU will die europäische Wettbewerbsfähigkeit mit ihrem Compass to regain competitiveness fördern. Das Massnahmenpaket stützt sich auf die Mängelanalyse im sogenannten Draghi-Bericht und ist auf deren Behebung ausgerichtet. Der Regelungs- und Verwaltungsaufwand soll reduziert werden, im Binnenmarkt sind Hemmnisse abzubauen und mit einer European Savings and Investments Union sollen Anreize für Risikokapital geschaffen werden.
Am 21. Mai 2025 wurde ein Plan veröffentlicht, gemäss dem die EU den Binnenmarkt stärken und Markthemmnisse («terrible» market barriers) beseitigen will. Die einzelnen Mitgliedländer sollen sogenannte Sherpas for the Single Market ernennen, die dafür sorgen, dass Barrieren niedergerissen werden. Die Sherpas sollen jährlich an einem hochrangigen Treffen mit den EU-Ministern zusammenkommen.
Chancen der aktuellen geopolitischen Situation
Die Zeiten haben sich geändert. Sowohl in der Schweiz wie in ganz Europa setzen sich Behörden, Wissenschaft, Wirtschaft und andere Organisationen mit Engagement ein, im KI-Wettlauf aufzuholen. Der Zeitpunkt scheint gut zu sein. In den USA gibt es aufgrund der schwierigen politischen Situation auswanderungswillige Spitzenkräfte. Sie sind, so The Guardian am 4. Mai 2025, in Europa willkommen. Andererseits kann Europa kein Interesse daran haben, dass Forschung und Entwicklung in den USA geschwächt werden. Forschung braucht internationale Zusammenarbeit.
Aber es könnte sein, dass sich der Brain-Drain umkehrt. Europa ist als Standort für Start-ups innovationsfreundlicher geworden und wird mit den geplanten Förderinstrumenten laufend attraktiver. Viele Start-up-Gründer könnten eine planbare Zukunft in Europa der unsicheren politisch-wirtschaftlichen Situation in den USA vorziehen. Vielleicht kommen einige sogar zurück. Auch bei den Investitionen ist eine Kehrtwende zu beobachten. Wie Reuters am 21. Mai 2025 berichtete, reduzieren US-Anleger ihr Engagement in den USA und investieren verstärkt in Europa.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Beachtenswerte Aussage im Artikel: «…Der Zeitpunkt scheint gut zu sein. In den USA gibt es aufgrund der schwierigen politischen Situation auswanderungswillige Spitzenkräfte..»
Es könnte hypothetisch schon möglich sein, dass die geistigen US-Eliten sich nicht von ignoranten, begriffsstutzigen, einfältigen und dilettantischen Geschäfts-Politkern vorschreiben lassen, wie man denken, handeln, forschen und Ideen entwickeln muss, damit die Gross-Kohle-Machtmenschen intellektuell nicht überfordert werden. Das Resultat könnte wohl sein, dass die intellektuellen Eliten der USA die Koffer packen und in Europa eine neue Heimat finden werden. In der Intelligenz nicht bekämpft wird, weil wohl erkannt wurde: Wohlstand und Sicherheit sind garantiert, wenn eine denkfähige Elite sich frei entfalten kann, die nicht alles bedingungslos glaubt was von Oben kommt.
Gunther Kropp, Basel