Kommentar

Sprachlust: Von Wörtern, die es «nicht gibt»

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Ob es ein bestimmtes Wort in der deutschen Sprache gebe, ist oft Ansichtssache; manches gibt’s nur regional oder in einem Jargon.

«Gibt’s nicht» gibt’s nicht. Das ist hier kein Aufruf, auch das scheinbar Unauffindbare zu suchen, sondern eine Behauptung über die Existenz bestimmter Wörter in der deutschen Sprache. Wer meint, es gebe nur jene Wörter, die im Duden stehen, der liegt falsch – nur schon deswegen, weil mit jeder Neuauflage viele Wörter dazukommen und einige verschwinden, ohne dass ihre Existenz just in jenem Moment begänne oder endete. Und auch deswegen, weil die deutsche Sprache praktisch beliebige Zusammensetzungen erlaubt, welche die Duden-Redaktion aber nur aufnimmt, wenn sie genügend geläufig oder aber schwierig genug zu buchstabieren sind.
Wer Scrabble, Boggle, Ruzzle oder andere Wörterspiele spielt, muss sich dennoch an den Duden halten, sonst zählt das Wort nicht. Und wer allgemeinverständlich reden oder schreiben will, muss die Wortwahl noch enger einschränken, als es der Duden tut. Anderseits kann man ohne Weiteres von der Mühsal des Nähers erzählen, der in Pakistan Fussbälle fertigt. Aber im Wörterspiel zählt der Genitiv «Nähers» nicht, und der Nominativ auch nur, weil er für das gesteigerte Adjektiv «näher» gehalten wird. Anderseits wird man nur dann sagen, der Näher dürfe während der Arbeit nicht mal aufs Tö, wenn man annehmen darf, das Publikum kenne diese im Duden vermerkte Bezeichnung des stillen Örtchens.
Keine Zehr auf der Zehr
Besagter Näher steht eben nicht im Duden, offenbar weil er im deutschen Sprachgebiet so selten vorkommt; in manchen grösseren oder mehrsprachigen Wörterbüchern findet man ihn durchaus. Auch Christian Morgenstern liess ihn auftreten, im Gedicht «Die Nähe»: Der «kategorische Komparativ» kündigte der Nähe die Steigerung zum Näher an, ja gar zur Näherin. So entkam sie der «Zehr», die ihren Leib ergriffen hatte, sonst aber nirgends auftaucht. Jedenfalls nicht so: Man findet sie im «Rheinischen Wörterbuch», aber in der Bedeutung «Feier, Zeche, etwa bei der Bauhebe».
Das meinte Morgenstern gewiss nicht; vielmehr machte er von der dichterischen Freiheit Gebrauch, in den Vers ein passendes Wort einzufügen; man versteht die «Zehr» mühelos als Schwindsucht oder dergleichen. Und wenn man bei der Sinnsuche auf dem rheinischen Holzweg gelandet ist, lernt man nebenbei, dass das Richtfest dort Bauhebe heisst. Dieses Wort steht auch nicht im Duden, wohl aber «Aufrichte» mit dem Vermerk «schweizerisch». Regional gibt es eben durchaus Wörter, die nicht überall verstanden werden. So mussten wohl neulich viele TA/«Bund»-Leser «bräsig» nachschlagen, wenn sie es in Peter Schneiders Kolumne verstehen wollten: «besonders norddeutsch für dickfellig», sagt der Duden, und online sagt er noch viel mehr dazu.
Ein Cüpli aufs Switching
Es gibt auch regional gebräuchliche Wörter, die der Duden nicht aufführt. Sind sie schweizerisch, stehen sie vielleicht nur im Spezialduden «Schweizerhochdeutsch», wie etwa «Cüpli». Hier zeugt «-li» von der Einbürgerung. Bei Wörtern aus andern Sprachen soll man sich durchaus den Kopf darüber zerbrechen, ob sie in der jeweiligen Verwendung nötig sind – aber nicht darüber, ob es sie im Deutschen gebe. Stehen sie (noch) nicht im Duden, dann hat man eben kurz in eine andere Sprache gewechselt und angenommen, das Gegenüber verstehe dies. Code-Switching nennen das Sprachwissenschafter, indem sie es eben praktizieren.
Auch wer kurz in die Zeichensprache wechselt und Anführungszeichen in die Luft malt, tut es, ohne des Verstosses wider den Duden geziehen zu werden. Es gibt aber auch deutsche Wörter mit fraglicher Existenz. So eins ist «jedwelche» anstelle von «jedwede». Es ist so oft in (Schweizer) Zeitungen zu finden, dass es vielleicht dereinst doch in den Duden kommt. Dort steht schon «bestmöglichst», wenn auch mit dem Vermerk «falsch». Was das Wort nicht daran hindert, sogar noch häufiger in den Gazetten zu stehen als «jedwelche».
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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9 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 26.07.2014 um 11:18 Uhr
    Permalink

    Dass der Duden noch wagt, «falsch» zu schreiben bei offenkundiger sprachlicher Unlogik, lässt nachgerade wieder auf ihn hoffen, nachdem er seit der Orthographiereform massivst an Autorität eingebüsst hat.

  • am 26.07.2014 um 13:12 Uhr
    Permalink

    Noch schlimmer als «bestmöglichst» finde ich «am optimalsten»…

  • am 13.07.2017 um 18:47 Uhr
    Permalink

    Auch wenn ich damit etwas gar spät komme: Ich mag «jedwelche». Und versuche doch, jedwelche sprachlichen Unverständlichkeiten zu meiden, verbitte mir gleichzeitig jedwelche Sprachverbote und bin doch für jedwelche Alternativmeinungen offen.

    Oder ganz konkret: Ich habe gerade eben in einem Protokoll geschrieben, dass «Informationen und Dokumente jedwelcher Art (Excel-Listen, Verträge etc) teils in Papierform (Ringordner), teils elektronisch (Fileserver) abgelegt werden».

    Was böte sich denn als Ersatz für «jedwelche» an, in diesem Zusammenhang? «beliebige Art» mag sich im Duden finden, wohlklingender ist es in meinen Ohren nicht.

    Andere Ideen, @Daniel Goldstein?

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 13.07.2017 um 19:06 Uhr
    Permalink

    Das Wort «jedwede» steht ja schon drin (in der «Sprachlupe» und in Wörterbüchern). Niemand verbietet Ihnen, stattdessen «jedwelche» zu schreiben oder auch «huxuwazli» – nur dass Letzteres (noch) niemand verstünde, bis Sie genügend Mitstreiter um sich geschart hätten, um diesem Wort zum Durchbruch zu verhelfen.

  • am 14.07.2017 um 13:32 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Goldstein

    Schön, von Ihnen zu lesen, danke dafür. Allerdings haben wir uns vielleicht falsch verstanden: «Dürfen» ist nicht die Frage, und dass ich – wenn ich denn «jedwelche» schreibe – einen Code verwende, der in unseren Graden durchaus verstanden werden dürfte: Daran glaube ich auch. Mir ging’s um die Frage der Alternativen und vielleicht noch um etwas Hintergrund: «Jedwede» ist selbstverständlich bekannt – aber nicht in meinem aktiven Wortschatz. Mich dünkt, «jedwelche» sei in der Schweiz gebräuchlicher, kann das aber nicht verifizieren/belegen, und http://www.googlefight.com ist in dem Fall auch keine Hilfe.

    Wie Sie schreiben: Letztlich ist jeder Code einsetzbar, der für ein Gegenüber verständlich ist, unabhängig davon, was der Duden meint. Trotzdem möchte ich von möglichst vielen Menschen verstanden werden (möchte ich möglichst wenige Menschen beim Lesen eines Textes ins Stolpern bringen. Ausser natürlich, ich möchte genau das. Aber das ist ein anderes Thema). Und deshalb interessiert mich, ob der/die durchschnittliche SchweizerIn bei «jedwelche» tatsächlich weniger stolpert als bei «jedwede». Oder ob Sie das anders einschätzen und in Tat und Wahrheit vielleicht «jegliche» das Wort der am besten verstandenen Wahl ist.

    Nun denn: Nichts wirklich wichtiges und ich werde werde wohl weiterhin «jedwelche» schreiben. Egal, wer dabei ins Stolpern gerät.

    Beste Grüsse und danke für Ihre immer lesenswerten Texte,
    Marc Ritter

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 15.07.2017 um 23:01 Uhr
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    Dass ich «dürfen» schrieb, war eine Reaktion auf die Unterstellung (?) eines «Sprachverbots». Sollte «jedwelche» in der Schweiz besonders geläufig sein, können Sie via duden@sprachverein.ch bei der für Helvetismen zuständigen Kommission die Aufnahme des Worts in den Duden beantragen, am besten mit Belegen. Die Schweizerische Mediendatenbank (SMD) gibt dazu aber wenig her: 22 Nennungen in den letzten 12 Monaten, gegenüber 544 für «jedwede» (das im digitalen Grimm-Nachfolger dwds.de zu Recht als «veraltend» eingestuft ist). Mit «jegliche» sind Sie in der Tat am nächsten bei den Leuten: im gleichen Zeitraum 11’871 Mal in der SMD.

  • am 16.07.2017 um 19:21 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Goldstein

    Herzlichen Dank für Ihren erneuten Kommentar (Infosperber-Schreiber haben sicher auch noch anderes zu tun…), danke auch für den hilfreichen Verweis auf die SMD. Die ist mir nicht zugänglich, aber in dem Fall sicher die viel bessere Referenz als Google.

    Erstaunlich: Subjektiv schien mir «jedwelche» (wie geschrieben) in der CH-Presse verbreiteter als «jedwede». Objektiv ist es in frappierender Deutlichkeit anders.

    Das mit dem «Sprachverbot» ist im Übrigen meiner mangelnden Formulierungskunst geschuldet: Ich wollte mit einen versuchsweise Themen-bezogenen «Mustersatz» die Verwendung von «jedwelche» demonstrieren. Bezug auf Ihren Text hat der Satz maximal am Rande – zumal Ihre Kolumne ja explizit für die Freiheit der Sprache und gegen ein zu eng verstandenes Diktat des Dudens argumentiert. Auch dafür sei Ihnen gedankt.

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 6.08.2017 um 17:02 Uhr
    Permalink

    Eine indirekte SMD-Abfrage ist auch ohne Abonnement möglich: swissdox.ch>Schnellsuche. Die gefundenen Artikel können dann nicht geöffnet werden, aber für die Statistik der Häufigkeit ist das ja auch nicht nötig. Die Zahlen entsprechen nicht genau jenen bei der SMD-Suche, aber die Grössenordnung stimmt überein. Mit dem Suchbegriff «jedwelche*» komme ich übrigens jetzt in der SMD auf 96 Fundstellen in zwölf Monaten, mit «jedwede*» auf 548. Seltsamerweise hat das * (für beliebige weitere Buchstaben) nur bei «jedwelche» einen – vergrössernden – Einfluss. Bei der früher angeführten Suche ohne Sternchen ist also «jedwelche» zu schlecht weggekommen.

  • am 11.06.2020 um 12:11 Uhr
    Permalink

    Ich bin gerade mehr oder weniger zufällig auf diesen unterhaltsamen Artikel gestossen (weil ich nach «jedwelche» gesucht habe). Auch wenn der Text schon etwas älter ist, wollte ich kurz einen Kommentar dazu schreiben. Mein rein anekdotischer Eindruck ist es, dass der öffentlich und durch Laien (sprich Nicht-Sprachwissenschaftler) geführte Diskurs über Sprache hauptsächlich präskriptiv geführt wird und dass also Themen wie Sprachverfall und sprachliche Fehler im Vordergrund stehen. Umso erfrischender ist es deswegen, einen solchen Artikel zu lesen, der den Umstand in den Vordergrund rückt, dass Sprache wandelbar ist und sich laufend den Bedürfnissen ihrer SprecherInnen anpasst (bzw. natürlich dahingehend durch die Sprechenden angepasst wird). Auch als Replik auf die Diskussion von 2017 lässt sich vielleicht noch ergänzen, dass man bei solchen Fragen auch sprachlich pragmatische Aspekte bedenken sollte. Es geht nicht nur darum, ob etwas verstanden wird oder nicht, sondern auch wie es (in einem bestimmten Kontext) verstanden wird. Wenn Herr Ritter «jedwede» nicht verwenden möchte, so vermute ich, dass es dabei nicht in erster Linie um Verständlichkeit geht, sondern vielmehr darum, identitätsstiftend eine Gruppenzugehörigkeit auszudrücken. Aus ähnlichen Gründen verwende ich lieber «Trottoir» als «Bürgersteig» und «allfällig» als «etwaig». Vermutlich vor allem, weil ich es für mich selbst als authentischer befinde, mich auf den Standard des Schweizer Hochdeutschen zu berufen.

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