Kommentar

Sprachlust: Schöne neue kuratierte Welt

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Kurator ist kein musealer Beruf mehr: Wer seine Website aus fremden Inhalten zusammenstellt, kuratiert auch – als Hobby-Redaktor.

Stellt sich Ihnen jemand als Kuratorin vor, dann fragen Sie die Dame vielleicht als nächstes, welches Museum sie betreut oder welche Ausstellung sie als letzte gestaltet hat. Es kann sein, dass Sie mit dieser Vermutung richtig liegen und danach ein Gespräch über die Kuratorenarbeit führen können – darüber etwa, wie man Kunstwerke oder andere Sammlungsschätze ins richtige Licht rückt, punkto Beleuchtung ebenso wie punkto Umfeld und Information. Oder darüber, wie man Besucher ans Dargebotene heranführt, ihr Interesse weckt und wachhält – über (hoffentlich unaufdringliche) Museumspädagogik also.
Es kann aber auch sein, dass Sie bloss ein mitleidiges Lächeln ernten und bestenfalls eine Belehrung darüber, was heutzutage sonst noch so alles kuratiert wird, ausser Ausstellungen handfester Dinge. Seinen Aufschwung hat das Kuratieren allerhand anderer Präsentationen im Internet angetreten: Leute, die Informationen zu bestimmten Themen zusammenstellen, begannen sich als Kuratoren zu bezeichnen. Sie ersparen mit ihrem Tun anderen die Mühe, ihre Quellen selber zusammenzusuchen, und reduzieren die enorme Vielfalt des weltweiten Netzes auf handliche Übersichten in einem Blog oder auf einer spezialisierten Website.
Alle auf Reportage
Der bekannteste solche Tummelplatz ist Storify.com (aufgehoben 2018). Sein Wahrspruch lautet: «Today, everyone’s a reporter.» Damit wird gleich klar, was die neuen Kuratoren betreiben oder es wenigstens beanspruchen: eine Form von Journalismus. Allerdings präsentieren sie die ausgewählten Quellen meistens bloss, ohne deren Glaubwürdigkeit einzuordnen. Der Konsum erfolgt auf eigenes Risiko – vielen scheint das nichts auszumachen. Ein Leibblatt, dem sie vertrauen, haben heutzutage immer weniger Leute, und auch bei diesen hat das Vertrauen gelitten: Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, ob auf Papier oder auf dem Bildschirm, zählt Aufregung oft mehr als Aufklärung.
Der «Bürgerjournalismus», der sich in der Kommentarfunktion mancher Online-Medien und eben auch auf kuratierten Plattformen ausdrückt, wird von manchen als Ausbruch aus der «Bevormundung» durch die Medienzunft gefeiert. Allerdings hat man als Medienmündel die Möglichkeit, seine Vormünder auszuwählen, zwischen ihnen abzuwechseln und jene zu bevorzugen, die ihre Quellen offenlegen und Möglichkeiten aufzeigen, Sachverhalte unterschiedlich zu deuten. Wer glaubt, bei freischaffenden Kuratoren besser bedient zu werden, sollte dort zumindest ebenso kritisch sein. Auch ein Blick ins Lateinwörterbuch kann nichts schaden: In meinem steht «curator: Aufseher, insb. Vormund».
Lass dich kuratieren!
Wie alles, was im Internet Erfolg hat, greift auch das Kuratieren um sich: Bereits wird «kuratiertes Einkaufen» angeboten, zunächst für Kleider: Bei verschiedenen Anbietern kann man sein Modeprofil erfassen lassen und wird dann mit Reklamen oder gleich auch Paketen bedient, um sich wunschgemäss auszustaffieren. Hinter den Kulissen, und erst noch automatisiert, geschieht derlei längst: Wer bei Google und anderen Suchmaschinen nicht sorgsam auf Anonymisierung achtet, wer bei Einkäufen via Internet das Kleingedruckte übersieht und sich daher nicht aus dem Konsumprofil ausklinkt, der erhält Informationen oder Angebote, die auf seine angeblichen Interessen ausgerichtet sind.
Kuratiert wird mit den Angeboten auch gleich die Kundschaft, verlockt mit der Aussicht auf «Personalisierung». So verpasst einem das neue Microsoft-Betriebssystem Windows 10 eine Rundumbetreuung, wenn man es per «Express» installiert, statt sich durch die Optionen zu klicken. Immerhin lässt sich die «Assistentin Cortana» ausschalten. Sonst verlangt sie gebieterisch die Vollmacht, den Computergebrauch zu registrieren und an Microsoft sowie weitere Anbieter zu melden. Wäre sie eingeschaltet, würde ich die hilfreiche Dame mit ihrer Automatenstimme glatt zu meiner Kuratorin ernennen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er kuratiert die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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