Kommentar

Sprachlust: Sagen Sie «ässä», wies «gschribä» ist?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist? Sicher! So schreiben? Vielleicht, aber nicht so, wie er NICHT gewachsen ist: ä, ä, ä.

Jetzt hat die Seuche auch die Computer erwischt, jedenfalls jenes Mailprogramm, das mir neulich mitteilte: «Am 29.05.2016 am 11:00 hät X. Y. gschribä». Als Seuche will ich nicht die Mode bezeichnen, alles und jedes schweizerdeutsch zu schreiben, vom SMS bis zum Swatch-Geschäftsbericht. Aber als Epidemie empfinde ich die Manie, derlei Schriftstücke mit möglichst vielen ä auszustatten, damit sie auch ja recht mundartlich aussehen. Und dies auch dann, wenn in keinem (mir bekannten) Dialekt an der fraglichen Stelle etwas gesagt wird, das man mit ä wiedergeben könnte.
Das Wort «gschribe» etwa höre ich immer nur mit einem unbetonten, offenen e am Schluss; Linguisten nennen den Laut (nach einem hebräischen Zeichen) Schwa und schreiben ihn phonetisch mit einem umgedrehten e, also ə. Lese ich dagegen «ä», so höre ich einen Laut wie in zürichdeutsch «Chämi» oder berndeutsch «Chäs» (phonetisch æ). In die epischen Streitigkeiten zwischen den Verfechtern unterschiedlicher Mundart-Schreibweisen möchte ich mich nicht einmischen. Daher würde ich auch ein berndeutsches «Chämi» oder einen zürichdeutschen «Chäs» nicht bemäkeln. Vielmehr würde ich dieses ä einfach wie ein offenes e aussprechen, das phonetisch mit ɛ wiedergegeben wird. Im Hochdeutschen ist es auch in «bemäkeln» am Platz, ebenso in «sich räkeln» – nicht aber im gleichbedeutenden «sich rekeln» mit geschlossenem e (auch phonetisch e).
Gämse klingt wie Gemse
Das Bühnendeutsche kennt, soviel ich weiss, das andere, helle ä (æ) nur als Verlegenheitslaut in stockender Rede oder etwa dann, wenn der eingebildete Kranke aufgefordert wird, mit diesem Laut den Blick in seinen Rachen freizugeben. Oder natürlich dann, wenn eine Figur ihre Schweizer Herkunft hörbar machen soll: «Jä Sie, bei uns krähen die Krähen, wenn wir mähen.» Im Online-Duden, der bei manchen Wörtern die Aussprache hörbar macht, erklingt in diesen Beispielen immer ein offenes e, sogar wenn mit «mähen» die Verlautbarung eines Schafs gemeint ist. Auch dass die einstige Gemse jetzt Gämse geschrieben wird, ändert nichts an der Aussprache – selbst wenn es uns juckt, Schweizer Besitzansprüche auf das Alpentier mit einem hellen ä zu bekräftigen.
Der geschriebene Ä-Überschwang ist nicht ganz neu: Es gibt ihn in der bekannten Matratzenwerbung «für ä tüüfä, gsundä Schlaaf» mindestens seit 1978. In der aktuellen Fernsehwerbung wird der Slogan zwar nur geflüstert, aber bei genauem Hinhören bemerkt man zwischen dem ersten, allein stehenden ä und den beiden folgenden, auslautenden einen Unterschied: Hell klingt nur jenes, das für «einen» steht und je nach Dialekt auch «än» oder «en» lauten könnte. Eine Mundart, in welcher der Spruch drei gleiche, «schwäizerische ä äufwäist», ist mir noch nicht begegnet. Aber natürlich haben die vielen Ä- und Ü-Punkte den Werbespruch einprägsam, ja unverwüstlich gemacht.
Kindisch und kindlich
Im aktuellen Zeichen der Swissness hat auch der letzte Werber die Mundart entdeckt, ganz zu schweigen von den Menukartenpoeten. Noch stärker, so scheint mir, hat sich innerhalb dieser Dialektwelle das ä ausgebreitet, und so dürfen wir nun «ässä wiä bi dä Grosmamä»; neben den «prötlätä Forällä», soll uns auch die «Sossä» munden, und zum «Dessär» die «Glassä». Immerhin: Dass ein Kind quälerisch quengelt, «ich wott ä Glassä», kann ich mir gut vorstellen.
Zu meiner grossen Überraschung hat neulich ein – durchaus gutgelauntes – Kind in unserer Nachbarschaft «spilä, schwätzä, lachä» gesagt, als es erzählte, wie es mit seinen Gspänli den freien Nachmittag verbracht hatte. Allerdings waren die hellen ä betont, weil sie jeweils eine Kunstpause einleiteten. Sollte indessen dieses grelle Schluss-ä als übliche Aussprache in die Mundart einziehen, so müsste man das schier als Beweis auffassen für die Macht des geschriebenen Wortes – oder eben «vom gschribänä Wort».
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
— Darin zum «Swatch-Schweizerdeutsch» mit vielen «ä»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 26.06.2016 um 10:51 Uhr
    Permalink

    Grässlich, diese deutschschweizer Manie sich mit Dialekt einzuzäunen. Fehlt nur noch dass das SRF auch noch die Tagesschau in Dialekt (berner, walliser, zürcherischer?) ausstrahlt. In Italien bemüht man sich, ausserhalb des Familienkreises sich möglichst in einem „schriftitalienisch“ auszudrücken. Man möchte ja verstanden werden und nicht den Eindruck erwecken, man habe nie eine Schule besucht oder es höchstens bis in die dritte Stufe der Grundschule geschafft.

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