Kommentar

Sprachlust: Keine Narrenfreiheit für das Narrativ

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Auch wer keine Reise tut, kann was erzählen. Und wer damit sein Publikum in Marsch setzen will, der braucht heute ein Narrativ.

Ob es um Neutralität oder fremde Richter geht, ob um Iran oder Russland, ob um K.-o.-Tropfen oder Mutterglück: Nichts mehr geht ohne «Narrativ». Der aus der Literaturwissenschaft stammende Begriff hat sich in letzter Zeit in den Medien stark verbreitet, aber seinen Weg noch nicht in allgemeine Wörterbücher gefunden. Gemeint ist der zielgerichtete Aspekt einer Erzählung, mit der ein bestimmtes Anliegen begründet wird. «Politische Narrative finden sich nicht nur in der Literatur oder in Bildern, sondern auch in vielfältigen Legitimierungsstrategien und Herrschaftstechniken politischer Akteure», heisst es in der Präsentation eines Fachbuchs («Politische Narrative», Springer-Verlag 2014).
Lateinisch «narrare» bedeutet einfach «erzählen», aber wenn es zum Narrativ gerinnt, wird es ein Erzählen mit Hintergedanken. Das können politische sein, etwa die Bildung eines National- oder Europagefühls, aber auch pädagogische, wie alle guten Lehrkräfte wissen, die ihren Stoff gern mit Erzählungen vermitteln, damit er besser haften bleibt. Auch der Journalismus setzt seit Jahren vermehrt auf «storytelling» und «erzählt Geschichten» – oft als Selbstzweck, in den besseren Fällen aber auch, um die Leserschaft an Themen von öffentlichem Belang heranzuführen.
Jahrhundertgeschichten
Durchaus belangreich ist es, im mehrfachen Schweizer Jubiläumsjahr 2015 die Narrative herauszuarbeiten, mit denen Sempach, die Eroberung des Aargaus, Marignano und der Wiener Kongress zu Meilensteinen einer wie auch immer gearteten Schweizer Identität stilisiert werden; gerne nähme man Carl Spittelers Standpunkt-Rede vom Dezember 1914 dazu. Wer die jeweilige Interpretation ablehnt, redet gern von «Mythen» und meint damit, die erzählten Geschichten seien verfälscht oder gar frei erfunden.
Der Wahrheitsgehalt ist aber nicht das Entscheidende an einem Narrativ: Wer die mit der Erzählung verknüpfte Meinung teilen will, wird davon kaum abzubringen sein, bloss weil die erzählte Geschichte von der erforschten Geschichte abweicht. Dennoch ist es sinnvoll, jedem Anspruch auf Alleinbesitz der historischen Wahrheit entgegenzutreten: Dieser Wahrheit kann man sich immer nur annähern, durch Forschung und Diskussion; sie steht nicht endgültig fest und eignet sich nicht dazu, heutige Politik zwingend festzulegen. Wer es dennoch versucht, setzt sich dem Verdacht aus, dass ihm bessere Argumente fehlen.
Missbrauchtes Erzählen
Die Versuchung ist natürlich gross, den Sog einer fesselnden Erzählung für die eigenen Zwecke einzusetzen. Auch im Journalismus besteht die Gefahr, durchs Erzählen aus der Perspektive direkt Beteiligter – meist in Opferrolle – den Grundsatz zu verletzen, dass auch die andere Seite gehört werden soll; der Medienbericht ist dann mit einem Narrativ verwoben. Das Lesepublikum scheint heute so sehr daran gewöhnt zu sein, hinter Geschichten eine versteckte Absicht zu erwarten, dass das für literarische Schreibende zum Problem wird. Peter Bichsel mahnte schon vor Langem: «Ich glaube, der Sinn der Literatur liegt nicht darin, dass Inhalte vermittelt werden, sondern darin, dass das Erzählen aufrechterhalten wird.»
Heute aber klagt etwa der französische Romancier Michel Houellebecq: «Der Sinn für Fiktion ist verloren», und die Filmerin Güzin Kar, die ihn zitiert, führt aus: «Querlesen ist angesagt, das Überfliegen mit Leuchtstift, damit man sich Passagen herausstreichen kann, Passagen, die entweder geeignet sind als Podest für die eigene Meinung oder als (…) Beweisstücke fürs öffentliche Tribunal, das noch folgen wird.» Das sollte man aus Respekt für literarische Werke bleiben lassen, aber wenn Politiker Geschichte erzählen oder Medienleute Geschichten, dann ist sehr zu empfehlen, zwischen den Zeilen mitzulesen und Narrative herauszuschälen. Es geht auch ohne das hochgestochene Fachwort: Man muss nur darauf achten, was einem jemand unterjubeln will.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 12.05.2015 um 10:12 Uhr
    Permalink

    Lieber Daniel!

    Gut, dass Du auf den grossen Spitteler zurückkommst. Es war die umstrittenste Rede, die je ein Schweizer Schriftsteller gehalten hat. Es wimmelte deswegen in Basel dann von Austritten aus der Neuen Helvetischen Gesellschaft, habe es im dortigen Staatsarchiv recherchiert. In Schaffhausen wollten von 25 Mitgliedern der NHG nur deren 4 Spitteler zum 70. Geburtstag gratulieren, darunter der Zahnpastahersteller Werner Minder, Grossvater des heutigen Ständerates von Schaffhausen. Alfred Huggenberger, Bauernschriftsteller, distanzierte sich mit anderen Mitgliedern des neugegründeten Schweizer Schriftstellerverbandes von Spitteler. In dieser brenzligen Situation hielt Spitteler-Freund Meinrad Lienert am 7. Juli 1915 vor dem Lesezirkel Hottingen seine sog. «Trichtenhausener Weltbetrachtung», von mir aus gesehen eine Rede, die Spitteler ebenbürtig war. Vgl. meine Ausführungen zum 150. Geburtstag von Meinrad Lienert, zusammengefasst im gestrigen «Boten der Urschweiz» oder dann auf http://www.textatelier.com vom 9. Mai.

    Es bleibt aber dabei, dass es auf das grosse Narrativ ankommt. Lienert vermochte die Geschichte von Marginano beispielsweise so zu erzählen, wie es Blocher und Maissen wegen Parteistandpunkt nicht möglich ist. Geschichtsbewusstsein war für Lienert keine ideologische Angelegenheit, sondern so elementar wie Bergluft. Marignano und 1798 waren für ihn wichtiger als Morgarten u. Sempach, weil es ihm, wie Spitteler, um eidgenössische Selbstbescheidung zu tun war.

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