Kommentar

Sprachlust: Ist «Common Sense» gemeiner Unsinn?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Eigentlich bedeutet «Common Sense» «gesunder Menschenverstand». Aber leider nicht, wenn eine Bundesrätin ihn von Bankern verlangt.

Ganz schön frech muss Doris Leuthard den Schweizer Bankleuten vorgekommen sein: «Entwickeln Sie einen Common Sense in den grossen Linien», mahnte sie am letzten Bankiertag. Da die Bankiers (oder Banker) alle gut Englisch können, verstanden sie auf Anhieb, was die Bundesrätin von ihnen verlangte: gesunden Menschenverstand. Gewiss fehlt der manchen Bankverantwortlichen – aber würde die Magistratin als Ehrengast so direkt auf diesen Mangel hinweisen?
Ihrer eigenen Deutschkenntnisse weniger sicher, liessen manche Banker ihre Assistenten im Duden nachschauen, und siehe da: «Common Sense» gilt auch als deutsches Wort und bedeutet wie auf Englisch «gesunder Menschenverstand». Aber Leuthard hatte von «einem» gesunden Menschenverstand geredet. Das musste sprachbewusste Zuhörer stutzig machen: Kann es denn mehr als einen geben? Was genau dieser Verstand ist, weiss kaum jemand zu sagen. Aber zur Vorstellung vom gesunden Menschenverstand gehört es, dass es davon bloss eine Sorte gibt.
Verbreitung mit und ohne Vernunft
Diese Vorstellung ist Allgemeingut, und sie besagt wohl, dass bei vielen Problemen die meisten Leute mit ein bisschen Nachdenken zu ähnlichen Antworten kommen. Manche anderen Ansichten werden ohne jedes Nachdenken vertreten, aber ebenfalls von vielen geteilt – Vorurteile zum Beispiel. Weit verbreitet zu sein, reicht also nicht, damit eine Idee dem gesunden Menschenverstand entspricht. Im Deutschen indessen wird «Common Sense» seit einiger Zeit oft ohne jede Rücksicht auf den Verstand benutzt, um eine allgemeine Ansicht, eine vorherrschende Meinung zu bezeichnen.
So muss es auch die Bundesrätin gemeint haben, denn sie rief dazu auf, Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Bankenverbands zu überwinden: «Finden Sie sich in den zentralen Fragen», sagte sie unmittelbar vor dem Satz mit dem «Common Sense». Und so dürften die meisten Zuhörer in Wirklichkeit gar nicht gemerkt haben, dass ihnen da dem Wortsinn nach der gesunde Menschenverstand abgesprochen wurde. Schade!
Widersinniges Eigenleben
Dass aus einer anderen Sprache übernommene Wörter im Deutschen ein Eigenleben entwickeln, ist gar nicht so selten und manchmal sogar nützlich. Unser «Mail» etwa ist sofort als elektronisches zu erkennen, wozu vor dem englischen «mail» noch ein «e-» nötig ist. Das Eigenleben von «Common Sense» als «vorherrschende Meinung» dagegen führt zu Konflikten mit der Grundbedeutung «gesunder Menschenverstand». So schrieb neulich ein anderer Kolumnist von einer «Gedankenlosigkeit, die leider nahezu ‹Common Sense› geworden ist». Und ein weiterer braucht das Wort ausdrücklich für das «allgemein Geglaubte» und sieht dieses in der Form von Empörungswellen «im Internet Amok laufen». Wiederum andere brauchen das Wort für «Gemeinsinn» – o wäre er doch allgemein verbreitet!
Gedankenlosigkeit scheint auch hinter der neumodischen Verwendung von «Common Sense» zu stecken, zusammen mit dem Drang, sich durch unverstandene Englischbrocken hervorzutun. Oder ist auch im Englischen ein Bedeutungswandel im Gange? Wörterbücher und Stichproben im Internet lassen davon nichts erkennen. Hingegen braucht der Englisch schreibende Schweizer Alain de Botton in «The Consolations of Philosophy» just das Wort «common sense» für jene landläufigen Meinungen, gegen die Sokrates antrat. Allen, die sich in gleicher Weise unbeliebt machen, bietet er folgenden «Trost» an: Im sokratischen Gespräch mit einem Freund lasse sich so ein «common-sense belief» in weniger als einer halben Stunde durch bessere Ideen ersetzen – vorausgesetzt, man habe «einen neugierigen und wohlgeordneten Verstand». Mit anderen Worten: gesunden Menschenverstand.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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4 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.02.2015 um 11:30 Uhr
    Permalink

    "Common sense» und der Logos von Sokrates waren tatsächlich nie dasselbe, worauf schon Karl Popper als Verteidiger der Sophisten und der Demokratie hingewiesen hat. Der Vertreter des Common Sense im alten Griechenland war klar Aristophanes, der Komödiendichter, der Sokrates naturwissenschaftliches Denken vorgeworfen hat, etwa im Zusammenhang mit der Erklärung des Donners, so wie für den Common Sense die Sonne noch heute auf- bzw. untergeht. Es gibt also Grenzen bei der Kompetenz des Common Sense. Aber schon bei Aristophanes lag der Common Sense, etwa der Frauen bei «Lysistrata», in Richtung Pazifismus, auf jeden Fall nicht in Richtung Kriegshetze. Göbbels Frage «Wollt ihr den totalen Krieg» hatte den Common Sense klar gegen sich, was man beispielsweise vom allgemeinen Antisemitismus leider nicht sagen kann, im Gegensatz zum Vorschlag, die Juden auszurotten, so war vom Common sense her der Antisemitismus nie gemeint. Der Common sense war gewiss nie unfehbar, nur war das absolut Extreme und Fanatische seine Sache nicht, weswegen es nicht falsch ist, ihm ein zwar nicht bedingungsloses, aber doch hohes und im Zweifelsfall heilsames Vertrauen entgegenzubringen. Klar ist, dass Grenzenlosigkeit nie Sache des Common sense war; dieser setzt immer Grenzen, sogar auch bei der Personenfreizügigkeit, desgleichen bei Bergpredigt. Seinem Feind, wenn er einem auf die rechte Wange schlägt, auch noch die linke hinzuhalten, wird nie Common sense werden, da bleibt Jesus klar Sektenprediger.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.02.2015 um 11:37 Uhr
    Permalink

    PS. Die Frage: «Wollt ihr den totalen Krieg?"- im Sinne von: «Ja, wir wollen ihn» konnte im Sportpalast nur einer vorsortierten und ausgewählten gleichgesinnten Meute gestellt werden, gewiss nicht einem freien anonymen und sogar nach Ständen gegliederten Abstimmungspublikum wie in der Schweiz. Zumindest Einstimmigkeit in dieser Frage wäre selbst bei noch so manipulierten Verhältnissen bei einem halbwegs freien Entscheid nicht möglich gewesen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 25.02.2015 um 14:35 Uhr
    Permalink

    Goldsteins Gedanken finde ich immer Goldes wert. Die Relativität der Konzepte, auch sprachbedingt, ist eine Realität und die Suche unseres Freundes Pirmin nach absolutenWerten ist ebenso «futile» wie hoffnungslos. «Klar ist…» > Das schöne an interkommunaler Kommunikation ist eben, dass nichts klar ist.

    Während Jahren sass ich in einer nationalen Kommission, und mein häufigster Refrain war «Bitte, den guten Menschenverstand nicht vor die Türe verbannen». Ich hätte das damals vielleicht auch noch nicht mit «Common Sense» übersetzt, sicher aber nicht mit «sense commun». In der Hitze des Disputes hätte ich dies vielleicht getan, hätte aber wohl auf den «sense élémentaire des réalités» oder so verwiesen. «Tradutore traditore» steht auch für die interpretativen Verkürzungen, welche wir Aussagen anderer Leute anhängen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 25.02.2015 um 14:36 Uhr
    Permalink

    2)

    10vor10 hat vor kurzem zur Griechenfrage von «Siegern» und «Verlierern» gesprochen. Bloss glaube ich, hat sich die schöne Moderatorin etwas in den Zielgrössen verschaut.

    Enfin, «nobody is perfect». Oder wie ein Freund mir in den 60er Jahren versicherte «I alwys say always». Da gab es doch auch noch die schöne Geschichte von «knock up someone». Engländer und Amerikaner konnten sich nicht üner den (common) Sinn der Aussage einigen.

    … spraak schwere spraak… Das wussten schon unsere Vorfahren.

    Immerhin ist es von Zeit zu Zeit nützlich, sich über Srachinhalte Gedanken zu machen.

    Daher, besten Dank Herr Goldstein fü ihre Sprachperlen, welche auch im multilingualen Bereich durchaus zu erfreuen vermögen.

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