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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Grussgraben – ein Fall für die Meinungsforschung

Daniel Goldstein /  Das wechselhafte Abstimmungsverhalten der Agglomerationen liesse sich vielleicht anhand der Grussgewohnheiten erhellen.

Die Stadt, die Agglo und das Land – diesen Dreiklang stimmt die Meinungsforschung in der Schweiz gern an, wenn sie Abstimmungsresultate deutet. Klafft bei einer Vorlage der Stadt-Land-Graben, dann hängt das Ergebnis davon ab, auf welche Seite sich die Agglo schlägt. Über diesen Zwischenbereich führt also häufig die Siegerstrasse – aber ist die nach statistischen Merkmalen definierte Agglomeration als Ganzes ein wankelmütiges Wesen oder verläuft durch sie selber auch ein Graben?

Mir scheint, es gebe so einen Graben – einen, der sozusagen sprachlos macht. Vor einigen Monaten fragte mich ein Nachbar, ob mir in letzter Zeit im Quartier ebenfalls Leute aufgefallen seien, die einen nicht grüssten. So war es tatsächlich, und wir waren uns rasch einig, dass die in der neuen, gediegenen Überbauung an der Hangkante wohnen müssten. Mit vier Stockwerken ist sie doppelt so hoch wie ihre Umgebung und zieht gewiss eine urbane Klientel an, die Fernsicht und ein bisschen Landluft sucht. Kommen Zugezogene an die – eigens für sie verschobene – Postauto-Haltestelle, erwidern manche einen Gruss, andere lassen den Blick abgewandt. So bleibt ihnen das ungeschriebene Gesetz verborgen, dass auch Unbekannte einander grüssen, wenn sie sich oberhalb des Talbodens begegnen.

Grüssen links und grüssen rechts

Nun bin ich selber umgezogen, entlang der Vorortsbahn näher zur Stadt und zugleich näher zur Bahnstation. Am neuen Wohnort, so dünkt mich nach den ersten Spaziergängen, verläuft die Grussgrenze ein Stück höher oben an der Talflanke, die hier flacher emporsteigt. Selbst in der Stadt bin ich in ruhigeren Quartieren schon auf Grussoasen gestossen. Umgekehrt gibt es auf dem Land, wo man sich bekanntlich noch grüsst, ebenfalls geschäftige Ortskerne, wo sich das Grüssen auf Leute beschränkt, die man kennt.

Können wir nun aus dem Grussverhalten auf die politische Tendenz schliessen? Neigen also die Grusszonen eher zur ländlichen, die Grusswüsten zur städtischen Seite? Da Abstimmungsresultate nicht nach Quartier erhoben werden, lässt sich das schwer ermitteln. Bei Umfragen wäre es eher möglich, vor allem bei telefonischen im Festnetz. Es könnte sich dabei allerdings herausstellen, dass die Wahlverwandtschaft genau umgekehrt funktioniert – dass sich also linksgrün Ausgerichtete besonders gern dort niederlassen, wo man sich in der Agglomeration oder auch der Stadt grüsst. Und dass an den unwirtlichen Strassenzügen mehr städtische Benachteiligte oder von der Agglo eingeholte Alteingesessene leben, bei denen die SVP Stimmen einheimsen kann. Michael Hermann, übernehmen Sie!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 12.02.2022 um 16:30 Uhr
    Permalink

    Vielleicht ist es auch wie in Italien. Da muss der (vermeintlich) sozial Schwächere den mehr Besseren zuerst grüssen, der aber nicht unbedingt zurück grüsst. Also der «Lohnempfänger» hat zu grüssen. Muss man wissen, wenn man dort wohnt.

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