aa_Sprachlust_Daniel_4c-1

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Fehlt Wissenschaftern in der Schweiz ein l?

Daniel Goldstein /  Schriftdeutsch, nicht nur die Mundart, hat in der Schweiz Eigenheiten. Aber etliche davon werden in den Medien zusehends verdrängt.

Was für eine Zeitenwende das Jahr 2000 bedeutete, wird erst im Rückblick so richtig klar: im Rückblick auf die Statistik der Schweizer Mediendatenbank (SMD). Denn es war das erste Jahr, in dem die erfassten Publikationen häufiger «Wissenschaftler» schrieben als «Wissenschafter». Ob die weiblichen Formen mitgezählt sind, ändert nichts an diesem Befund, und es geht hier auch nicht ums -in, sondern ums l. Was aber soll es mit einer Zeitenwende zu tun haben, wenn die Endung -ler die Nase vorn hat?

Wissenschafter sandra-schoen.de
Wissenschafter oder Wissenschaftler?
Grafik und Text dazu: Sandra Schön.

Für sich allein noch gar nichts, aber diese kleine Verschiebung ist ein Symptom: ein Symptom dafür, dass viele Eigenheiten des schweizerischen Hochdeutsch auf dem Rückzug sind. Es geht dabei nicht um die Dialekte, sondern darum, dass Deutsch eine Sprache mit mehreren Varietäten ist, wie Wissenschafter sagen. Diese Auffassung hat sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, gegen frühere Ansprüche, die Wissenschaft könne ein einziges, fürs ganze Sprachgebiet allein richtiges Deutsch ermitteln und festlegen. Besonders für Österreich und die Schweiz wurden nun je die Besonderheiten im tatsächlichen Sprachgebrauch erfasst und fanden auch Eingang in den Duden.

Wörterbücher machen Mut

Zudem erschien im Dudenverlag 1989 erstmals ein Spezialband «Wie sagt man in der Schweiz?», 2006 als «Schweizer Wörterbuch» bei Huber neu aufgelegt. Darin steht «Wissenschafter» als hiesige Normalform mit dem Vermerk, seltener komme sie auch in Österreich vor, anderswo sei sie veraltet. Im allgemeinen Duden steht das Wort schon lange als schweizerisch-österreichische Nebenform zu «Wissenschaftler». Das «Variantenwörterbuch des Deutschen» befand aber 2004, in beiden Ländern sei die kürzere Form seltener als die «gemeindeutsche» mit l. In der Neuauflage von 2016 heisst es das nur noch für die Schweiz.

In Österreich führte «Wissenschafter» gegenüber «Wissenschaftler» laut dem Blog der Uni Wien 2013 noch im Verhältnis 2:1. Allgemein dürfte in unserem östlichen Nachbarland das Bewusstsein stärker verankert sein, dass dort eine eigene Varietät des Deutschen die nationale Norm ist. Trotzdem, oder gerade deswegen, wird in Österreich auch oft die Klage laut, Sprachformen aus Deutschland seien auf dem Vormarsch. In der Schweiz gelten solche Formen bei vielen als «richtiger», denn damit entfällt der Zweifel, ob ein hier gebräuchliches Wort fürs Schriftdeutsch tauge oder allein Dialekt sei. Meistens hilft da ein Blick in den heutigen kleinen Dudenband «Schweizerhochdeutsch».

Pralinen, die in den Ohren wehtun

In meinen Ohren klingt «Wissenschafter» seriöser, vielleicht auch deshalb, weil in der Mundart oft (leicht) spöttische Bezeichnungen auf -(e)ler enden: Stündeler, Hündeler, Gümmeler. Freilich gibt es auch in Deutschland Heuchler, Frömmler und Schmeichler. Daneben indes die ehrbaren Tischler, die bei uns Schreiner heissen und ohne l auskommen. Erstere machen manchmal Urlaub, Letztere Ferien – aber auch in meinem Leibblatt habe ich neulich von einer hiesigen «Wissenschaftlerin» gelesen, die wegen Corona auf den «Sommerurlaub» verzichten musste. Hätte sie fliegen können, hätte sie bei der Swiss «Pralinen» bekommen, Lufthansa sei Dank. Aber auch ein ganz schweizerischer Hofladen meint, seinen Spargel anbieten zu müssen statt seine Spargeln.

Letztes Jahr waren die Wissenschaftler in Schweizer Medien schon in dreifacher Überzahl, 1990 waren sie noch nicht einmal halb so oft anzutreffen gewesen wie die (als Wort) einheimischen Wissenschafter. Bei den – damals insgesamt seltenen – weib­lichen Formen war die in Deutschland übliche Endung -lerin allerdings bereits klar im Vorteil. So willkommen die Einwanderung hochgebildeter Personen beliebigen Geschlechts ist – noch willkommener sind sie, wenn sie hierzulande auf das l in der Bezeichnung verzichten und so dazu beitragen, die sprachliche Vielfalt innerhalb des Hochdeutschen zu erhalten. Es wäre ein Jammer, wenn diese Vielfalt, kaum ist sie wissenschaftlich etabliert, der Verflechtung und Verflachung zum Opfer fiele.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

10 Meinungen

  • am 5.06.2021 um 11:40 Uhr
    Permalink

    Hervorragend. Wissenschaftler klingt nun mal abwertend, Wissenschafter seriös. Seltsam, dass viele JournalistInnen zwar tapfer Helvetismen verwenden – wie «Pfnüsel» oder «speuzen» – dafür dann aber im Hochdeutschen aller erdenklichen Germanismen – eben inklusive «Urlaub» und «Pralinen». Grausam. Oder neuerdings den Austriakismus (nach meiner Ansicht) «heuer». Warum dann nicht gleich «hüür»? Niedlich: Oft beherrschen sie nicht mal ihren eigenen Dialekt und schreiben «Zöierli» statt «Zäuerli» – einen (Appenzeller) Jodel ohne Worte. Irgendwann werden sie «Fröilein» schreiben, falls es das noch gibt.

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 5.06.2021 um 17:59 Uhr
      Permalink

      «Heuer» schreibe ich selber ab und zu. Für mich ist nur der Heurige als Getränk exklusiv österreichisch, «heuer» und «heurig» dagegen, wie für den Duden: «süddeutsch, österreichisch, schweizerisch». Dass wir das Dialektwort «hüür» haben, ist ein Indiz dafür, dass die entsprechende standarddeutsche Form auch hierzulande beheimatet ist.

  • am 5.06.2021 um 11:42 Uhr
    Permalink

    Bei der „Alten Tante“ mussten wir aushelfende „Bildschirmkorrektoren“ zur Zeit des Übergangs vom Blei- auf den Lichtsatz Ende 70er auf dieses L beim Wissenschafter achten (neben ein paar anderen Eigenheiten ;-). Ich dachte immer, das L wäre schweizerischer, was zur Hoch-Kültür nicht passen würde. Nun ist’s gerade umgekehrt, Danke!

  • am 5.06.2021 um 12:42 Uhr
    Permalink

    Gut, dass jemand wie Daniel Goldstein auf immer häufiger werdende Verzerrungen unserer Umgangssprache aufmerksam macht. Oft ist es auch so, dass die Bedeutung von Worten verschleiert wird. Ein Beispiel: viele Journalisten und Politiker brauchen das Wort «Prozentpunkt» und geben dem Wort den Anschein einer Wertung. Dabei ist die Bedeutung klar und mathematischen Ursprungs: ein Prozent bedeutet einen Hundertstel vom Ganzen und hat nichts mit einer Bewertung mit Punkten zu tun!

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 5.06.2021 um 18:11 Uhr
      Permalink

      Das Wort «Prozentpunkt» sehe ich nicht als Verzerrung. Korrekt verwendet, kann es Missverständnisse verhindern. Wenn eine Partei letztes Mal 10 Prozent der Stimmen hatte und nun 10 Prozentpunkte zulegt, dann hat sie 20 Prozent erreicht. Sagt man dagegen, sie habe 10 Prozent zugelegt, dann versteht der Mathematiker, sie habe jetzt 11 Prozent, nämlich die 10 bisherigen plus 10 Prozent, also einen Zehntel davon. Siehe auch hier.

  • am 5.06.2021 um 13:22 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Goldstein,
    der InfoSperber „sieht, was andere übersehen“; Sie tun das ganz besonders gründlich. Und es wird Zeit, dass ich Ihnen einmal sage, wie sehr mich das begeistert. Ich freue mich immer auf die Samstag-Newsletter mit Ihren Beiträgen.
    Nur ein Beispiel: Wenn ich sogar in renommierten Blättern lese, dass das dass und das das munter und ohne erkennbare Regel durcheinander eingesetzt wird, dann zucke ich jedes Mal zusammen. Nicht, dass ich „sauer“ wäre, aber es irritiert. Es lenkt kurzzeitig den Fokus weg vom Inhalt. Meine Bekannten finden das „pingelich“. Aber man sei doch gerne pingelich, damit Leser genau das verstehen, was gesagt werden muss. Sonst kann man sich das Schreiben sparen.
    Ihr heutiger Artikel, der sich darum dreht, was denn nun „richtiger“ ist, kommt mit Ihrem gewohnten hintersinnigen Witz und Humor daher, wieder eine Ihrer „kleinen“ Kostbarkeiten.
    Vielen Dank dafür.

  • am 6.06.2021 um 13:51 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Goldstein
    Was sollen wir armen Amateurschriftsteller denn tun, wenn der Spellchecker eben «Wissenschafter» rot unterstreicht und nur mit «Wissenschaftler» Ruhe gibt? Haben Sie sich eigentlich schon über den Unfug des «Genderns» geäussert? Auch da werden wir wohl vom Spellchecker künftig belehrt, was wir zu schreiben haben. Graue Eminenzen in der Sprache, alles Wissenschaftler?
    Danke, dass Sie als helvetische «Witchpen» aktiv bleiben. Sie werden gehört!

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 6.06.2021 um 21:30 Uhr
      Permalink

      Spellchecker: deaktivieren und «Witchpen» nachtrauern, wenn Sie dieses Programm von Hannes Keller hatten und es Schweizerhochdeutsch konnte.
      Gendern: Suche

  • am 19.06.2021 um 07:57 Uhr
    Permalink

    Ich bin in Basel und St. Gallen aufgewachsen und kann mich nicht erinnern jemals das Wort ohne l auf Mundart gehört zu haben. Auf Schweizer Hochdeutsch mag sein dass ich es schlicht übersehen habe, aber im Dialekt dünkt mich Wissenschafter eher wie ein verschlucktes l einer faulen Zunge als wie ein absichtliches Wort.

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 19.06.2021 um 18:09 Uhr
      Permalink

      Auch mir sind in verschiedenen Mundarten vorwiegend «Wüsseschaftler» begegnet; aber in Zusammensetzungen (Atom-, Schproch-) scheint mir das l seltener. Schweizer Hochdeutsch ist ohnehin keine Ausgeburt der Dialekte, sondern die formelle, vor allem schriftliche Sprachform, die sich hierzulande im kulturellen Austausch mit anderen deutschen Sprachgebieten herausgebildet hat. Im Text habe ich Kurt Meyers «Schweizer Wörterbuch» zitiert, wonach ausserhalb CH und A die Form ohne l «veraltet» sei. Auch im Duden «Rechtschreibung» stand noch 1996 diese Angabe; um die Jahrtausendwende herum entfiel der Hinweis auf den «veralteten» Gebrauch in Deutschland. Ausgeprägter sprachlicher Konservatismus wäre also eine mögliche Begründung für das alpine Festhalten daran. Eine andere: Man lässt das l beim Schreiben weg, gerade weil es im Dialekt heute üblich ist. Denn wo die Schriftsprache verschiedene Formen anbietet, halten viele diejenige für «richtiger», die stärker von der Mundart abweicht.
      Wer sich in den historischen Sprachgebrauch vertiefen will, findet zu «Wissenschafter» bei Woerterbuchnetz.de Interessantes im DWB (Grimm) und im Schweizerischen Idiotikon.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...